Schlange und Kreuz (4. Mose 21)

Vorläufig

Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht im 4. Buch Mose im 21. Kapitel:

Da brach das Volk Israel auf von dem Berge Hor in Richtung auf das Schilfmeer, um das Land der Edomiter zu umgehen. Und das Volk wurde verdrossen auf dem Wege und redete wider Gott und wider Mose: Warum habt ihr uns aus Ägypten geführt, dass wir sterben in der Wüste? Denn es ist kein Brot noch Wasser hier, und uns ekelt vor dieser mageren Speise.

Da sandte der HERR feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, dass viele aus Israel starben. Da kamen sie zu Mose und sprachen: Wir haben gesündigt, dass wir wider den HERRN und wider dich geredet haben. Bitte den HERRN, dass er die Schlangen von uns nehme. Und Mose bat für das Volk. Da sprach der HERR zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben. Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.

Soweit der Predigttext.

Das Volk Israel floh aus Ägypten. Wir können es uns gut vorstellen: Am Beginn der Zeit der Auswanderung waren sie alle froh. Sie jubelten und freuten sich: endlich frei!

Doch dann begann der harte Alltag der Wanderung. Nirgendwo heimisch sein. Immer wieder alles einpacken – und weiter geht es. Die wunderbaren Träume, die sehnsüchtigen Erwartungen beginnen der Härte des Alltags zu weichen.

War alles nur ein schöner Traum? Warum muss jetzt alles so hart und mühsam sein? Hat Mose uns alles nur versprochen und mit seinen Versprechungen das Hirn vernebelt, uns verführt? Wären wir doch bloß in Ägypten geblieben, dem Land der Gefangenschaft. Dort waren wir zwar Sklaven, wir waren der Willkür der Gewalttäter ausgesetzt – aber wir hatten unser Essen, unser Dach über den Kopf. So schlecht ist es uns eigentlich doch gar nicht gegangen.

Und das mit Gott? Was soll das auf sich haben? Gott? Hat ihn jemals einer gesehen? Wir haben von Gott nur durch Moses gehört. Manchmal ist es uns auch wunderbar ergangen – aber das war wahrscheinlich alles Zufall. Wenn es einen Gott gibt, dann soll er sich uns zeigen, dann soll er uns das Leben leichter machen, er soll uns endlich genügend zu Essen geben! Und das bisschen, das wir zu essen haben – in Ägypten hatten wir mehr und besseres Essen! Wir wollen zurück in die gottlose Gefangenschaft!

Und während sie so mit Mose und Gott haderten, erlebten sie eine üble Sache: Sie kamen in ein Gebiet voller Schlangen. Und sie überlegten: Warum kommen wir in ein Gebiet voller Schlangen, voller Gefahren, voller Gift und Heimtücke? Ja, das muss es sein!, so ihre Überlegungen: Wir haben gegen Gott und Mose rebelliert. Die Schlangen sind sicher eine Strafe Gottes. Das Böse, das wir erfahren – ja, das kommt von Gott!

Sie liefen zu Mose und sagten: Mose, bitte Gott, dass er die Schlangen von uns wegnimmt. In der Zeit großer Not, in der Zeit der Hinterlist, der toxischen Zeit, erinnern sie sich wieder an Gott. Und sie wenden sich Gott zu.

Aber Gott nimmt ihnen nicht einfach das Böse, er fordert Vertrauen: Wer die auf dem Stab angebrachte Schlange ansieht, der wird gerettet. So mancher dürfte gedacht haben: Was für ein Hokuspokus! Und: Er schaute nicht! Er starb qualvoll. Andere vertrauten, schauten, lebten. Um das Böse zu bekämpfen muss der Mensch etwas tun! Sie alle dürften aber gedacht haben: Warum gerade eine Schlange? Das, was uns böse Zeiten bereitet, soll uns zur Rettung dienen?

*

Die frühe Christenheit hat diese alte Überlieferung wie wir am Johannesevangelium (Kap. 3) sehen, übernommen und auf Jesus Christus bezogen. Und so heißt es:

Jesus Christus, der am Kreuz Erhöhte – auf diesen müssen wir schauen und wir werden gerettet werden.

Und auch das halten viele Menschen bis heute für Hokuspokus. Wer auf Christus schaut, so bekennt es die frühe Gemeinde, der wird nicht den ewigen Tod erleiden, der wird mit Gott in Ewigkeit leben. Das, was uns Menschen belastet, das, was uns böse Zeiten beschert, das soll uns Rettung bringen? Die Sünden von uns Menschen, sichtbar darin, dass wir Jesus Christus kreuzigten, der Tod – sichtbar im gestorbenen Jesus – das soll uns retten?

Das Kreuz, diese ewige Erinnerung an die Sünde und den Tod, das verkündigt uns Vergebung und Leben? Natürlich ist Jesus Christus keine Schlange, aber am Gekreuzigten sehen wir, zu welchen bösen, giftigen, verräterischen und hinterhältigen Taten wir Menschen fähig sind. Wir sehen in den Schmerzen Jesu, in seinem Sterben, an seinem Tod unsere Ängste, unsere großen Ängste.

Auf das schauen, was uns ängstet, kennen wir auch aus dem Alltag: Kinder spielen nicht nur Verstecken und Fangen, weil es ein schönes Spiel ist. Früher war es Training, um zu überleben: In Gefahr konnte das Gelernte angewendet werden, sie konnten rennen, kannten die Verstecke, wenn Feinde das Dorf überfielen. Unsere heutigen Brandschutzübungen – wir schauen dem Bösen, dem Grauen ins Gesicht, um es zu überwinden. In Japan ist das ganze Volk dabei, angesichts von Erdbeben überleben zu üben. Vielleicht sind auch Horrorfilme hier einzuordnen: Wir stellen uns unseren Ängsten, archaischen, seelischen Ängsten, wenn wir solche Filme schauen. Ich selbst freilich, schaue mir keine an. Ich brauche nicht noch mehr Aufregungen. Aber ich bin kein Maßstab – und so gibt es viele Filme des Grauens, weil die Menschen wohl sowas benötigen, um ihre Ängste gespiegelt zu bekommen.

Wie die Israeliten gezwungen werden, auf das zu blicken, was sie bedrängt, um gerettet zu werden; so werden wir gerettet, wenn wir auf das Leiden von Jesus Christus blicken. Wir blicken auf das, was uns ängstet, verängstigt, Angst macht, bedrängt. Das Kreuz – es ist ursprünglich kein Handschmeichler, kein nettes kleines Glitzerding an einer Kette. In der frühen Christenheit wuchs es zu einem Symbol heran, weil es ein Folter-Instrument ist. In ihm spürten die Glaubenden die Angst vor Bloßstellung, vor qualvollem Sterben, vor Schmerzen, klagenden Fragen, vor schändlichem Tod, vor Verrat, davor, den Mächtigen ausgeliefert zu sein. Und gleichzeitig: Am Kreuz geschah unsere Rettung. Auch als Handschmeichler und Glitzerkreuz: Es erinnert uns an das Sterben und dem damit verbundenen Leben, das den Tod überwindet; es erinnert uns an das Leiden, das durch Auferstehungsjubel übertönt wird. Es erinnert uns an die Todeseinsamkeit, die durch die Liebe überwunden wird. Es erinnert uns an die Tränen, die getrocknet werden.  

Und so gehört diese Schlangen-Geschichte durch die Jahrtausende hindurch zu den großen Mutmach-Geschichten. Sie gehört zu den Geschichten, die die Liebe Gottes zu seinen bedrängten Menschen zeigt. Eine Liebe, die in dem Wunder, das am Kreuz geschah, in viel stärkerer und einmaliger Weise zum Ausdruck kam, von Gott selbst gelebt wurde.

Wenn wir die Bibel lesen, dann begegnet uns eine Mutmach-Geschichte neben der anderen. Worte bestimmen unser Gefühl – und so finden wir wunderbare Worte: Freiheit für das Volk Israel, Begleitung durch Gott, Gott sendet Propheten, die Wunderbares und Helfendes verkünden. Uns begegnen singende Menschen, die helfen zu beten. Jesus vollbringt Wunder, er ruft den Seinen zu: Fürchtet euch nicht! Er, der gekreuzigt wurde und auferstanden ist, er nimmt uns an die Hand, er beruhigt unsere aufgescheuchten Seelen, erhellt unseren Lebensweg, er spricht von Gottes guter Herrschaft, die uns Menschen erwarten wird.

Es sind alles wunderbare Worte – aber sind das nicht leere Worte? Für uns Menschen, die wir gebissen wurden von Sünde und Tod, von Schmerz und Sorgen, von Lebensrätseln und Not sind sie die Rettung. Wer auf Gott in Jesus Christus schaut, dem sind das nicht leere Worte, nicht nur schöne Geschichtchen, denn Gott bürgt in seinem Geist für sie. Der Scheck ist gedeckt. Gott, der Schöpfer der Welt, der Erhalter und der Vollender der Welt, er hat Jesus Christus am Kreuz aufgerichtet, damit wir von unseren seelischen Schlangenbissen gerettet werden; damit wir von den giftigen Bissen gerettet werden, die uns das Leben und die Angst vor Schmerz und Tod zufügt. Damit wir nicht verbittern, sondern frei und offen mit Gott durch unser uns geschenktes Leben gehen.

Menschen gehen als von Jesus Christus Befreite:
ihre Angst verwandelt er in Freude,
ihre Schwäche verwandelt er in Kraft,
ihre Lähmung in Bewegung,
ihre Unsicherheit in einen Weg,
ihre Einsamkeit in Gemeinschaft,
ihre Schuld in Frieden, in Schalom,
ihre Sorgen in Vertrauen,
ihr Sterben in Gottes Ewigkeit,
in ihre dunkle Zukunft strahlt sein Licht.
Der Geist Gottes wandelt ihre Sprachlosigkeit in wunderbare Worte,
die Herzen, Sinne, Vernunft und Verstand ergreifen.
Menschen, die auf Jesus Christus schauen,
gehen als von Jesus Christus Befreite.

Auch ich?

Wenn ich auf ihn schaue,
dann auch ich.