Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht im Johannesevangelium im 9. Kapitel:
Es kam vor Jesus, dass sie den Blinden, den Jesus geheilt hatte, aus der Gemeinschaft ausgestoßen hatten.
Und als er ihn fand, fragte er: Glaubst du an den Menschensohn?
Er antwortete und sprach: Herr, wer ist’s?, dass ich an ihn glaube.
Jesus sprach zu ihm: Du hast ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist’s.
Der Blinde aber sprach: Herr, ich glaube, und betete ihn an.
Und Jesus sprach: Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, damit, die nicht sehen, sehend werden, und die sehen, blind werden.
Das hörten einige der Pharisäer, die bei ihm waren, und fragten ihn: Sind wir denn auch blind?
Jesus sprach zu ihnen: Wärt ihr blind, so hättet ihr keine Sünde; weil ihr aber sagt: Wir sind sehend, bleibt eure Sünde.
Soweit der Predigttext.
Jesus hatte einen Blinden geheilt. Da aber die Gegner Jesu nicht wahrhaben wollten, dass Jesus wirklich heilen konnte, wollten sie, dass der Blinde hoch und heilig verspricht, dass er gar nicht wirklich blind gewesen sei. Doch der Blinde bestand darauf: Er hat mich geheilt! Und daraufhin schlossen sie ihn aus der Gemeinschaft aus.
Das erleben wir bis heute: Was der Mensch nicht sehen will, das sieht er nicht. Und das kennzeichnet vor allem so genannte Ideologen. Ideologen sind Menschen, die es mit der Welt gut meinen, aber nur ihren eigenen persönlichen kleinen Ausschnitt von Welt wahrnehmen. Sie sagen: Ich stelle mir die Welt in einer ganz bestimmten Weise vor – also ist sie so wie ich sie mir vorstelle. Und alle anderen müssen nun gezwungen werden, sich meiner Weltvorstellung anzupassen. Wir kennen das von den großen Ideologien, dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus/Sozialismus, wir kennen das von großen und kleinen Religionen, vom Christentum im Mittelalter bis zum Islam, wir kennen das von einzelnen Parteien: „Meine Vorstellung von Welt stimmt, also musst du dich anpassen oder die harten Konsequenzen tragen. Und sage ja nicht, dass wir es böse mit dir meinen, du selbst bist Schuld daran, wenn wir dich hart behandeln müssen.“
Diese Vorgehensweise nennt man Intoleranz. Menschen lassen anderen Menschen, die anders denken, leben, die auf ihre Weise die Welt sehen, keinen Raum. Darum müssen diese widerstrebenden Menschen erzogen werden – und all das im Namen des Guten, des Göttlichen, der Natur, der Schöpfung, des sozialen Miteinanders.
Wir sehen am Predigttext, dass das kein Kennzeichen unserer gegenwärtigen Zeit ist, das gab es schon immer: Wer nicht mit der Herde mitmacht – muss die Konsequenzen tragen: Im Namen Gottes, im Namen des Volkes, im Namen der Umwelt, im Namen der Partei.
Sehen – was ist sehen? Sehen gehört zu unseren Sinnen: hören, sehen, fühlen, schmecken, riechen. Das sind wunderbare Fähigkeiten, wunderbare Gaben, damit wir uns in der Welt zurechtfinden. Sinne sind die Tore zur Welt. Ohne sehen zu können bleibt alles dunkel, ohne hören zu können bleibt alles stumm, ohne Riechen bleibt alles fade – schmecken hängt damit zusammen, ohne Fühlen… – was ist die Welt ohne Fühlen? Die Sinne helfen uns, das Leben zu retten vor üblem Essen, üblen Menschen und Tieren, und sie helfen uns, Schönheiten wahrzunehmen. Die Sinne bringen das Draußen in uns hinein, lassen uns aufleben, sie brechen uns heraus aus unserem dunklen, engen Kokon. Die Sinne sind wie die Fensterläden, die Rollläden, die wir am Morgen öffnen, damit die Welt für uns hell und lebendig werden kann.
So schön sie sind: Unsere Sinne können uns auch sehr täuschen. Etwas, das übel schmeckt, kann uns heilen, etwas, das uns schmerzt, kann gut für uns sein. Obwohl es gut für uns ist, scheuen wir diese Dinge, haben Angst davor, weil unsere Sinne uns warnen. Oder wir sehen etwas – und sehen es gleichzeitig nicht. Das kommt vor allem beim Suchen vor. Das Gesuchte liegt vor den Augen – aber wir suchen und suchen… und sehen es nicht.
Sinne können uns auch in einer anderen Weise täuschen: Die Welt ist so furchtbar vielfältig – und damit wir nicht überfordert werden, sortiert unser Gehirn Wichtiges von Unwichtigem aus – ohne dass wir es bewusst merken. Unsere Sinne und unser Gehirn können uns täuschen, sie können uns vor Überforderung bewahren – aber gleichzeitig auch täuschen, weil es Wichtiges einfach aussortiert. Das Gehirn ist wie eine Spam-Bekämpfungs-Software. Manchmal sortiert sie auch Lebensnotwendiges aus. So nehmen wir ein wichtiges Wort wahr, sehen etwas Wichtiges – aber im gleichen Augenblick haben wir es vergessen, weil das Gehirn dachte: Das ist nicht so wichtig.
Und so reduzieren wir Menschen unsere Welt. Atheisten – also Menschen, die meinen, es gäbe keinen Gott – sagen: Es gibt keinen Gott – obgleich doch Gottes Fingerspuren überall in der Schöpfung zu sehen und im eigenen Leben wahrnehmbar sind. Religiöse Menschen, wie die Menschen in unserem Text, halten sich starr an alten Traditionen fest. Und weil sie sich starr an alten Traditionen festhalten, Traditionen, die sie von Gott herleiten, nehmen sie nicht wahr, dass Gott sich selbst nicht starr an alten Traditionen hält, sondern weiter geht, Neues bringt, Menschen beglückt – auch wenn die starren Traditionen das nicht erlauben.
Und das sehen wir wunderschön an unserem Predigttext: Menschen halten stur an den Traditionen fest, sie sind blind für das, was Gott an Gutem den Menschen tut – und weil sie stur und blind sind, bekämpfen sie den anderen Menschen, der nicht so denkt, die Welt nicht so sieht wie sie. Selbst Erfahrungen, die sie eines Besseren belehren könnten, beeindrucken sie nicht, und sie sagen: „Meine Welt stimmt, das, was ich mir so vorstelle, das stimmt – alles andere ist falsch und muss bekämpft werden!“ Und dann kommt der Blinde daher und sagt: „Ich war blind, ich kann nun sehen!“ „Nein“, so die Sturen und Starren, „das geht nicht, du warst nicht blind, gib es zu, du täuscht und trügst uns!“ „Nein“, sagt der Blinde, „ich täusche euch nicht, schaut, ich kann sehen!“ „Nein“, sagen die Sturen und Starren, „wir können nicht sehen, dass du geheilt wurdest!“ – und so bleiben die Sturen und Starren blind für das wunderbare Handeln Gottes. Sie sehen nicht ein, dass sie sich ändern müssen, dass sie ihr Weltbild, ihre Weltsicht ändern müssen. Gott, nein, der kann nicht handeln, der greift nicht ein. Wir sind die Sehenden, die den Durchblick haben, die Schlauen – die anderen sind die Blinden, die die Welt nicht richtig wahrnehmen, sie sind die Sünder, die Fehlgeleiteten, die Irrenden.
Diese Auseinandersetzung beschäftigt uns Menschen seit jeher. Wer ist im übertragenen Sinn blind, wer ist sehend? Sind die Atheisten blind oder die Christen? Sind die Modernen, dem Zeitgeist Angepassten blind oder diejenigen, die sich an Gottes Willen halten? Sind die Muslime blind, die Hindus, die Buddhisten oder die Christen? Jeder ruft dem anderen zu: Du bist der Blinde! Du hast keinen Durchblick! Und wir fragen ganz entsetzt mit den Pharisäern: Sind wir denn auch blind? Haben wir denn wirklich keinen Durchblick? Und Jesus spielt mit dem Wort blind und sagt:
Wenn ihr sagen würdet, wir sind blind, dann wären wir sehend.
Weil ihr aber sagt: Wir sehen, darum seid ihr blind.
Was heißt das? Jesus hat, so sehen wir an unserem Text, dem Blinden die Augen geöffnet. Nur Gott selbst kann uns Menschen die Augen öffnen, damit wir wirklich sehen können – und zwar sehen können, wie die Welt ist. Wir müssen uns von Gott die Augen öffnen lassen, von Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde, von Gott, der uns in Jesus Christus seinen Willen mitteilt, damit wir Menschen miteinander menschlich und tolerant umgehen. Wenn wir Menschen uns nicht von Gott die Augen öffnen lassen, dann glauben wir nur, wir seien sehend, wir hätten den Durchblick. Wir sind aber blind – unseren eigenen fehlerhaften Sinnen und dem Gehirn, das falsch interpretiert, verhaftet. Wir Menschen können auch Gefangene unserer Sinne sein, Gefangene unseres Gehirns, unseres Denkens, Gefangene unserer Weltbilder. Darum benötigen wir denjenigen, der uns die Augen öffnet: Gott selbst in Jesus Christus.
Und was hat das für Folgen? Der Blinde wurde aus der Gemeinschaft ausgeschlossen von den Sturen und Starren. In Jesus haben die Frommen Gott beseitigen wollen, weil sie die freie Sicht Gottes fürchteten, sie haben Jesus am Kreuz hingerichtet. Menschen, denen Gott die Augen geöffnet hat, wissen: Mit Gewalt kann man anderen Menschen nicht die Augen öffnen. Mit Gewalt kann man andere nicht aus ihren falschen Vorstellungen von Gott und Welt und Menschen herausholen. Mit Gewalt geht gar nichts, sondern es geht nur, wie Jesus es gemacht hat, mit Liebe, mit Heilung, damit, dem anderen Geborgenheit und Wahrheit und Freiheit und Leben zu schenken. Das ist wahre Toleranz: Anderen, und wenn sie noch so sehr in ihrem Weltenwahn gefangen sind, mit Liebe, Wahrheit, Freiheit, tolerant zu begegnen – und sie im Gebet begleiten. Warum? Damit Gott ihnen ihre Augen öffnen kann.