Hebräer 13: Das Kreuz – die große Liebe Gottes

Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht im Brief an die Hebräer im 13. Kapitel:

Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor.

So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen.

Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

So lasst uns nun durch ihn Gott allezeit das Lobopfer darbringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen.

Gutes zu tun und mit andern zu teilen vergesst nicht; denn solche Opfer gefallen Gott.

Soweit der Predigttext.

Ich hatte einmal eine Beerdigung – sie fand nicht in Nauheim statt. Als Kind lebte die Verstorbene auf einem großen Bauernhof. Mutter und Vater ließen sich scheiden. Die Mutter zog mit den Kindern in die Stadt. Nach wenigen Jahren starb sie und die Kinder kamen zurück zum Vater, der inzwischen wieder geheiratet hatte. Dort mussten die Kinder viel Schlimmes erleiden. So Schlimmes, dass sie floh. Bei Verwandten hatte sie Unterschlupf gefunden. Ich stelle mir vor, dass sie als kleines Mädchen in der schlimmen Zeit immer gebetet hat: Lieber Gott, mach, dass die Tante und Papa nicht so böse zu mir sind – und Gott hat geschwiegen. Gott hat nicht eingegriffen, Gott hat ihr Leben nicht geändert. Gott, dem sie sich anvertraut hat, er hat sie enttäuscht. Und dann ging sie weg von ihm, sie wollte von ihm nichts mehr wissen.

Und ich denke, Gott versteht das. Er, der die Liebe ist, sollte nicht verstehen, wenn sich Menschen von ihm abwenden, weil sie von ihm enttäuscht sind? Keiner war da, der dem Mädchen geholfen hat zu verstehen. Gott lässt uns Menschen immer wieder Situationen erleben, erleiden, in denen wir fragen: Warum – und er hat keine Erklärung mitgegeben. Jeder muss selbst herausfinden, welche Bedeutung das jeweilige Ereignis für das eigene Leben hat. Muss man es herausfinden? Nein. Man muss es nicht herausfinden wollen, denn „Glauben“ heißt vertrauen – und vertrauen kann sich gerade da zeigen, wo man nicht mehr wissen will, nicht mühsam nachforscht, sondern sich einfach in Gottes Hände legt, sich ihm anvertraut – wie sich ein Schäfchen einem guten Hirten anvertraut.

Warum ist das Wasser nass? Warum regnen Wolken? Warum ist das Gesangbuch rot? Es gibt Fragen über Fragen. Es gibt Fragen, die einfach nicht beantwortet werden können. Und es gibt Fragen – denen es lohnt, ihnen nachzugehen.

So auch die Frage: Warum musste Jesus am Kreuz für uns sterben? Warum dieses unsägliche Leiden des Gottessohnes, von dem der Predigttext spricht? Warum mussten seine Jünger, die ihre ganze Hoffnung auf diesen Jesus Christus gesetzt hatten, so maßlos enttäuscht werden?   

Einem Hirten lief sein Schäfchen fort. Es verhedderte sich im Brombeergestrüpp – es kam nicht mehr los. Es klagte jämmerlich. Der Hirte kam. Er gab sich alle Mühe das Lämmchen zu befreien – und dabei zerstach er sich die Hände, verkratzte er sich die Haut. Warum macht er das? Es ist seine Fürsorge. Wir Menschen haben uns verheddert – im Gestrüpp der Sünde und des Todes, wir haben uns verheddert in Resignation, in unserer seelischen Blindheit, in Eigennutz. Jesus wollte uns daraus befreien. Sein ganzes Leben setzte er für unsere Befreiung ein. Zuletzt wurde er hingerichtet – und auch dadurch setzte er sich dafür ein, dass wir aus diesem schlimmen Gestrüpp befreit werden. Warum? Aus Liebe, aus Fürsorge, weil wir ihm wichtig sind. Aber warum ging er diesen Leidensweg und keinen anderen? Wenn wir uns durch diese und viele andere Fragen durchgequält haben, dann sehen wir: Wir können sie nicht beantworten – eines allein ist uns wichtig geworden: Gottes Liebe wird an Jesu Leiden und Sterben sichtbar. Das Schäfchen mag grübeln, warum hat der Hirte sich meinetwegen die Hand verletzen lassen, warum hat er nicht andere Möglichkeiten versucht, mich zu befreien – Fragen über Fragen für unser Schäfchen. Aber eine Gewissheit bleibt: Er hat mich befreit, er hat selbst Verletzungen nicht gescheut, um mich zu befreien. Das muss seine Liebe zu mir sein. Und das darf auch unsere Gewissheit sein: Jesus hat selbst die Verspottung, er hat die Sterbensqualen und Foltern, er hat den Tod nicht gescheut, um uns zu befreien. Warum ging er diesen Weg? Aus Liebe zu uns. Allein aus Liebe. Und was haben wir davon? Erst an Jesu Sterben erkennen wir die Liebe Gottes. Und darin liegt auch die Bedeutung des Kreuzes: Wenn wir Christen das Kreuz ansehen, dann sehen wir Jesu große Liebe. Am Kreuz sehen wir den Beweis für Gottes große Liebe. Gott macht nicht nur große Worte wie: „Ich liebe dich!“, „Ich will dich befreien!“ Nein: Am Kreuz wird die Liebe Gottes in seinem Tun sichtbar.

Im Predigttext steht auch, dass wir Christen eine künftige Stadt suchen. Ich möchte im Bild vom Hirten bleiben, und möchte von der Weide und nicht von der Stadt sprechen. Der Hirte Jesus hat etwas Weiteres für uns getan. Er führt die Schafe auf eine Weide, die sie noch nicht kennen, eine Weide, in der er allein das Sagen hat. Das Böse wird nicht mehr sein, die Tränen werden abgewischt, die Schmerzen werden nicht mehr sein. Es wird nicht mehr Hunger herrschen, nach Liebe, Geborgenheit und Gerechtigkeit – er selbst der Hirte ist auf dieser Weide und wird die Seinen auf diese Wiese führen.

Doch bis das soweit ist, herrscht alles Schlimme. Der Hirte selbst ist angefallen worden, ist umgebracht worden. Was machen die Schafe? Sie gehen hinaus vor die Tore der Stadt, in die Unsicherheit und Gefahr, um bei ihrem Hirten zu sein. Auch sie werden überfallen. Schmerzen jagen sie bis zur Besinnungslosigkeit. Gewalttaten schrecken sie und sie wissen nicht was und wie ihnen geschieht. Die Schafe wagen es, hinauszugehen, dahin zu gehen, wo ihr Hirte ermordet wurde. Es ist ein ganz bewusster Akt der Liebe zu dem Hirten: Wir verkriechen uns nicht. Wir gehen hinaus. Es ist ein Protest gegen alle Gewalttätigen, gegen alle Lügner, alle Böswilligen: Die Schafe gehen hinaus, trotz deren Drohungen, weil sie mit ihrem Hirten die Schmach tragen wollen. Damit sagen und zeigen sie: „Ihr könnt uns nicht besiegen, auch wenn ihr uns tötet. Ihr könnt uns nicht klein kriegen, auch wenn ihr uns zertretet!“ Die Schafe – sie gehen hinter dem Hirten her, um seine Schmach zu tragen. Versuchungen wollen uns klein kriegen, Süchte, Schmerzen, Sterben, Tod, Alpträume, Ängste, Krankheiten, böse Nachrichten – all das will uns klein kriegen, will uns von dem Hirten entfernen. „Seht,“ sagt das Böse, „ich habe euren Hirten ermordet, ich habe ihn mit Schmerzen gequält, ich habe ihn verspottet, ich habe ihm den Garaus gemacht, seht! Und nun kuscht euch, fürchtet mich!“ Doch die Schafe sagen: „Wir gehen hinaus. All das mag uns quälen, all das mag uns anfallen – doch wir bleiben bei ihm, bei dem guten Hirten. Wir tragen seine Schmach!“

Das sind die Schafe des guten Hirten: Sie bleiben bei ihm, was auch immer in ihrem Leben geschieht, wie auch immer ihr Leben aussieht. Was auch immer sie getan haben – der gute Hirte nimmt sie an. Er stößt sie nicht weg. Mit seinem Tod hat er sie von allem befreit, was sie quält. Nicht dass Sünde, Schmerzen, Angst sie nicht mehr träfen. Natürlich, wer hinausgeht vor die Stadt, wer die Schmach des Hirten trägt, der wird weiterhin seine riesigen Pakete zu tragen haben. Aber er weiß, warum er sie geduldig trägt: Weil das Böse sie vom Hirten abbringen will. Doch was auch immer wir tun: Wenn wir der Stimme des Hirten hören, wenn wir ihm folgen bis in die Schmach hinein, dann wird er sich auch zu uns bekennen. Das hat er uns versprochen.

Und darum geht der Predigttext weiter: So lasst uns nun durch ihn Gott allezeit das Lobopfer darbringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen.  Die Schafe besitzen die Frechheit – zumindest in den Augen des Bösen, in den Augen derer, die die Schafe vom guten Hirten wegbringen wollen, trotz allem Gott zu loben, seinen Namen zu bekennen. Und noch was tun sie: sie tun Gutes, sie teilen. Sie haben wirklich einen anderen Herrn – und ihr ganzes Leben ist von diesem Herrn geprägt. Nicht die Angst ist ihr Herr, nicht der Schmerz, nicht der Tod, nicht die Sucht, nicht die Versuchung: Ihr Herr ist allein der gute Hirte, dessen Stimme sie hören werden. Und dieser gute Hirte ist für sie gestorben – er ist gestorben, indem er sie befreite und das aus Liebe. Und Gott hat den guten Hirten auferweckt, und er wird seine Schafe auf seine Weide bringen, auf der sie dann von allem, was sie bedrängt, befreit sind. Das kommt aber erst noch. Bis dahin stehen sie draußen vor der Stadt, ausgeliefert allem Übel, allem Bösen. Ängste quälen sie – aber noch etwas anderes wird in den Ängsten, Kämpfen und Verzweiflungen laut: Das Lob Gottes.

Ich möchte noch einmal an das Mädchen erinnern, auf das ich eingangs zu sprechen kam. Wenn Gott nicht zu uns spricht, wenn wir seine Stimme im Leben nicht hören können, dann spricht er zu uns durch solche Bibeltexte. Er zeigt uns, dass er uns liebt, auch wenn wir ihn nicht verstehen. Er zeigt uns durch den Tod Jesu, dass er uns bis in unsere Sünden und unserem Sterben hinein nachgeht, uns sucht und ruft. Vor allem: Uns liebt – auch dann, wenn wir von ihm enttäuscht sind.

Auf der Weide, auf die er uns führen wird, da werden wir still – wenn wir jetzt in unserem Leben oder durch unser Leben noch so sehr aufgewühlt sind. Er nimmt uns in den Arm – wie das verirrte, einsame, verletzte Schäfchen. Manchmal können wir es schon hier und jetzt ahnen, spüren.