Hebräer 13: Orientierung in der Freiheit

Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht im Hebräerbrief im 13. Kapitel:

Der Gott des Friedens aber, der den großen Hirten der Schafe, unsern Herrn Jesus, von den Toten heraufgeführt hat durch das Blut des ewigen Bundes, der mache euch tüchtig in allem Guten, zu tun seinen Willen, und schaffe in uns, was ihm gefällt, durch Jesus Christus, welchem sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.

Soweit der Predigttext.

Im Internet gibt es ein Video, das zeigt, wie eine Mutter auf Jamaika ihre Tochter ununterbrochen mit einem Gürtel schlägt und dabei schimpft. Man gerät in Rage, wird zornig über diese Mutter. Dann erfährt man, dass sie ihre Tochter so schlägt, weil sie sich auf Facebook leicht bekleidet gezeigt hat. Nun ja, würden wir denken, kennen wir alles schon. Aber diese Mutter hat Angst um ihre Tochter. Auf Jamaika grassieren Vergewaltigungen, Teenager werden schwanger, die Mädchen versinken im gesellschaftlichen Sumpf – und davor wollte die Mutter das Mädchen schützen. Und sie filmte es – warum? Um es auf Facebook zu stellen, damit auch andere Mädchen das sehen und das nicht auch machen, damit sie ihr Leben nicht leichtsinnig aufs Spiel setzen. In Jamaica reagiert man differenzierter auf dieses Video als man es hier in Deutschland machen würde, weil man um die schlimmen Zustände weiß – und ebenso die verzweifelten Versuche der Eltern kennt, ihren Kindern ein möglichst gutes Leben zu ermöglichen. Natürlich ist es nicht richtig, die Kinder zu schlagen – vielleicht wird die Tochter ihr irgendwann dankbar sein, vielleicht aber auch gerade das Gegenteil tun, von zu Hause abhauen und damit eben das Leben führen, vor dem die Mutter sie beschützen wollte – weil sie geschlagen und gedemütigt worden ist.

Was ist richtig? Was ist falsch? Ein Arzt muss Schmerzen zufügen – um Menschen helfen zu können. Denken wir auch an den berühmten Pfadfinder, der das alte Mütterchen über die Straße zerrt, weil er meint, sie will rüber und sie würde sich so anstellen, weil sie vor dem Straßenverkehr Angst hat. Dabei wollte sie gar nicht über die Straße – und weiß nun nicht, wie sie wieder zurückkommt. War das gut? War das böse?

Wir können sicher aus unserem Leben viele solcher Erfahrungen mitteilen: Wir haben etwas gut gemeint – Schlechtes ist dabei heraus gekommen. Oder wir haben etwas schlecht gemacht – und dann war es doch irgendwie nicht so, sondern erwies sich als richtig. Manchmal wissen wir auch gar nicht, ob das, was wir gemacht haben nun schlecht oder gut war – es war irgendwie. Unser Leben ist äußerst kompliziert, böse-gut, falsch-richtig, schlecht…

Wer gelernt hat, auf das, was in der Bibel steht, zu lauschen, der hört aus diesem Predigttext schon etwas heraus, was Christen von Anfang an wichtig war, was dann aber doch im Laufe der Kirchengeschichte oft verloren gegangen ist. Wir hören in ihm nichts von: du musst, du sollst, es ist dir geboten oder befohlen. Wir hören da:

Gott mache euch tüchtig in allem Guten, zu tun seinen Willen, und schaffe in uns, was ihm gefällt…

Es wird hier nicht gesagt, was gut ist, es wird nicht gesagt: du sollst – es wird gesagt: Gott schaffe in uns… Was bedeutet das? Das bedeutet, dass Christen eine große Freiheit haben, eine Freiheit, die im Laufe der Jahrtausende vielfach vergessen wurde. Christen haben von Haus aus keine Gesetzes-Religion. Von der damaligen jüdischen Gesetzlichkeit setzten sich die frühen Christen ab. Christen haben den Geist Gottes – und dieser Geist Gottes zeigt ihnen, was gut ist, was schlecht ist – und zwar in der jeweiligen Situation. Und das dann auch zu tun, nennt man: Verantwortung tragen. Christen haben von Gott Freiheit bekommen zu entscheiden, wie sie sich verhalten sollen – und diese Freiheit beinhaltet: Trage Verantwortung! Und das hat die frühe Christenheit glücklich gemacht. Gott hat uns befreit! Wir dürfen den Verstand benutzen! Er traut uns was zu!

Das ist nicht allein gut, sondern bedeutet auch eine große Last für Menschen. Die Last war damals für manche Menschen so groß, dass sie sich wieder der Gesetzlichkeit zuwenden wollten. Manche mögen es, wenn alles klar geregelt wird, wenn ihnen gesagt wird, was gut, was schlecht ist. Ich denke, dass das auch die große Trumpfkarte des Islam ist: Von der Freiheit überforderte Menschen brauchen klare Ansagen, was sie zu tun und zu lassen haben – und solche klaren Ansagen bietet der Islam. Alles ist bis ins Detail geregelt. Es gibt auch moderne Religionen, die unter dem Begriff Esoterik zusammengefasst werden: Auch hier gibt es Strömungen, die alles genau regeln – und bei manchen Menschen Anklang finden. Doch Christen ist etwas anderes wichtig: Sich im Glauben an Jesus Christus binden – und dann frei handeln, verantwortlich handeln. Unser Hebräerbrief spricht von Jesus Christus als dem großen Hirten der Seelen – bei ihm bleiben, ihm folgen – das macht froh und glücklich. Glaube, Gottesbeziehung, Gottesliebe, Gebet, Bibel lesen, christliche Gemeinschaft – das sind Voraussetzungen freien und verantwortlichen Handelns. Gott schafft es auf diese Weise selbst, dass wir seinen Willen tun.

Wir Christen kennen vom Neuen Testament her keine Gesetzlichkeit – aber dennoch bekommen wir Maßstäbe an die Hand. In der Bergpredigt hören wir zum Beispiel, dass wir einander nicht beschimpfen sollen, wir hören, dass wir den Nächsten lieben sollen, dass wir nicht schnorren – sondern geben sollen. Wir bekommen unzählige Maßstäbe an die Hand, an denen wir uns orientieren können. Sie schärfen unser Gewissen, schärfen es im Sinne Gottes. Wir bekommen ein Gespür dafür, was richtiges Verhalten im Sinne Gottes ist, was nicht. Darum ist es so wichtig, das Neue Testament zu lesen. Der Apostel Paulus gibt Maßstäbe an die Hand, der Hebräerbrief – überall finden wir Orientierungshilfen – aber das Wesentliche ist: Bei dem Hirten der Seelen zu bleiben. Alles andere ist für Christen zweitrangig.

 Von Jesus Christus hören wir den Satz: Was du willst, dass dir die anderen Leute tun, das tue ihnen. Dieser Satz, die Goldene Regel, wurde vielfach aufgenommen, wurde von großen Philosophen weiter geführt – auch an diesem Satz wird eine Sache sichtbar: Es liegt kein detailliertes Verhaltensgebot vor. Andere Religionen benötigen Gesetze für jede alltägliche Handlung, damit die Gläubigen wissen, wie sie sich richtig zu verhalten haben, vom Toilettengang bis hin zum Gebet, vom sexuellen Verhalten bis hin zum Lesen der Heiligen Schriften. Alles ist bis ins Detail geregelt. Aber nicht so bei uns Christen. Der bedeutende Kirchenvater Augustinus lehrte: Liebe und dann darfst du alles. Das ist wie auch beim Herrn Jesus und dem Apostel Paulus: Der Satz sagt im Grunde nichts Genaues. Er gibt Freiheit – mit der Freiheit verbunden ist Verantwortung. Und wie kann man lieben? Weil wir von Gott geliebt werden, können wir andere lieben. Das heißt auch hier: Die Voraussetzung richtigen Verhaltens ist die Gottesliebe.

Gott mache euch tüchtig in allem Guten, zu tun seinen Willen, und schaffe in uns, was ihm gefällt.

heißt es im Predigttext. Das haben viele Menschen in der Kirchengeschichte erkannt – aber wogegen auch schon der Apostel Paulus angeht – sie haben die Schlussfolgerung daraus gezogen, dass man dann eben auch wirklich alles machen kann. Wenn dem so ist, dann gehe ich eben zur Prostituierten, wenn das so ist, dann schaue ich nach Karriere und Reichtum aus, wenn das so ist, dann eigne ich mir das Gut anderer an, wenn das so ist, dann kann ich ja unehrlich sein – Hauptsache es merkt keiner. Wenn das so ist… – Ihr könnt alle diese Worte weiter führen, weil Ihr sie von Euch in bestimmten Situationen selber kennt.

Nein, so ist das eben bei uns Christen nicht! Wir gehören zu diesem Hirten der Seelen und wenn wir unsere eigenen Wege gehen, kommen wir in Lebenswüsten und wissen nicht mehr ein noch aus.

Und so gibt auch der Hebräerbrief selbst Orientierungspunkte, an denen sich Christen orientieren, wenn sie Jesus Christus, dem Hirten der Seelen folgen:

Bleibt fest in der brüderlichen Liebe. Gastfrei zu sein vergesst nicht. Denkt an die Gefangenen, als wärt ihr Mitgefangene, und an die Misshandelten. Die Ehe soll in Ehren gehalten werden. Seid nicht geldgierig, und lasst euch genügen an dem, was da ist. Lasst euch nicht durch mancherlei und fremde Lehren umtreiben, denn es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade. Betet für uns. Unser Trost ist, dass wir ein gutes Gewissen haben, und wir wollen in allen Dingen ein ordentliches Leben führen.

Was heißt das nun? Wenn wir unserem Hirten der Seele folgen, dann können wir uns auch selber konkretere, genauere Maßstäbe geben, an denen wir unser Leben orientieren wollen. Eine Pfadfindergruppe hat sich zum Beispiel folgende Regeln gegeben:

•          alle Menschen als Geschöpfe Gottes zu sehen und zu lieben

•          gemäß dem Auftrag Gottes die Schöpfung zu bewahren

•          auch unter schwierigen Umständen sich fröhlich und mit gutem Mut einzubringen

•          Verantwortung zu übernehmen und sich einzuordnen

•          einfach zu leben, zu teilen und zu geben

•          zu helfen und im Notfall Leben zu retten

•          mit bestem Einsatz zu beten und zu arbeiten.

Oder wir können uns an die alten christlichen Tugenden orientieren, die bis in die Neuzeit gelten und die gegen Untugenden gerichtet sind: Demut – gegen Hochmut, Mildtätigkeit gegen Habgier, Keuschheit gegen Ausleben der Lust, Geduld gegen Zorn, Maßhalten gegen Fresssucht, Wohlwollen gegen Neid,  Fleiß gegen Faulheit. Und dann kommen hinzu: Glaube, Hoffnung, Liebe.

So haben wir Orientierungspunkte und Maßstäbe für unser eigenes Leben, für das wir verantwortlich sind. Christen sind frei, Verantwortung zu tragen, weil sie ihrem großen Hirten der Seelen folgen. Manchmal ist das so, dass andere das nicht nachvollziehen können, was wir getan oder gesagt haben. Wenn es in Verantwortung vor Gott geschah, aus der Gottesliebe heraus, dann ist es egal, was andere denken. Andere wissen sowieso alles immer Besser – lassen wir sie in diesem Wissen ihr Leben eben besser leben. Wir Christen wissen, dass wir nicht besser wissen, wie andere ihr Leben zu leben haben, weil jeder sein eigenes Leben mit all seinen Schwierigkeiten, seiner Schwere und Fragen in Verantwortung vor Gott leben muss. Somit haben wir auch nicht das Recht, uns – wie es so schön heißt – über andere das Maul zu zerreißen.

Wir merken selbst, dass wir unseren Maßstäben oft nicht gerecht werden, dass andere ihren Maßstäben nicht gerecht werden. Darum lehrt uns Jesus: Vergebt dem anderen. Und wir dürfen wissen, dass auch unsere Fehler und Versagen uns nicht von Gottes Liebe trennen. Wer in Verantwortung und Freiheit lebt, der macht Fehler, macht Dinge, von denen er hinterher sagt: Das war nichts, das war falsch, diese Entscheidung hat Menschen geschadet. Und wenn es uns so ergeht, dann wissen wir, dass wir zum Gott des Friedens, zum großen Hirten der Seelen laufen können und uns mit all unserem schlechten Gewissen, unseren Selbstpeinigungen bei ihm ausheulen – und Ruhe finden können. Frieden finden können, weil der große Hirte der Seelen, Jesus Christus, uns in seinen Arm nimmt und Vergebung schenkt – und Frieden.

Und so:

Mache der Gott des Friedens aber, der den großen Hirten der Schafe, unsern Herrn Jesus, von den Toten heraufgeführt hat durch das Blut des ewigen Bundes, euch tüchtig in allem Guten, zu tun seinen Willen, und schaffe in uns, was ihm gefällt, durch Jesus Christus, welchem sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.