Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht im Markusevangelium im 2. Kapitel:
Und es begab sich, dass Jesus am Sabbat durch die Kornfelder ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist? Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, da er Mangel hatte und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit des Hohenpriesters Abjatar und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. So ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat.
Soweit der Predigttext.
Wir sehen, wie an einem Sabbat Jesus und seine Jünger an einem Kornfeld vorbeigehen. Jünger Jesu bekommen Hunger und zerkauen ein paar Getreidekörner. Alles ganz gemütlich an einem schönen Sabbat-Morgen. Und dann gibt es großen Aufruhr: Jesus steht unter Aufsicht der Frommen. Sofort wird der Vorwurf laut: Jesus bricht das Gesetz Gottes! Und das noch unter den Augen der Beobachter! Das ist Provokation.
Heute ist das alles kein Aufreger mehr. Wir essen, wann wir essen möchten, wir essen, was wir essen möchten, wir haben die Freiheit zu tun und zu lassen, was wir wollen. Und wenn wir uns so in unserem Land umsehen, dann tun und lassen viele Menschen auch, was sie wollen. Wir sind frei!
Ein Satz, der dem Philosophen Kant bzw. Rosa Luxemburg zugeordnet wird, ist in aller Munde:
Meine Freiheit endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt.
Das ist auf den ersten Blick ein schöner Satz – er ist aber für den Alltag nicht besonders brauchbar. Wir Menschen sind keine klar abgesteckten Felder, eines liegt brav neben dem anderen. Denn: Wenn ich rufe, dringe ich in den Bereich des anderen ein. Ein anderer sieht mich – also dringe ich über die Augen in ihn ein. Wir handeln immer so, dass wir direkt mit dem anderen kommunizieren. Der eine spricht laut – das schränkt meine Freiheit ein – soll er darum lernen, leiser zu sprechen? Der andere schaut mich an – ich fühle mich provoziert, soll meine Freiheit sein Schauen verbieten? Was sagen Arbeitnehmer zu den Arbeitgebern, was sagen die Schüler, dass sie zur Schule müssen, die Eltern, die ihre Eltern oder Kinder versorgen müssen. Es geht um „müssen“ – nicht in Freiheit tun. Und es wird ernster: Wie ist das, wenn Freiheitsrechte miteinander in Konflikt stehen? Zudem sind scheue Menschen eher bereit, ihre Freiheitsgrenzen einschränken zu lassen als forsch-freche Leute.
Darum sind Gebote notwendig, die die jeweiligen Freiheiten regeln. Das Gebot, dass man am Sabbat nicht arbeiten darf, ist eine solche gute Regel, die Gott gegeben hat. Und Jesus, so werfen ihm seine Gegner vor, bricht diese Freiheitsregel. Und Jesus? Er sieht seine Freiheit durch diese Regel eingeschränkt. Das heißt: Wir haben hier zwei Freiheitskonzepte vorliegen, die miteinander kämpfen. Die Gegner Jesu sagen: Gott schenkt uns als Gemeinschaft diese Regel für ein gutes Zusammenleben. Jesus sagt: Aber der Einzelne muss davon auch profitieren. Es handelt sich also auch auf einer noch anderen Ebene um einen Konflikt: Gemeinschaft gegen Individuum, Individuum gegen Gemeinschaft.
Dieser Text lässt uns also sehr tief blicken: Jesus ist zunächst der Bringer der Freiheit für den Einzelmenschen, für das Individuum. Damit bringt er ganz Neues – etwas, das uns heute allerdings sehr bekannt ist und nicht mehr vom Hocker reißt.
Aber Jesus sagt ja nicht: Der Mensch darf tun und lassen, was er will. Jesus sagt: Der Menschensohn, also er selbst, er ist der Herr über den Sabbat. Nicht der Mensch darf einfach so bestimmen, sondern der Mensch in seiner Abhängigkeit von ihm, das heißt von Gottes Willen. Und damit haben wir wieder einen mächtigen Aufreger: Da plustert sich ein Zimmermann aus dem Kaff Nazareth auf. Die Zeitgenossen Jesu warfen ihm vor: Er stellt sich über Gott – unsere Zeitgenossen werfen ihm vor: Er stellt sich über den freien Menschen.
Aber das ist der Dreh- und Angelpunkt der Freiheit, die Jesus bringt. Und diese Freiheit ist sehr, sehr tief gehend.
*
Freiheit, was für ein großes Wort! Wenn ich wirklich frei wäre, was würde ich dann alles machen!?
Wenn ich gesund wäre….
Wenn ich die richtigen Menschen kennen würde…
Wenn ich genügend Geld hätte…
Wenn ich nicht an Menschen gebunden wäre…
Wenn ich nicht an meinem Charakter, meiner Psyche gefesselt wäre…
Wenn…
Ja, dann wäre ich wirklich frei. Dann könnte ich die Freiheit in Hülle und Fülle genießen. Freiheit – ein Traum!
Aber wäre ich dann noch ich? Ich, der in seinem Alltag eingebunden ist, der mit sich selbst kämpft und gegen sich selbst, der Ängste hat und vorsichtig ist, der zu müde ist, einfach dies und das zu tun, sondern dann doch lieber in seinem Sessel sitzt und vor sich hin träumt, sich an gute Zeiten erinnert oder gute Zeiten erträumt; ich, ein Mensch, der gerne dies und jenes machen würde – aber froh ist, dass er das nicht machen muss, dann zum Staubsauger greift, um seine Wohnung zu säubern. Ein Mensch, der sich an den PC setzt und PC-Spiele spielt, in denen er Menschen und Drachen vernichtet, weil er für seine virtuelle Freiheit kämpft. Bin ich dann nicht frei? Ich in meinem arbeitsreichen Alltag, meinem Alltag der Einsamkeiten und unruhigen Stille – kann ich nicht auch frei sein?
Freiheit ist mehr, als tun und lassen, was man will – und vielleicht dann doch nicht will.
Die frühen Christen waren vielfach Sklaven. Der Glaube an Jesus Christus, auch angefacht durch solche Geschichten, wie wir sie heute gehört haben, hat dazu beigetragen, dass sie sich als Sklaven und Sklavinnen frei fühlten. Wie das? Wer seine Glaubens-Wurzeln in Jesus Christus hat, der ist auch dann frei, wenn er aus menschlicher Sicht gefangen ist. Das ist ein ganz, ganz großes Geheimnis, was an dieser Stelle mit uns Menschen geschieht. Die glaubenden Sklavinnen haben das erfahren können, auch wenn sie grausame Herrschaften hatten; Glaubende, die verfolgt wurden und in Gefängnissen ihr Leben fristeten, wussten und wissen sich in Jesus Christus frei; Menschen, die an Krankheiten und an Schmerzen gefesselt im Bett liegen – unzählige haben dieses Geheimnis erleben dürfen: Ich bin frei! In Jesus Christus, dem Menschensohn, bin ich frei. Denn er ist der Herr nicht nur über den Sabbat, er ist der Herr über alles – und nicht zuletzt: Er ist mein Herr. Und weil er, er allein, mein Herr ist, darum muss ich mich von nichts fesseln und beherrschen lassen: von keinem Gesetz, von keinem Menschen, nicht vom Schicksal, nicht von Ängsten, Krankheiten, Sterben und Tod.
*
Diese Freiheitsspur Jesu zieht sich durch die gesamte Kirchengeschichte hindurch:
Paulus schreibt im Römerbrief (8,35):
Wer will uns scheiden von der Liebe Christi?
Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger, oder Nacktheit oder Gefahr oder Gewalt? In allem überwinden wir durch den, der uns geliebt hat.
Dietrich Bonhoeffer schrieb, als er von den Nationalsozialisten verhaftet im Gefängnis saß kurz vor seiner Hinrichtung:
Komm nun, höchstes Fest auf dem Wege zur ewigen Freiheit,
Tod, leg nieder beschwerliche Ketten und Mauern
unsres vergänglichen Leibes und unsrer verblendeten Seele,
dass wir endlich erblicken, was hier uns zu sehen missgönnt ist.
Freiheit, dich suchten wir lange in Zucht und in Tat und in Leiden.
Sterbend erkennen wir nun im Angesicht Gottes dich selbst.
Etwa hundert Jahre vorher schrieb Frederick Douglass (My Bondage and My Freedom, 1855), ein ehemaliger Sklave in den USA, über sein Leben:
Der Geist Gottes machte mich frei, obgleich ich ein Sklave war.
Und viele Spirituals, Lieder von Sklaven, sprechen das aus: Freiheit im Glauben.
Sometimes I feel like a motherless Child – Manchmal fühle ich mich wie ein Kind, das seine Mutter verloren hat, o Herr. Dann falle ich auf meine Knie und bete. Bete. Ich falle auf die Knie und bete.
Freiheit im Gebet. Es öffnet sich das Gefängnis des aktuellen Lebens, der Geist geht in die Welt Gottes hinein, hinein in die Freiheit.
Die Lieder sprechen noch etwas aus: Die Freiheit im Glauben führt zur Sehnsucht nach irdischer Freiheit. Es wird gesagt, dass die Lieder, die von den Sklaven überall gesungen wurden, mit dazu beigetragen haben, dass eine Freiheitsbewegung in den USA entstehen konnte. Das Gefühl, durch Gott frei zu sein, in Gott frei zu sein, führte dazu, die Fesseln der Sklaverei zu sprengen.
Das ist wahre Freiheit aus christlicher Sicht: Trotz aller Lebensgefängnisse, allen Lebensgefängnissen zum Trotz, im Glauben an Jesus Christus frei sein. Dieser Glaube hat auch Auswirkungen auf mich und meinen Alltag. So hatte die Freiheits-Botschaft Jesu Auswirkungen auf das Verhalten der Jünger am Sabbat. Wie Jesus Unfreiheiten bekämpfte, so darf ich im Glauben an Jesus Christus auch die eigenen Unfreiheiten angehen. Ängste, Befürchtungen, Einsamkeiten, ungute Unterordnung unter meinen Charakter, ungute Unterordnungen unter andere Menschen, gefesselt sein an Schuld, an Menschen, die mich prägten, Angst vor Krankheiten, Angst vor Behinderungen, Angst vor dem Sterben.
Ich gehe gegen sämtliche Unfreiheiten schon als ein Mensch an, der in Jesus Christus frei ist. Weil wir auch in all den Unfreiheiten frei sind, können wir Glaubende gelassen mit allen Schranken umgehen. Wir müssen nicht fanatisch alles jetzt, jetzt, jetzt sofort lösen. Beharrlich und beständig gegen Unfreiheiten welcher Art auch immer angehen, das können wir. Das ist es, was Gotteskinder kennzeichnet: Nicht als Mensch, der erst frei ist, wenn er die Widerwärtigkeiten beseitigt hat, handeln Glaubende. Ein Christenmensch ist schon längst ein freier Mensch auch wenn er aus menschlicher Perspektive unfrei ist, wenn er Schlimmes ertragen muss. Er ist frei in der Bindung an Gott. Er ist Kind der Freiheit auch in Unfreiheit, weil er sich vertrauensvoll in Gottes Hand legen kann. Und aus dieser Freiheit heraus handelt er verantwortungsvoll.
Pranitha Timothy („Liebe ohne Grenzen. Gottes leise Stimme für die Unterdrückten“), eine junge Frau, die in der Befreiung von Sklaven in Indien sehr engagiert ist, entdeckte in den Freiheitsworten Jesu etwas ganz Besonderes: Wenn Menschen von Jesus Christus innerlich befreit werden, dann handeln sie auch als freie Menschen – und setzen sich für die Befreiung anderer ein.
Jesus Christus ist der ganz große Befreier. In der Tradition wird er darum „Retter“, „Erlöser“, „Heiland“ genannt. Diese kleine Geschichte am Rande des Feldes ist nur ein kleines Mosaiksteinchen der großen Freiheitsbewegung, die er ausgelöst hat. Wie wunderbar ist es, ihn kennen zu dürfen.