Der für das heutige Christfest vorgeschlagene Predigttext steht im 1. Johannesbrief im 3. Kapitel:
Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! Darum kennt uns die Welt nicht; denn sie kennt ihn nicht. Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber: wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.
Und ein jeder, der solche Hoffnung auf ihn hat, der reinigt sich, wie auch jener rein ist. Wer Sünde tut, der tut auch Unrecht, und die Sünde ist das Unrecht. Und ihr wisst, dass er erschienen ist, damit er die Sünden wegnehme, und in ihm ist keine Sünde. Wer in ihm bleibt, der sündigt nicht; wer sündigt, der hat ihn nicht gesehen und nicht erkannt.
Soweit der Predigttext.
Jesus ist geboren worden. Gott hat ein Wunder vollbracht – er wurde Mensch. In diesem kleinen Lebewesen wurde er Mensch, im Säugling ganz am Rande des damaligen riesigen Römischen Reiches. Doch Gott hält sich nicht an die Maßstäbe von uns Menschen. Nicht, was der Mensch als Zentrum der Welt ansieht, damals war es Rom, ist Mittelpunkt der Welt. So sind auch heute nicht die Hauptstädte die Mittelpunkte der Welt, die Mächtigen, die Lautesten. An dem Ort, an dem Gott handelt, da ist der Mittelpunkt der Welt. Was damals aus menschlicher Sicht in einem Winkel der Welt geschah, wurde zum Ausgangs- und Mittelpunkt einer Weltbewegung. Durch Jesus Christus bewegte Gott selbst Menschen seit 2000 Jahren auf aller Welt. Die Menschen, die von Gott ergriffen wurden, sind Kinder Gottes – und sie leben überall auf dieser Welt. Woher wissen wir das? Einmal daher, dass die Bibel bzw. Teile der Bibel in 2935 Sprachen übersetzt wurde – sie ist das meist übersetzte Buch – aber nicht nur das: Sie musste übersetzt werden, weil in all diesen Völkern Gemeinden leben, Menschen, die nach einer Bibelübersetzung verlangten. In all diesen Völkern leben Menschen, die versuchen, Gott zu dienen, indem sie Menschen lieben, ihnen helfen durch ihr schweres Leben zu kommen in der Kraft unseres Gottes. Sie sind alle Teil der großen Liebesbewegung Gottes in die Welt hinein: in Afrika, in Asien, Australien, Amerika, Europa. Überall hat Gott seine Kinder, mit denen er die dunkle Welt durchdringt, sie heller macht. Zum anderen wissen wir, dass Kinder Gottes auf dieser Welt leben, weil wir selbst Gottes Kinder sind, wie Johannes sagt. Wir sind Gottes Kinder. Du, ich, ihr – wir alle sind Kinder Gottes, werden von Gott geliebt, durch Schmerzen hindurchgetragen, in Nöten gestärkt und dürfen ihn in Zukunft in unserer wahren Heimat sehen. Und dann, wenn wir ihn von Angesicht zu Angesicht sehen, dann wissen wir mit all unseren Sinnen: Wir sind Gottes Kinder. So schreibt es Johannes.
Wir sind Gottes Kinder?
Ein wichtiges Kennzeichen, an dem Kinder Gottes erkannt werden können, ist die Hoffnung. Hoffnung ist nicht in dem Sinn des Sprichwortes zu verstehen: Hoffen und Harren macht Menschen zum Narren. Das Wort, das wir mit Hoffnung übersetzen, bedeutet etwas anderes. Ich möchte es mit einem Beispiel verdeutlichen. Gestern schien die Sonne. Vorgestern schien die Sonne. Vor hundert Jahren schien die Sonne. Also weiß ich, dass auch Morgen die Sonne scheinen wird. Hoffnung im biblischen Sinn bedeutet: Wir wissen, dass es einmal so kommen wird – dass es einmal so kommen wird, wie wir es wissen. Hoffnung ist Wissen aus Gott, ist göttliches Wissen. Also wissen wir, dass wir Gottes Kinder sind, wir wissen, dass wir ihn von Angesicht zu Angesicht sehen werden. Wir wissen es, weil Gott selbst uns zu seinen Kindern gemacht hat. Woher wissen wir das? Durch Jesus Christus.
Das andere Kennzeichen für Kinder Gottes ist die Sündlosigkeit. Kinder Gottes tun kein Unrecht. Wenn man weiß, dass man Kind Gottes ist, könnte man vor lauter Freude hochmütig werden. Doch bei dieser Aussage bleibt jedem der Hochmut in den Gliedern stecken. Ich bin Kind Gottes – aber bin ich auch – kein Sünder? Wir müssen beschämt zugeben, dass wir nicht immer Gottes Willen tun. Und wenn wir es beschämt zugeben, verurteilen wir uns selbst. Wir müssten eigentlich auch an Weihnachten in Sack und Asche gehen, weil wir so große Sünder sind. Statt fröhlich unseren Glauben zu leben, brummeln wir vielfach herum und lassen den Kopf hängen. Aber: Fühlen wir uns wirklich als Sünder? Was tun wir denn Falsches? Sünde hat nichts mit Gefühl zu tun. Ob man sich als Sünder fühlt oder nicht: Wir leben nicht so, wie wir es sollten? Unser Grundfehler ist: Wir nehmen uns selbst in einem falschen Sinn zu wichtig. Und weil wir uns selbst so wichtig nehmen, rumort es in vielen zwischenmenschlichen Beziehungen, rumort es in unserem Hirn, wenn wir uns unbeachtet fühlen. Das große Thema von Weihnachten ist: Friede auf Erden – Gottes Friede auf Erden. Und dazu gehört, dass seine Kinder Sünden erkennen und vermeiden, dass sie Arroganz, Herrschsucht, Neid, Süchte wegwerfen, dass sie sich ganz dem hingeben, der Liebe und Vergebung verströmt, dem hingeben, der Grenzen zu uns Menschen überschreitet. Warum müssen wir uns im falschen Sinn so wichtig nehmen – wir sind doch schon das Höchste, das ein Mensch bekommen kann: Wir sind Kinder Gottes.
Doch wenn Kinder Gottes auf ihre Sünde starren, wie das Kaninchen auf die Schlange, dann begehen wir ebenfalls eine Sünde. Darum machen wir nun schleunigst das, was uns Johannes lehrt: Wer in Jesus Christus bleibt, sündigt nicht. Das heißt: Wer auf Jesus Christus schaut, seine Worte im Herzen bewegt, sein Bild im Denken und im ganzen Wesen vor Augen hält, wer aus ihm heraus lebt, kann in den Augen der Menschen, die Jesus nicht kennen, versagen, kann in deren Augen falsche Wege gehen oder verkehrte Worte sagen – aber auf all das kommt es nicht an. Worauf kommt es an? Auf Gottes Liebe, die wir in Jesus Christus sehen. Und als von Gott Geliebte dürfen wir uns sehr wichtig nehmen.
Und so beginnt der Text auch mit einem Paukenschlag, der alles andere verblassen lässt:
Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch!
Darauf allein müssen wir schauen: auf Gottes Liebe zu uns. All unsere Weihnachtslieder singen von dieser großen Liebe Gottes, die Gott uns erwiesen hat. Sie singen von der großen Bewegung Gottes, dem, was Gott uns Menschen alles zugedacht hat. Es ist nicht nur ein Kind geboren – sondern die Geburt hat für uns und alle Menschen immense, sehr, sehr große Folgen: Gott wird Mensch, damit wir aus der Todesnacht gerettet werden, er tilgt unsere Sünden, er tröstet uns… Doch, was haben wir davon? Die Rettung, das Heil, der Seelen Herrlichkeit, Erlösung. Wir, dem Tod verfallene Menschen haben Leben, weil Gott uns liebt. Darum kann unser Leben von dem einen bestimmt werden: Von der Freude am Leben, das Gott uns schenkt. Es gibt christliche Gruppen, die bedrückt durch die Welt ziehen. Doch das Neue Testament ist bestimmt von dem Jubel: Durch das Kind in der Krippe hat Gott uns Menschen Leben geschenkt, ewiges Leben. Nicht die Dunkelheit des Todes, nicht die Ängste bestimmen Gottes Kinder, nicht die Sünde, sondern das Leben in Fülle.
Wer den Erlöser kennt, wer Kind des Erlösers ist, wovor sollte der sich noch fürchten? Das macht auch den Jubel dieser Lieder aus. Die Singenden – also auch wir – kennen Unfrieden, sie kennen Furcht, sie kennen die Todesnacht, sie kennen die Macht der Sünde, das große Leiden – aber all das steht unter einem wunderbaren Licht, in einem wunderbaren Licht: Fürchte dich nicht. Fürchte dich nicht, du bist Gottes geliebtes Kind – und wenn du ihn einmal von Angesicht zu Angesicht sehen wirst, dann wird auch der letzte Rest Zweifel aus deinem Herzen hinausgeliebt worden sein.
Doch diese Lieder fragen im Wesentlichen nicht danach: Was habe ich von Gott, sondern: Was kann ich tun, dass Gott, dass das Kind in der Krippe in mir wohnt? Dass ich es in mir bewahren kann? Wie kann ich so leben, dass ich diesem Gottes-Kind würdig bin? Diese Sorge ist es, die die Lieder antreibt, dass wir die Liebe Gottes gar nicht recht erfassen können – dass sie zu groß für uns ist – dass wir sie darum auch gar nicht in ihrer wunderbaren Herrlichkeit wahrnehmen können. Das treibt auch Johannes um: Die Liebe Gottes zu uns ist so groß, dass wir sie nicht erfassen können und uns darum von Gott durch üble Taten abwenden könnten. Wir sind Menschen. Wir können uns nicht nur vor der Sonne verschließen, vor den wärmenden Strahlen, dem Leuchten, indem wir in einer abgedunkelten Bude hocken. Genauso können wir uns der Liebe Gottes verschließen, indem wir uns einkapseln in unserer Eigenart, unserem Murren, unseren seelischen Verhärtungen, unseren Stolz, in unseren Ängsten, unserer Schwäche, in Selbstzweifel.
Wie soll ich meine Seele halten, dass sie an Gottes Liebe rührt? Johannes sagt: Mensch, werde Dir bewusst, dass du Gottes geliebtes Kind bist. Werde es dir bewusst in deinen vielen Ängsten und sage dir in der Angst-Nacht: Ich bin Gottes Kind, was muss ich fürchten? Sage dir in der Schuld-Nacht, in der du Menschen in deiner Sünde Schmerz bereitest: Ich bin Gottes Kind, was muss ich fürchten? Sage dir in der Nacht, die andere Menschen in ihrer Sünde dir bereiten: Ich bin Gottes Kind, was muss ich mich vor ihnen fürchten? Sage dir sogar in der Nacht des irdischen Lebens: Ich bin Gottes Kind, was soll ich mich fürchten vor dem Tod? Im Tod wirst du ihn sehen – Kind Gottes, was fürchtest du dich noch? Gott möchte die Angst mit dem Kind Jesus Christus aus unsere Herzen hinauslieben. Und je mehr alles Ungöttliche hinausgeliebt wurde, desto mehr können wir uns Jesus Christus, dem Licht der Welt, hingeben, desto mehr können wir als Kinder Gottes leben.