Lukas 23,33-49: Gott hassen

Der für den heutigen Karfreitag vorgeschlagene Predigttext steht im Evangelium des Lukas im 23. Kapitel, es sind die Verse 33-49:

Und als sie an den Ort kamen, der da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie Jesus dort und die zwei Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun! Und sie verteilten seine Kleider und warfen das Los darum.

Und das Volk stand da und sah zu. Aber die Oberen spotteten und sprachen: Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes. Es verspotteten ihn auch die Soldaten, traten herzu und brachten ihm Essig und sprachen: Bist du der Juden König, so hilf dir selber! Es war aber über ihm auch eine Aufschrift: Dies ist der Juden König.

Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns! Da wies ihn der andere zurecht und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Wir sind es zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Und er sprach: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.

Und es war schon um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde, und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riss mitten entzwei. Und Jesus rief laut: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt hatte, verschied er.

Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: Fürwahr, dieser ist ein frommer Mensch gewesen! Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich (als Zeichen der Trauer) an ihre Brust und kehrten wieder um.

Es standen aber alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles.

Soweit der Predigttext.

Ich habe vor längerer Zeit einmal ein eindrückliches Bild von Hieronymus Bosch gesehen, Kreuztragung, heißt es. Es zeigte wie Jesus sein Kreuz nach Golgatha trägt, doch die Menschen, die um ihn herumstehen, waren nicht wie Menschen gezeichnet, sondern wie Monster. Sie haben bleiche, grauschwarze brutale Gesichter, schrecklich verzerrte und entstellte Gesichter, wirre Blicke, aufgerissene Augen, schreiende, offene Münder, die Zähne sind spitz sichtbar, Hechtsmäuler. Und in der Mitte: das ruhende menschliche Antlitz Jesu. Zuerst fand ich das Bild abstoßend. Was für eine irre Phantasie hatte der Künstler. Doch der Künstler wollte sicher keine Menschen malen, dann hätte er es gemacht wie alle seine Kollegen – sondern: Er malte die Seelen der Menschen. Er malte sie so, wie Gott, der das Herz kennt, das Innerste des Menschen, sein Wesen, seine Seele sieht. Bestialisch, verkrampft, zornig, verzerrt, innerlich schreiend.

Unsere Seelen sind für andere nicht immer erkennbar. Eingehüllt in einen schönen Körper zeigt sie sich nur ganz selten wie sie wirklich ist – und das vielfach auch nur dem Menschen, der es gelernt hat, die Seele des Menschen zu sehen. Und hier um das Kreuz herum, werden die unmenschlichen, bestialischen Seelen der Menschen deutlich. Menschen kommen mit ihrem Leben nicht klar. Es ist voller Widersprüche, es wird beherrscht von unerfüllten Wünschen, von Trieben und Zwängen. Schmerzen und körperliche Grenzen zeigen dem strebenden Verstand auf: Es geht nicht weiter. Hier hast du deine Grenze. Und er bäumt sich dagegen auf, er will Grenzen nicht wahrhaben. Er will sich entfalten – und wie eine Biene, die ins freie will, stößt er ständig mit seinem Schädel gegen die unsichtbare Scheibe. Wie eine Motte, die das Licht ersehnt, versengt er seine Flügel am Feuer, bis er von der Flamme zischend verzehrt wird. Kein Mensch kann etwas gegen die ihm gesetzten Grenzen machen – aber wer dann? Wer ist dieser bösartige Setzer der Grenzen? Gott. Nicht erhörte Freiheitsgebete kommen uns in Erinnerung, die Lebenswünsche, die wir uns mit Gottes Hilfe erfüllen wollten – und Gott sagte nicht nein, das ist das Schlimme, er war still und schweigsam und wies uns in seine Grenzen. Hart und unerbittlich. So mancher Mensch lernt Demut im Leben – doch dann bricht der Zorn gegen Gott immer wieder mal heraus. So mancher Mensch will auch keine Demut lernen, sondern schleudert seinen ganzen Zorn Gott entgegen. Nicht, weil er bösartig ist, sondern einfach nur enttäuscht, tief, tief enttäuscht. Und so sind die Menschen unter dem Kreuz: tief enttäuscht. Was für ein schönes Leben hatten sie sich mit Jesus vorgestellt: Er wird Befreiung bringen, er wird das Paradies auf Erden errichten, er wird die Menschen miteinander versöhnen – und nun hängt er am Kreuz. Mit ihm wurden die Träume vernichtet, die Sehnsüchte, der Hunger nach Frieden und Geborgenheit. Und aus Enttäuschung entlädt sich der ganze Spott auf Jesus. Mit der Enttäuschung kam auch die Angst zurück. Die Angst vor dem neuen Hunger, dem neuen Alltag, der neuen Lebensbedrohung, dem Schmerz, Angst vor anderen Menschen und deren Drohen und Spotten, deren Verachtung und Misshandlung. Jesus – sagte er nicht, dass alles anders kommen wird? Und nun ist er selbst dort, nun trifft ihn selbst das. Wir wollten uns bei ihm vor allem Bösen schützen. Wir flüchteten zu ihm wie die Entenküken zu ihrer Mutter flüchten, wie wir Menschen in Not in die Kirche flüchten – und nun ist unsere Zuflucht selbst tot, zerstört. Wenn alle das so sehen, dann wollen auch wir alle mit Jesus nichts mehr zu tun haben. Und wir zeigen ihm unsere Verachtung, wir spucken mit den anderen auf ihn, wir ballen unsere Fäuste in seine Richtung, unser Gesicht verzerrt sich – die Seele ist ein einziges Monster.

Gott kennt unsere Seelen. Er sieht sie vor sich. Er möchte sie erneuern, sie besänftigen, sie vermenschlichen. Und Jesus sprüht nicht, wie viele Gekreuzigte damals in ihrer letzten Not, Hass kübelweise auf die Umstehenden, Jesus sprüht nicht Hass, sondern sucht die monsterhafte Seele zu beruhigen, zu entspannen. Und er sagt:

Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.

Wir Menschen wissen, wann wir andere verletzt haben, wann wir uns gegen andere vergangen haben, in Gedanken und in Taten. Wenn wir andere verletzt haben, verletzen wir uns auch selbst. Damit es uns nicht zu nahe geht, verhärten wir, verkrampfen wir in uns selbst – die Monsterseele wird immer ausgeprägter. Und Jesus befreit uns Menschen von unserer Schuld, die wir gegen Gott und Menschen aufhäufen, mit der wir uns selbst verletzen:

Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.

Unsere Seele verschattet sich. Mit jeder Todesbegegnung verschattet sie sich mehr. Dem Leben insgesamt sind Grenzen gesetzt. Wir nehmen uns so wichtig. Alles dreht sich nur um uns. Unsere Sinne sind dazu da, uns selbst im Mittelpunkt der Welt zu sehen. Was ich sehe: Sehe ich in Bezug zu mir. Was ich höre, höre ich, betrifft also mich. Was ich spüre, warnt mich, wenn es ein Schmerz ist oder tut mir wohl, wenn es ein Streicheln ist; ich schmecke, um zu überleben – ich stehe im Mittelpunkt der Welt. Der Verstand kann sich zwar sagen: Das stimmt nicht, du bist nicht der Mittelpunkt der Welt. Aber alle Sinne strafen meine Abschwächungsversuche Lügen. Und dann gibt es Ereignisse in meinem Leben, die mir grausam zeigen: Was du denkst, tust, spürst, das interessiert niemanden. Du bekommst Schmerzen – und behältst sie; du wirst eingeschränkt – und du bleibst so; du wirst von anderen bedrängt – und kannst dich kaum wehren; Schicksale treffen dich – und du kannst nichts dagegen tun, ob du aufbegehrst oder sie annimmst. Und die schlimmste Grenze ist der Tod. Die Sinne, die mich in den Mittelpunkt stellten, werden mir genommen, ich werde mir selbst weggenommen – ob ich will oder nicht. Das ist die größte Kränkung des Menschen, das ist seine größte Erniedrigung. Und wer ist dafür verantwortlich? Gott. Die Seele wird zornig gegen Gott, sie will mit ihm darüber verhandeln. Aber Gott – ja, was macht er? Gar nichts. Er geht nicht einmal darauf ein! Meine Klage – trifft nur die Zimmerdecke, meine sinnlose Angst bleibt in mir verschlossen. Und so werden wir zornig gegen Gott. Wir Menschen begehren auf, die Seele verzieht sich, verzerrt sich zu einer Fratze, zu einem animalischen Monster: Gott – ich hasse dich! Gott – ich will von dir nichts mehr hören! Gott, Gott, Gott – dich gibt’s gar nicht! Und so schlagen wir Menschen auf Jesus ein, in unserer unsäglichen Enttäuschung darüber, dass wir dem Tod ausgeliefert sind. Gott – wir richten dich hin; Gott, wir töten dich; Gott, jetzt haben wir dich in der Hand; Gott, du bist ein Nichts, ein blutendes Würmchen, jetzt haben wir die Macht, die Gewalt, die Herrschaft über dich! Und Jesus, der den Zorn des Menschen gegen Gott trägt, sagt:

Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.

Was sagt er da? Ist mit dem Tod nicht alles zu Ende? Gott kann die vom Wissen um das Sterben geschundene Seele, Gott kann den gequälten Geist aufnehmen? Ist mit dem Tod doch nicht alles vorbei? Gibt es einen Ausweg – gibt uns – Gott – einen Ausweg? Diese Frage entspannt die verzerrten und verhärteten Gesichter unserer Seelen, der Zorn wird besänftigt und der Mensch fragt sich: Wenn Jesus angesichts dieses mörderischen Todes seinen Geist in Gottes Hand befiehlt, kann ich es dann nicht auch tun? Ist Gott doch nicht so grausam? Ist er ein guter Vater, der mich nach dem Sterben sanft empfängt? Zeigt Gott uns hier nicht einen Weg, eine Möglichkeit des Lebens, des ewigen Lebens, hilft er die unerbittliche Grenze, die der Tod setzt, zu überwinden? Hat er sie überwunden?

Ja, Gott ist anders, ganz anders als es unsere wutverzerrte Seele meint. Und Gott weiß, dass auch wir ganz anders sind, wir sind die Enttäuschten, die unter Druck Gesetzten, die Verängstigten. Gott sieht unsere Seele, er sieht wie sie sich dunkel, finster darstellt – aber er sieht auch die Seele, wie sie ganz anders war und ganz anders sein will. Sie will nicht verkrampft, erbost, feindselig, monsterhaft sein, sondern frei, rein, fröhlich, offen, liebevoll. Jesus hat die Hoffnungen der damaligen Menschen enttäuscht – enttäuschen müssen, damit er uns allen die Vergebung, die Befreiung schenken kann. Jesus musste die Träume und Sehnsüchte der Menschen enttäuschen, damit er die Menschheit mit in sein neues Leben hineinnehmen kann. Die Menschen damals verstanden Gott nicht, doch Gott ist immer größer, als wir Menschen es in unserer kleinen Selbstzentriertheit denken. Wir Menschen heute verstehen Gott immer noch nicht – doch das, was Jesus getan hat und tut, das überdauerte Völker und Jahrhunderte, und wird auch weiterhin Menschen befreien – auch uns.

Denn er nimmt uns in diese Befreiung hinein, wenn wir in seiner Gegenwart das Abendmahl miteinander teilen. Mit dem Sterben und der Auferstehung Jesu begann etwas ganz Neues in der Welt: Wir können in Jesus Christus Gottes Liebe erkennen, spüren, schmecken. Und wir sind Teil dieser Liebe Gottes, an der wir mit unseren Sinnen teilhaben dürfen. Unsere Seele wird so wie Gott sie neu erschafft: offen, in Liebe, vertrauensvoll, rein.