Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht im 1. Brief an Timotheus im 1. Kapitel:
Ich danke unserm Herrn Christus Jesus, der mich stark gemacht und für treu erachtet hat und in das Amt eingesetzt, mich, der ich früher ein Lästerer und ein Verfolger und ein Frevler war; aber mir ist Barmherzigkeit widerfahren, denn ich habe es unwissend getan, im Unglauben. Es ist aber desto reicher geworden die Gnade unseres Herrn samt dem Glauben und der Liebe, die in Christus Jesus ist.
Das ist gewisslich wahr und ein teuer wertes Wort: Christus Jesus ist in die Welt gekommen, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin. Aber darum ist mir Barmherzigkeit widerfahren, dass Christus Jesus an mir als Erstem alle Geduld erweise, zum Vorbild denen, die an ihn glauben sollten zum ewigen Leben. Aber Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit! Amen.
Soweit der Predigttext.
Bibeltexte sind heute vielfach schwer zu verstehen. Was schreibt Paulus in dem soeben vorgelesenen Text? Ich gebe den Text mit einer eigenen Übertragung wieder:
Ich danke unserem Herrn Jesus Christus.
Ihr fragt: Wofür dankst du unserem Herrn Jesus Christus?
Ich danke ihn, denn er hat mich für meine Aufgabe stark gemacht. Er hat mir Kraft gegeben. Er hat mich eingesetzt, sein Wort zu verkündigen.
Ihr wollt wissen, was das Besondere daran ist? Klar! Ihr wisst doch, was für ein bösartiger Mensch ich war. Ich habe Menschen verfolgt, im guten Glauben, Gott zu dienen. Aber statt Gott zu dienen, habe ich nur furchtbar Schlimmes getan.
Dann ist Gott mir erschienen, Gottes Gnade hat mich ergriffen. Gott hat mir seine Liebe gezeigt und ist wunderbar barmherzig mit mir umgegangen.
Darum ist mir das folgende Wort für mein Leben so sehr wichtig, ja, es ist mein großer Schatz geworden: Jesus Christus wurde Mensch, damit solche schlimmen Menschen wie ich einer war, rundum erneuert werden können.
Damit hat er aber nicht nur mir geholfen. Ich bin ein lebendiges Beispiel dafür, dass Gott mit uns Menschen geduldig ist, dass er uns zum Glauben und zum ewigem Leben führt. Darum danke ich Gott.
Gott, dem Herrscher, der ewig war und ewig sein wird, Gott, der unsichtbar und allein zu ehren ist, ihm sei Lob und Preis in Ewigkeit. Amen.
Ich habe den unverständlichen Text verändert – aber verstehen wir ihn besser? Gott? Gott ist barmherzig? Gott liebt? Gott will aus uns unverständlichen und verkorksten Menschen neue Menschen machen? Gott?
Wir Menschen tun uns schwer mit Gott. Viele sagen. Gott – kann ich nicht sehen, nicht hören, nicht denken, nicht fassen. Von daher kann es Gott nicht geben. Aber in dem Text erfahren wir etwas ganz anderes: Wir sehen einen Menschen, der äußerst glücklich und dankbar ist. Glücklich und dankbar, weil Gott sein Leben verändert hat, zum Guten hin verändert hat. Uns lässt dieser Mensch an seiner großen Dankbarkeit teilhaben, uns sagt er ganz deutlich, warum er so dankbar, ja glücklich ist. Wir können Gott nicht greifen und begreifen, aber wir können uns von Gott ergreifen lassen. Und das ist dem Apostel geschehen: Er wurde von Gott ergriffen.
Weil wir Gott nicht greifen können, redet Gott zu uns durch solche Menschen wie den Apostel, damit wir ein wenig von dem ahnen, wer Gott ist, was Gott mit uns – uns verändernd vorhat. Solche Menschen werden zu einem Beispiel für Gottes liebendes Handeln, das selbst bösartige Menschen verändert.
Dieser Text lässt uns Zeuge werden, Zeuge für den wichtigsten Lebensabschnitt des Apostels. Wir schauen in sein Innerstes. Wir erfahren, wie das alte Leben war – und erfahren, dass sein Leben neu geworden ist. Und: Wir erfahren vor allem, wie dankbar er dafür ist, dass Gott sein Leben erneuert hat. Gottes Barmherzigkeit, Gottes Liebe, Gottes Gnade und Vergebung – diese haben sein Leben neu gemacht.
Gott verändert Leben. Sie kennen vermutlich das Lied Amazing Grace. Dieser Text stammt von John Newton. John Newton war der Kapitän eines Sklavenschiffs. Er war also ein übler Mensch, wie man es sich übler kaum vorstellen kann. Doch dann hatte er während eines Sturmes im Jahr 1748 eine Jesus-Begegnung und wurde Christ. Sein Leben begann sich zu ändern. Er begann, die Sklaverei zu bekämpfen.
(EG+ 92; Evtl erste Strophe englisch singen lassen, dann leise die Melodie spielen und den deutschen Text – eigene Übertragung – vorlesen).
Erstaunliche Gnade! Welch schöner Klang,
Rettung ergriff mich großen Schuft.
Ich war verloren, bin gefunden,
war blind und sehe nun.
Gnade lehrt mein Herz die Ehrfurcht,
Gnade lindert meine Angst;
Sehr wertvoll wurde diese Gnade,
die Stunde, als der Glauben kam.
Durch viele Mühen und Gefahren
Bin ich hindurchgewankt,
Gnade war es, die mich schützte,
Gnade wird mich führen heim.
Gott hat Gutes mir versprochen,
sein Wort macht meine Hoffnung stark.
Er ist mein Schild, gehört zu mir,
so lang mein Leben währt.
Wenn wir vor Gott sind in Ewigkeit,
und heller scheinen als die Sonne,
loben wir Gott nicht mehr,
als an dem Tag, als unser Glaubens-Lob begann.
Welch eine Gnade Gottes, die diesen Menschen veränderte. Und so hat auch das Lied viele Menschen berührt und verändert.
Oder denken wir an Reinhold Schneider. Reinhold Schneider war ein bekannter deutscher Schriftsteller im 20. Jahrhundert. Er bewunderte Friedrich Nietzsche. Nietzsche ist ein Philosoph gewesen, der den Übermenschen erdachte und den Willen zur Macht betonte. Menschen sollen sich, so seine Forderung, zum Übermenschen gestalten. Dieser Übermensch blickt auf andere herab, verachtet die Menschen, die nicht die Möglichkeit haben, sich zu Übermenschen zu machen. Diese Gesinnung beherrschte auch den Nationalsozialismus und nicht nur Nazis bis in die Gegenwart. Reinhold Schneider war kein Nationalsozialist, aber diese Gesinnung faszinierte ihn, die Gesinnung der Stärke, der Macht, der Überheblichkeit. Und so verteidigte er den brutalen Umgang der Spanier mit den amerikanischen Eingeborenen nach der Eroberung Amerikas: Das ist richtig, was die Spanier gemacht haben, sagte er. Sie waren die Stärkeren, sie haben das Recht, die Schwachen auszunutzen, auszubeuten. Doch dann wurde Reinhold Schneider Christ, seine Gesinnung änderte sich ins Gegenteil. Er wurde menschlich. Er schrieb in der Zeit des Nationalsozialismus ein sehr zu Herzen gehendes Buch über die unmenschliche Behandlung der Indios durch die Spanier (Las Casas vor Karls V.), das während der Zeit des Nationalsozialismus als Gleichnis gegen die Entwürdigung der Juden durch die Nationalsozialisten und deren Mitläufer gelesen wurde.
Wenn Jesus Christus Menschen ergreift, dann verändert sich ihr Leben. Darum dürfen wir nie andere Menschen aufgeben, auch uns selbst nicht – sondern sie und uns für Gottes Handeln öffnen.
Erstaunliche Gnade! Welch schöner Klang,
Rettung ergriff mich großen Schuft.
Ich war verloren, bin gefunden,
war blind und sehe nun.
Können wir eigentlich auch auf so einen Punkt in unserem Leben zurückblicken, an dem wir einfach nur dankbar dafür sein können, dass Gott ihn uns hat erleben lassen? Zeitpunkte, an denen Gott uns näher kam, als wir selbst es uns sind?
Ich war kein Verfolger von Menschen. Ich war kein Sklavenhändler. Ich war keiner, der Unmenschlichkeiten verbreitete – zumindest ist es mir nicht bewusst. Das kann ich vermutlich von uns allen hier behaupten. Aber dennoch merken wir, dass Jesus Christus an uns arbeitet und sehr viel arbeiten muss, damit wir so werden, wie er uns haben möchte: Als Spiegel seiner Gnade, seiner Barmherzigkeit, seiner Liebe zu allen Menschen. Auch uns muss er rundum erneuern; den in uns brodelnden Vulkan, der jederzeit auszubrechen droht, beruhigen, kühlen, entglühen. Sobald uns ein Mensch unangenehm zu nahe tritt, ihm ein unachtsames Wort entfällt – wie sehr beschäftigt das unsere Zornes- und Rachegedanken. Stunden gar Tage lang wälzen wir solche Situationen in uns. Oder Menschen, die uns vor langer Zeit Übles getan haben: Wir lassen sie nicht frei und fesseln uns damit selbst an sie, indem wir ihnen Vorwürfe machen, weil sie unser Leben verdorben haben. Nicht nur an diesem Denken hat Jesus Christus massiv zu arbeiten, damit wir neue Menschen werden, sondern auch daran, dass wir unzufrieden und undankbar sind, manchmal sogar verbittert. Wir haben weder Hoffnung für uns selbst noch Hoffnung für die Welt, wir sehen nur Dunkles, Schlimmes, statt die Liebe unter den Menschen, die Hilfsbereitschaft, die Freude. Nicht die Welt wird dunkler – unser Blick auf die Welt wird dunkler. Die Welt ist wie sie immer ist – aber unser Blick auf die Welt trübt ein. Ja, Jesus Christus muss uns runderneuern. Erst dann, wenn wir uns mit den Augen Gottes sehen lernen, erkennen wir, was bei uns nicht so gut läuft.
Der Apostel schaut auf sich. Aber er schaut nicht auf sich, um sich zu erheben. Er schaut auch nicht auf sich, um zu sagen: Wow, bin ich schlecht. Er schaut auf sich selbst, um Gottes Größe zu betonen, Gottes Größe, Gottes Gnade zu bekennen. Gott ist so mächtig, dass er selbst solche Menschen wie ihn, wie uns verändern vermag. Wer auf sich schaut, wer sich zu einem Übermenschen machen möchte – und sei es zu einem Übermenschen im Namen Gottes – der hat die Gnade Gottes, die Liebe Gottes nicht begriffen. Nicht auf uns schauen wir Christen, wir schauen auf Gott, der uns verändern möchte. Und so endet unser Predigttext auch mit einem wunderbaren Gottes-Lob:
Gott, dem Herrscher, der ewig war und ewig sein wird, Gott, der unsichtbar und allein zu ehren ist, ihm sei Lob und Preis in Ewigkeit. Amen.