Themengottesdienst zum 8.5.

Themengottesdienst am 8.5.2005

Orgel (Joseph Gabriel Weinberger: In Memoriam)

Begrüßung:

Ich begrüße Sie zu dem Gottesdienst am heutigen Sonntag Exaudi mit dem Wochenspruch für diese Woche:

Christus spricht: Wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen.

Einleitung:

Dass wir noch von Jesus Christus sprechen können, hängt mit dem 8. Mai vor 60 Jahren zusammen: Das Ende des zweiten Weltkriegs, das Ende der Herrschaft des Nationalsozialismus.

In den letzten Wochen habe ich mich mit einigen Menschen aus Nauheim unterhalten, die diese Zeit miterlebt haben, ihre Antworten werden zuerst angesprochen werden. Nauheimer waren ja nur ein winziger Teil derer, die die Jahre 1933-1945 erlebt haben. Darum werden diese Erfahrungen in einen weiten Zusammenhang gestellt. Da wir aber keinen Geschichtsunterricht haben, sondern einen Gottesdienst feiern, werden wir Erfahrungen von Menschen in der Nazizeit mit Gott in Verbindung bringen. Glaube bewährt sich in der konkreten Geschichte. Gebete Dietrich Bonhoeffers, die er für Mitgefangene geschrieben hat, begleiten uns. Wenn Sie das alles hören, Neues und Altes, dann sagen Sie bitte nicht, das stimmt nicht. Nachgeborene sind abhängig von dem, was Zeitzeugen berichten. Und das wiederum ist abhängig davon, wo die Zeitzeugen im Land lebten, wie alt sie waren, mit welchen Menschen Sie Umgang hatten. Wenn man die Erinnerungen der Zeitzeugen Haffner, Junge, Reich-Ranicki, Immer, Klemperer usw. liest – man ist verwirrt über die Verschiedenheit der Erfahrungen.

Wir feiern den Gottesdienst im Namen Gottes, des Vaters, der unerforschlich die Geschichte der Menschen in Händen hält, im Namen des Sohnes, der in dieser Geschichte Liebe und Versöhnung gelebt hat, im Namen des Heiligen Geistes, der seine Gemeinde erhält.

Zunächst singen wir ein Lied, das in der damaligen Zeit in vielen Gottesdiensten gesungen worden ist:

Lied EG 299,1+3 (Aus tiefster Not schrei ich zu Dir…)

* Gebet I

In den Gesprächen mit Nauheimerinnen und Nauheimern, die diese letzten Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner in Nauheim erlebt haben, wurde vor allem eines deutlich: Angst. Angst vor dem Unbekannten, Angst vor Vergewaltigungen, Plünderungen, Entführungen, Verhaftungen, Hinrichtungen, Vertreibungen. Sie erlebten die Angst allein in ihren Kellern oder viele drängten sich in den Kellern zusammen, um diese Zeit der Angst miteinander, auch im Schutz der Menge zu verbringen. Flak war hinter dem Schulgebäude aufgestellt, ein Beobachtungsposten saß im Kirchturm – und so wurden in den letzten Tagen noch einzelne Gebäude beschossen und brannten. Man vernichtete, versteckte alles, was mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht werden konnte, aus den Hakenkreuzfahnen wurden Kleider geschneidert – es herrschte Angst.

Soweit ich das in Erfahrung bringen konnte, gab es nur wenig Nauheimer, die in der SA oder der SS waren. Andere waren „harmlosere“ Mitläufer, konnten aber auch zum Teil unmenschlich sein, um nur an das Ereignis in der Hintergasse zu erinnern, von der auch die Nauheimer Chronik spricht:

* Text 1: Chronik Bd. 2: Lesen S. 150

Menschen unter diesen Angreifern hatten auch Angst – sie bedrohten in der Zeit nach dem Nationalsozialismus die Mitwisser, sie ja nicht zu verraten.

Menschen hatten Angst. Aber sie waren nur ein kleinster Teil der Menschen in der damaligen Zeit, die Angst hatten. Nationalsozialisten, Deutsche also, brachten Angst unter die eigenen Mitmenschen. Angst machte sich breit – vor allem bei denen, die politisch interessiert waren, die auch an andere dachten, die die Gefahren der neuen Politik rechtzeitig sahen. So begann es: Mit triumphaler, lauter, mitreißender Musik, mit Lärm mancher Aufzüge, Auftrumpfen, Herumpöbeln. Auch Nauheimer wurden inhaftiert, weil sie nicht mitschwammen mit der begeisterten Masse, wenn ich recht informiert bin: freilich recht wenige. Der normale Mensch, der seinen schweren Alltag nachging, merkte die Angst, die verbreitet wurde, vielleicht gar nicht so sehr. Anfangs. Es war auch eine spannende Zeit. Das Volk wuchs zusammen, man fühlte sich wieder als wer – und wusste zum Teil gar nicht, dass dieses Gefühl immer auf Kosten anderer ging. Von Anfang an. Man wollte Herr sein im eigenen Haus, und warf darum Menschen, von denen man nicht wollte, dass sie mit im Haus wohnen, hinaus. In einer Kirchenzeitung stand 1933 folgender Text:

* Text 2: Vision

Gottesdienst. Das Eingangslied ist verklungen. Der Pfarrer steht am Altar und beginnt:
‚Nichtarier werden gebeten, die Kirche zu verlassen!‛
Niemand rührt sich.
‚Nichtarier werden gebeten, die Kirche zu verlassen!‛
Wieder bleibt alles still.
‚Nichtarier werden gebeten, die Kirche zu verlassen!‛
Da steigt Christus vom Kreuze des Altars herab und verlässt die Kirche.

Angst herrschte im eigenen Land – und Angst wurde in Europa verbreitet.

Wir hören gleich aus einem Flugblatt der kleinen Widerstandsgruppe der „Weißen Rose“. Dieses Flugblatt hat Hans Scholl verfasst und mit anderen, so mit seiner Schwester Sophie, verteilt. Sie empfinden die Ungerechtigkeit im Staat, die Unfreiheit, die stille und laute Gewalt. Sie wollen nicht schweigen, sich nicht einfach aus Angst verkriechen. Sie wollen gegen den Grund der Angst ankämpfen – und wissen doch nicht, wie sie dagegen angehen sollen. Sie überlegen, was in ihren Fähigkeiten steht. Und so wehren sie sich gegen diese Übermacht des nationalsozialistischen Staates und seiner Einwohner 1942/1943 mit Flugblättern. Sie sollten die Menschen aufrütteln, damit sie gegen das Unrechtsregime auftreten. Sie malen Nachts heimlich Parolen an Hauswänden, um Menschen die Augen zu öffnen. Nur kurze Zeit können sie wirken. Dann werden sie verhaftet und bald darauf hingerichtet. Dieser Text mag in den Ohren einiger heute hart sein. Aber bedenken sie, diese jungen Menschen haben die grausame Sprache ihrer Regierenden aufgegriffen und bedenken sie, gegen wen sie ankämpfen, in ihrer Angst.

* Text 3: Flugblatt II der Weißen Rose.

Buxtehude: Nun bitten wir den Heiligen Geist

Es ist nicht so, dass man erst in den 40ger Jahren oder am Ende des Naziregimes gemerkt hat, mit wem man es zu tun bekommt, wenn man Hitler und seine NSDAP wählt. Es gab auch wache Menschen, die schon 1932 und 1933 erkannt haben, was kommen wird. Sie haben Hitlers Buch nicht schön geredet, Rosenbergs Aufsätze und Buch ernst genommen und Goebbels Schriften gelesen als das, was sie sein sollten: Programm.

So hat auch Hermann Sasse, Herausgeber des Kirchlichen Jahrbuches sich 1932 intensiv mit dem Parteiprogramm der NSDAP auseinandergesetzt. Er ahnte die Gefahr und Gewalt, die darin verborgen lag. In diesem Parteiprogramm ist von einem Positiven Christentum die Rede. Was verstanden die Nazis darunter? Positives Christentum ist eines, das nicht mehr vom Juden Jesus von Nazareth bestimmt wird, sondern eines, das Arier, Germanen akzeptieren konnten. Dieser Text von Sasse hat noch Jahre später führende Nazis sehr erbost.

* Text 4: Sasse

Der Staat versuchte, selbst Werte zu schaffen. Arische, germanische Werte – und da brauchte man die Kirchen nicht, die dem Juden Jesus folgten, brauchte man die schwächlichen Kirchen nicht, die Nächstenliebe predigten und praktizierten: Starkes gilt, das Männliche, das Gesunde, das Junge, das Angepasste. Man müsse über den Gefühlen stehen, wenn es gilt, diese durchzusetzen. Welch Verachtung begegnet den Alten! Welch Verachtung gegen Behinderte und Juden. Der Staat suchte Werte zu schaffen, indem er junge Menschen dem Einflussbereich Andersdenkender entzog. Und das sehr geschickt: Einheitsgefühl durch Gesang, Sport, Wanderungen, Belobigungen, man war wer und nicht nur der kleine Schüler … Erhebende Worte wurden verwendet, machtvolle Worte, Angst übertönende und betäubende Worte. Und der normale Mensch war glücklich und erkannte nicht den Verführer hinter diesem Großartigen. Und der Verführer hatte nur ein Ziel: Unheimliche Begeisterung zu verbreiten, um Menschen gefügig, wehrtüchtig zu machen, damit er andere Länder gefügig mache. Hart sollte die Jugend werden, damit sie ohne Skrupel gegen andere Menschen eingesetzt werden konnte.

Schon bald nach der Machtübernahme wurden viele – auch Christen – inhaftiert, und kamen schon 1934 in der Haft um. Vor allem 1936/1937 eskalierte die Auseinandersetzung zwischen einem kleinen Teil der Kirche, der so genannten Bekennenden Kirche und dem Staat – auf der Seite der so genannten Deutschen Christen. Zahlreiche Pfarrer der Bekennenden Kirche wurden inhaftiert, bekamen Redeverbot – und Kirchenleitungen, die den Deutschen Christen zugehört haben, trieben ihre andersdenkenden Pfarrer und judenchristlichen Pfarrer ebenfalls den Wölfen zu. Was machte der Nauheimer Pfarrer? Wo stand er? Ich habe bisher nur sich widersprechende Informationen. Vielleicht weiß jemand von Ihnen mehr – ich bin für Infos dankbar. Es gab trotz diesen Verfolgungen mutige Menschen, so ein Richter. Der Reichskirchenminister hatte den Bischof Dibelius angeklagt. Er wurde freigesprochen. Was das in der damaligen Zeit für einen Richter bedeutetet, gegen den Staat dem Angeklagten Recht zu sprechen, zeigt sich daran, dass der Richter angesichts dieses Angst-Stresses, kurze Zeit darauf gestorben ist. Auch Nauheim hatte hoffentlich mutige Menschen. Weiß noch jemand von ihnen?

Und in dieser schweren Zeit des Kirchenkampfes entstand ein Text, der große Wirkung hatte. Die Bekennende Kirche wollte Hitler eine Schrift überreichen, in der sie die Probleme und Ungerechtigkeiten in Deutschland aufgelistet hatte. Diese Schrift gelangte an die ausländische Presse, was zu einer massiven Kampagne der gleichgeschalteten deutschen Presse gegen die Kirche führte. Die Kirche musste sich verteidigen und tat es mit einer Kanzelabkündigung. Auf dieser wurde der Gemeinde der Text des Schreibens an Hitler vorgelesen. In ihr finden wir folgende Worte:

* Text 5: Kanzelabkündigung + Schlusswort

Lied: Händel: Er weidet seine Herde

Der Kampf zwischen Gemeinden der Bekennenden Kirche und dem Fußvolk der Partei in den Gemeinden war hart. Wie hart, er auch mit der Staatsführung war, erkennt man am Tagebuch des Propagandaminister Goebbels.

* Text 6: Goebbels schreibt: „Frage der Kirchen akut. Religiosität von ihnen trennen, da sonst mit ihnen die ganze Gottgläubigkeit in Gefahr. Den (germanischen) Gottesglauben ganz tief, vor allem in der Jugend verankern … Darum neues Jugendgesetz, das H.J. zur Staatsjugend erhebt. … Kirchen müssen entweder scharf an unser Seite treten, oder sie sind zum Untergang reif.“ Wenig später schreibt er: „Die katholischen Bischöfe haben wieder mal einen Hirtenbrief gegen uns losgelassen. Wen die Götter strafen wollen, den schlagen sie mit Blindheit. … Der Führer hält das Christentum für reif zum Untergang. Das kann noch lange dauern, aber es kommt.“ Die offene Auseinandersetzung schwächte sich aufgrund der im Vordergrund stehenden Kriegsereignisse kurz ab. Bei Goebbels heißt es dazu: „Die Auseinandersetzung mit der Klerisei will Hitler sich für nach dem Krieg aufsparen. Und das ist auch ganz richtig so!“ Und schreibt Stalin bewundernd: „ Auch die Pfaffenfrage hat Stalin auf diese Weise gelöst. … Die Metropoliten fressen ihm aus der Hand, weil sie Angst vor ihm haben und genau wissen, daß sie, sobald sie gegen ihn opponieren, den Genickschuß bekommen. Wir haben auf diesem Gebiet noch einiges nachzuholen. Aber der Krieg ist dazu die ungeeignetste Zeit.“

Von Hitler hören wir:

* Text 6a: Der Chef sprach sich in dem Sinne nach unter anderem in folgenden Gedankengängen aus: Der Krieg wird sein Ende nehmen und ich werde meine letzte Lebensaufgabe darin sehen, das Kirchenproblem noch zu klären. Erst dann wird die deutsche Nation ganz gesichert sein. Ich kümmere mich nicht um Glaubenssätze, aber ich dulde nicht, dass ein Pfaffe sich um irdische Sachen kümmert. Die organisierte Lüge muss derart gebrochen werden, dass der Staat absoluter Herr ist. In meiner Jugend stand ich auf dem Standpunkt: Dynamit! Heute sehe ich ein, man kann das nicht übers Knie brechen. Es muss abfaulen wie ein brandiges Glied. So weit müsste man es bringen, dass auf der Kanzel nur lauter Deppen stehen und vor ihnen nur alte Weiblein sitzen. Die gesunde Jugend ist bei uns.

Niemöller, der auch lange Jahre – ohne Gerichtsurteil, auf Befehl Hitlers – in Haft war, hat ein Wort geprägt, das diese Zeit besonders gut kennzeichnet – es lautet erweitert:

* Text 7:Erst holten sie die Kommunisten,
ich habe geschwiegen.
Dann holten sie die Sozialisten,
ich habe geschwiegen.
Dann holten sie Juden,
ich habe geschwiegen.
Dann holten sie Katholiken,
ich habe immer noch geschwiegen.
Zuletzt holten sie mich und da war keiner mehr da, der widersprechen konnte.

Wäre es soweit gekommen, so hätte niemand mehr gerufen, wenn die Christen systematisch angegriffen worden wären. Teile der Kirchen haben sich gegen das Unrecht geäußert, aber doch zu wenig – sie fanden alles wunderbar oder hatten Angst. Und die Meisten haben geschwiegen, weil sie einfach mitgemacht haben – weil sie alles wunderbar fanden oder aus Angst. Sie waren alle schon geholt: Kommunisten, Sozialisten – oder sie waren übergelaufen. Geholt waren auch Juden. Und wer hätte noch ein Finger gekrümmt, wenn Christen geholt worden wären? Es war ja niemand Aufrechtes mehr da!

EG 65,1-3+7 (Von Guten Mächten …)

* Gebet III (Bonhoeffer: Wer bin ich …)

Das gesungene Lied und das Gebet, in dem Angst und Mut einander durchdringen, kommen vom Theologen Dietrich Bonhoeffer, der in den Widerstand gegangen war. Er wurde verhaftet.

* Text 8:Wenn der Staat Menschenrechte außer Kraft setzt, habe die Kirche drei Möglichkeiten: erstens dürfe sie nach der Legitimation seines Handelns fragen, zweitens könne sie den Opfern des staatlichen Handelns dienen – und drittens könne sie nicht nur die Opfer unter dem Rad verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen fallen.

Einen Monat vor Kriegsende wurde er nach Monaten in Haft hingerichtet. Wie so viele, an denen sich die Schergen des Naziregimes noch in letzter Stunde rächen wollten.

Dem Rad in die Speichen fallen – das konnten nur die Wenigsten. Auch wenn sie wollten. Die meisten aber schauten weg – aber Gottes Augapfel, sein Volk, die Juden, wurde angetastet.

Gott lässt sich nicht spotten. Und wenn sein Augapfel, das jüdische Volk, angegriffen wird, wenn seine Kinder, die Jesus Christus nachfolgen angegriffen werden – es fällt auf die Angreifer zurück.

1943 formulierte eine Kirchensynode der Bekennenden Kirche folgenden Text:

* Text 8a: Wehe uns und unserem Volk, wenn das von Gott gegebene Leben geringgeachtet und der Mensch, der nach dem Ebenbild Gottes erschaffen, nur nach seinem Nutzen bewertet wird; wenn es für berechtigt gilt, Menschen zu töten, weil sie für lebensunwert gelten oder einer anderen Rasse angehören, wenn Haß und Ungerechtigkeit sich breit machen.

Gott lässt sich nicht spotten:

Lied EG 281,1

Und so brachten Deutsche Angst unter Juden – und vielen anderen Menschen, die nicht mitschwammen. Sie brachten aber auch Angst unter die Nachbarländer: Polen, Tschechien, Niederlande, Frankreich … um nur einige mit Namen zu nennen. In vielen weiteren Ländern hatte das deutsche Unrechtssystem seine Hände im Spiel, waren die Regierungen Marionetten im Dienste der Ungerechtigkeit. Überall wurde Angst und Schrecken verbreitet. Blutspuren wohin man schaute. Und diese Angst, die von Deutschland ausging, schwappte auf das Land selbst wieder zurück, auch auf Nauheim. Und nicht nur vor den Allierten hatte man Angst. Wieviel Pfarrer, Lehrer, Bürgermeister, Ärzte und kriegsmüde Menschen wurden von Hitlers versprengten Wehrwölfen auch danach noch umgebracht? Man rächte sich, endlich konnte man sie in diesem Chaos auch noch umbringen. Auch in der Nähe von Nauheim gab es solche Morde: in Trebur am Kornsand.

Doch bald schon hatte man sich arrangiert. Menschen, die sich gegen die Nazis gewandt hatten, wurden auch danach noch angepöbelt, so die Familie der Scholls, deren Kinder vom Unrechtsstaat hingerichtet worden sind – ob hier in Nauheim auch, das weiß ich nicht. Die Erinnerung der heutigen Nauheimer Zeitzeugen, die ja damals noch Kinder, Jugendliche waren, gehen vielfach dahin, dass sie sich über Schokolade freuten und andere Sachen, die die amerikanischen Soldaten ihnen zusteckten. Man erinnert sich daran, dass die Amerikaner viel weggegessen haben, dass in andere Häuser verschlepptes Eigentum wieder zusammengesucht werden musste. Man erstarrte vor dem Anblick der großen schwarzen Männer. Und man ist traurig, dass das Einheitsgefühl und die spannende Zeit, die die Hitlerjugend bot, vorbei war. Den Nauheimern ging es verhältnismäßig gut. Die Kirche hatte nur einzelne zerbrochene Dachziegel und Scheiben. Doch in wieviel Familien herrschte Trauer, weil ihre Angehörigen gefallen waren, Unsicherheit, weil man nicht wusste, ob sie noch leben, wo sie leben. Aber das Kriegsende in Nauheim war eher ruhig – im Deutschland der Umgebung begann der Überlebenskampf. Da geschah dann das, was man hier befürchtet hatte. Es bleibt zu hoffen, dass die Menschen, die sich damals an Gott und Menschen versündigt hatten, um Vergebung baten, Unrecht eingesehen und öffentlich zugegeben haben, damit die Seele von der Schuld nicht zerfressen wird, sondern von Gott befreit durchatmen konnte zum Wohl der Menschen. Aber leider ist es auch in Nauheim sehr still geworden. Von Verarbeitung der Schuld habe ich nichts vernommen. Das ist schlimm.

* Gebet II

Stille

Nun erinnert man allenlanden an diese Zeit. Warum? Damit sie nie wieder geschehe. Dass nicht Unrecht geschehe, dass nicht Unfreiheit um sich greife – doch sobald jemand sagt: Das, was heute an diesem und jenem Punkt geschieht, erinnert an die damalige Zeit – und schon ist das Geschrei groß. Das, was damals geschehen ist, ist unvergleichbar! Ja, das ist es auch. Doch was vergleichbar ist, ist die Haltung, die Menschen immer wieder befällt, damals wie heute. Und hier stehen auch die Nachgeborenen im Blick:

Menschenleben nicht achten. Wache Menschen von heute sehen häufig, wo und wie das Leben anderer Menschen nicht geachtet wird. In manchen Ländern gibt es zu wenig Frauen, weil Mädchen vor der Geburt abgetrieben worden sind. Und wie geht es in unserem Land Kindern, deren Behinderung schon im Mutterleib erkennbar wird?

Was vergleichbar ist: Man wünscht sich umfassende Sicherheit auf Kosten der Freiheit – und wenn andere dabei unter die Räder kommen, was geht es mich an? Was geschieht, wenn eine Diktatur wieder die Oberhand bekommt? Alle technischen Voraussetzungen sind schon gegeben, die Menschen dieses Landes kleinzukriegen.

Was vergleichbar ist: Mehrheiten versuchen mutige Einzelpersonen mundtot zu machen, sie abzukapseln und auszuschließen. Vor allem politische Parteien, die doch Vorbild in Demokratie sein sollten, geben hier immer wieder ein erschreckendes Beispiel.

Was vergleichbar ist: Man will von Gott nichts wissen, bastelt sich eigene Götter zurecht. Der alte jüdische Gott, der hat uns heute nichts mehr zu sagen. Jesus Christus ist ja ganz nett, wenn wir ihn so hingebogen haben, dass er uns nicht weiter stört. Oder manche glauben tatsächlich noch, der Staat bzw. Parteien könnten die Religion abschaffen und selbst Werte vermitteln.

Es sind die Haltungen, menschenverachtende und überhebliche Haltungen, die damals und heute gleich sind. Die Trennwand zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit ist sehr dünn. Es muss nur jemand kommen, der beginnt, sie zu durchlöchern – und schon machen wir alles mit. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Angst wird ausgenutzt. In Angst mutig sein, Gottes Weg gehen, das lehren uns die Menschen, von denen wir gehört haben.

EG Lied 123,1-3 (Jesus Christus herrscht als König)

Fürbitte

Gott, unser Herr, wir wissen, dass auch gegenwärtig viele Menschen unter Diktaturen leiden. Sie sind der Willkür ausgesetzt, der Willkür sogenannter Ordnungsmächte, der Willkür ihrer Nachbarn. Öffne uns die Augen und das Gewissen, dass wir nicht wegschauen. Hilf den Menschen, die in amnesty international und in der internationalen Gesellschaft für Menschenrechte ihre Augen nicht verschließen, dass sie nicht vom Gefühl der Sinnlosigkeit übermannt werden.

Wir bitten für die Politiker dieses Landes und der Europäischen Union. Hilf ihnen, die Menschlichkeit in ihren politischen Bestrebungen genauso wichtig zu nehmen, wie alles andere. Hilf auch die unter ihnen, die Menschlichkeit immer wieder anmahnen, nicht vor dem Gruppendruck anderer Länder oder Politiker zu kuschen.

Wir bitten für deine Kirchen. Sie, die du auf den Weg der Menschlichkeit, der Liebe und Vergebung gesetzt hast, verheddern sich im Gestrüpp selbstgebastelter Gesetze, im Netz der Anpassung. Hilf uns deine Stimme sein in all dem Unrecht, das wir sehen und erfahren.

Eltern und Lehrer hilf, den Kindern Wege zu weisen, dass sie lernen, Unrecht beim Namen zu nennen und nicht mitzumachen, auch wenn alle mitmachen. Justiz und Polizei mache empfindsam, Amtsanmaßungen rechtzeitig zu erkennen und zu bekämpfen. Journalisten und Lektoren in den Verlagen gib Mut, sich ihrer Verantwortung bewusst zu sein.

Gemeinsam wollen wir beten, wie Jesus Christus uns zu beten gelehrt hat:

Vater-unser

Segen

Orgel (Nikolaus Bruhns: Präludium und Fuge in g-moll)