Markus 12: Diese Witwe – ein Ärgernis

Der für den heutigen Gottesdienst vorgeschlagene Predigttext steht im Markusevangelium im 12. Kapitel:

Und Jesus setzte sich dem Gotteskasten (im Tempel) gegenüber
und sah zu, wie das Volk Geld einlegte in den Gotteskasten.
Und viele Reiche legten viel ein.
Und es kam eine arme Witwe und legte zwei Scherflein ein;
das macht zusammen einen Cent.
Und er rief seine Jünger zu sich und sprach zu ihnen:
Wahrlich, ich sage euch:
Diese arme Witwe hat mehr in den Gotteskasten gelegt als alle,
die etwas eingelegt haben.
Denn sie haben alle etwas von ihrem Überfluss eingelegt;
diese aber hat von ihrer Armut ihre ganze Habe eingelegt,
alles, was sie zum Leben hatte.

Soweit der Predigttext.

Nachdem Jesus gesehen hatte, dass die Witwe diese wenigen Münzen als Spende gegeben hatte, rief er die Jünger zusammen – und die Jünger waren sicherlich gerade mit Wichtigerem beschäftigt. Sie waren damit beschäftigt, sich mit den anderen Frommen zu unterhalten, mit ihnen über Jesus und das Reich Gottes zu reden. Sie sprachen sicherlich zu den Menschen von Jesu großartigen Wundern und was für ein großartiger Mensch er sei – und da störte auf einmal sein Ruf: Kommt mal alle her! Und sie rennen zu Jesus und denken: Das wird wichtig, was er uns zu sagen hat! Und sie nehmen die anderen Frommen mit zu Jesus, auch sie sind ganz begierig zu hören, was Jesus nun an großartiger Weisheit zu verkünden hat – und siehe da! Er spricht von einer armen Witwe. Witwen in der damaligen Zeit waren ausgenutzt und alleingelassen, wir hören gleich davon – und über sie will Jesus mit seinen Jüngern sprechen?! Und dann sagt er ihnen, dass diese Frau so wenig Spenden gegeben hat. Und Jesus lobt diese Frau. Sie hat alles gegeben, was sie hatte – und das ist lobenswerter als das viele Geld, das die Reichen einlegen. Sie gibt alles – die Reichen geben von ihrem Überfluss. Um ihnen das zu sagen, hat Jesus sie zusammengerufen?

Ja, um ihnen das zu sagen, hat er sie herbeigerufen, hat er sie gestört in ihren wichtigen Gesprächen. Um ihnen das zu sagen. Um uns das zu sagen, stört er auch uns. Diese Frau stört. Sie stört schon die gesamte Kirchengeschichte hindurch. Sie ist ein Ärgernis. Meine Tausende Euros, Dollars, Pfund die ich spende – die sind soviel Wert wie die Cents eines armen Menschen? Diese Frau ist ein Ärgernis für die Kirche: Die Spende eines armen Menschen ist wichtiger als die vielen eingenommen Tausende der Reichen? Sollen wir uns mit Cents zufriedengeben? Und das ist nicht alles. Diese Frau stört in noch einem anderen Maße: Sie gibt das Geld in den Gotteskasten – das bedeutet: Sie gibt Gott alles. Sie gibt es Gott, nicht den Menschen. Sie gibt es für Gott hin, damit Opfer gebracht werden können. Oh, Jesus, möchten wir sagen: Warst Du nicht gegen das Opferbringen? Soviel diese Geschichte von der Frau zeigt, so sehr zeigt sie uns auch Jesus – einen störenden Jesus. Es ist dieses sorglose Leben: Wie die Frau nicht darum sorgt, wie sie überleben kann, denn sie hat ja alles gegeben, so lebt auch Jesus. Sorglos. Wie diese Frau ihr weiteres Leben ganz im Gottvertrauen führt, so führt es auch Jesus. Gott ist der Mittelpunkt. Um ihn dreht sich alles. Er wird geben, er wird nehmen, er wird geben. Wie sehr verschreckt uns dieses ungeheure Gottvertrauen. Es verschreckt uns, weil wir es nicht haben – aber auch Angst davor haben, uns ganz Gott auszuliefern. Und noch etwas verschreckt: Die Frau zögert nicht lange. Sie gibt einfach das, was sie hat, hin. Und genauso ist Jesus. Darum nennen wir ihn den großen Liebenden, den vollkommen Liebenden – weil er sich ohne viel zu überlegen den Menschen zuwendet. Einfach so, ohne zu überlegen: Schickt sich das? Hat der Mensch das verdient? Glaubt er auch an mich? Wird er mich veraten? – All das kümmert ihn nicht, er wendet sich von ganzem Herzen dem anderen zu.

Und weil Jesus so ist, kann er auch hart sein. Ich lese den Text vor, der diesem Ereignis vorangeht:

Und Jesus lehrte sie und sprach zu ihnen:
Seht euch vor, vor den Schriftgelehrten,
die gern in langen Gewändern gehen und lassen sich auf dem Markt grüßen
und sitzen gern obenan in den Synagogen und am Tisch beim Mahl;
sie fressen die Häuser der Witwen und verrichten zum Schein lange Gebete.
Die werden um so härteres Urteil empfangen.

Soweit der Text. Auch ein harter Text. Er gehört zu dem anderen dazu, wie ein Zwilling zum anderen gehört. Heuchelei unter Menschen ist das, was Jesus nicht vertragen kann. Was er nicht vertragen kann, ist auch, vor Gott zu heucheln – lange Gebete führen, statt Vertrauen zu haben, wie es aus dem Herzen der Witwe sprudelt. Was er nicht vertragen kann ist, wenn Menschen erniedrigt werden. Und auch hier heuchelt Jesus nicht. Auch hier hält er mit dem, was er denkt, nicht zurück. Er ist ein harter Kritiker – weil er ein vollkommen Liebender ist. Und als solcher haben Menschen ihn dann auch hingerichtet. Und bemerken Sie die scharfe Provokation? Die Kritisierten denken, dass es sich nicht gehört, sie mit den Worten bloßzustellen: sie sitzen obenan am Tisch beim Mahl – doch dann geht Jesus noch weiter!: Sie sitzen obenan bei dem Mahl, bei dem die Häuser der Witwen gefressen werden. Gefräßig in jeglicher Hinsicht sind Menschen, die die Macht dazu haben, Menschen, denen nicht auf die Finger geklopft wird, Menschen, die nicht aus dem Gottvertrauen heraus leben. Weil Menschen ohne Gottvertrauen leben, darum müssen sie raffgierig sein, darum müssen sie Geld einheimsen wo es nur geht. Und wann kann man besser Geld einheimsen? Wenn man bekannt ist, wenn man an den Schalthebeln der Macht sitzt. Denken wir nicht allein an Politiker, wie es zur Zeit üblich ist, sondern auch an die kleinen Schalthebel der Macht – bis in unsere Häuser hinein. Kein Gottvertrauen haben, ist die Wurzel allen Übels. Gottvertrauen ohne alles Wenn und Aber – das ist auch die eigentliche Bedeutung des Wortes „Glauben“. Wenn wir sprechen: ich glaube an Gott, dann heißt das: Ich habe Vertrauen zu Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde; wenn wir sagen: Ich glaube an Jesus Christus, dann heißt das: Ich habe Vertrauen zu Jesus Christus, der sich aus Liebe für uns Menschen, für mich töten ließ.

Doch trägt Gottvertrauen? Wie oft wurde unser Gottvertrauen enttäuscht! Müssen Menschen nicht etwas zu ihrem Glück beitragen? Wir kennen diese Worte von uns selbst. Sehen Sie, wie unter der Hand Wohlergehen mit „Gottvertrauen“ verbunden wird? Gottes Handeln wird daran gemesssen, ob es mir gut geht oder nicht. Gottes Handeln wird daran gemessen, ob ich gesund bin oder nicht, weitergeführt: ob ich reich bin oder nicht. Gottes Handeln wird daran gemessen, ob ich mich mit anderen Menschen verstehe oder nicht. Und da ist die Frau unseres Predigttextes auch ein Ärgernis. Gottvertrauen ist etwas ganz anderes: Es geht um Gott, es geht nicht um mich. Gott ist mein Mittelpunkt. Ich weiß, dass er mich liebt – und wenn ich das weiß, dann wird von hier aus meine Krankheit gesehen, sie wird in Gottes Hand gelegt. Ich weiß, dass er mich liebt – von hier aus wird meine Not gesehen, sie wird in Gottes Hand gelegt. Ich weiß, dass Gott mich liebt – von hier aus wird das Verhältnis zu meinen Mitmenschen gesehen – und sie werden in Gottes Hand gelegt. Jesus dreht alles um. Alles. Was groß erscheint, mein Ich, mein Wohlergehen, das wird auf einmal ganz klein. Und das ist ärgerlich. Nicht allein für die geld- und häuserfressenden großen und kleinen Mächtigen, für alle Menschen.

Die Besonderheit unseres Textes wird auch noch aus einem ganz anderen Gesichtswinkel sichtbar. Wenn Sie ein Buch aufschlagen, das diesen unseren Predigttext in den Mittelpunkt stellt, dann lesen Sie, dass es in der Antike einige Beispiele dafür gibt, die das aussagen, was unser Text auch sagt. Eine arme Witwe bzw. Frau wird in den Mittelpunkt gestellt und als Vorbild vor Augen gemalt. Daraus folgt dann der Schluss: Der Text ist nichts Besonderes. Es ist ein Text, der im Laufe der Zeit in die Jesuserzählungen eingeschmuggelt worden ist. Ich habe zu Hause einen Text gefunden, der mit diesem Text verglichen werden kann. Wir finden ihn bei dem römischen Schriftsteller Horaz. Dort heißt es im Gedicht „Das Opfer der armen Bäuerin“:
„Legst auf den Altar fromm du die reine Hand, /
Das reichste Opfer brächte nicht mehr dir ein: /
Geweihtes Mehl, ein knisterndes Salzkorn /
Rühren des Hauses erzürnte Götter.“ (Oden 3, 23)
Soweit die Strophe aus dem Gedicht. Mit eigenen Worten wiedergegeben: Auch wenn du nur wenig den Göttern opfern kannst, sie werden dich dennoch erhören und dein Haus beschenken. Merken Sie den Unterschied, den gravierenden Unterschied zu den Worten Jesu? Die Frau, von der Jesus spricht, legt ihr Geld in den Opferkasten. Und wie Jesus es versteht, geht es nicht darum, dass sie das tut, damit sie mehr von Gott bekommt – also anders als die Bäuerin bei Horaz. Die Witwe handelt so, weil sie im Gottvertrauen Gott alles gibt was sie hat. Und die geldfressenden Menschen, die andere Missachten, Menschen, die das Geld in den Vordergrund ihres Lebens stellen, die haben eben dieses Gottvertrauen nicht. Sie können ihr Leben nicht Gott anvertrauen. Immer mischen sie selbst mit. Wir haben dieses Gottvertrauen nicht.

Und hier merken wir, was für ein Ärgernis dieser kleine Text bedeutet. Die Frau ist uns ein Ärgernis, weil sie uns immer vor Augen führt: Es gibt ein solches Gottvertrauen im ganz normalen Alltag. Wir können uns nicht mehr rausreden. Jesus ist uns ein Ärgernis, weil er die Hürde für unseren Glauben so hoch legt, indem er sagt, dass Gott der Mittelpunkt des Lebens sein soll und nicht unser Wohlergehen, dass von diesem Mittelpunkt aus auch die Liebe zu anderen Menschen ausgeht, und nicht von unserer eigenen Kraft, unserem Mitleid, unserer Liebe. Ärgerlich, ärgerlich, ärgerlich.

Ein Mann, der mit diesem Gottvertrauen Jesu konfrontiert wurde, konnte zu Jesus nur sagen: Ich glaube – doch hilf meinem Unglauben. Ich vertraue Gott – doch bekämpfe meine Vertrauenslosigkeit. Das ist keine billige Ausflucht, sondern ein Verzweiflungsschrei: Wir wollen doch – aber können nicht.

Wie gut, dass wir in Gottes Liebe eingebettet sind, so dass er selbst unsere Vertrauenslosigkeit erträgt, trägt und umwandelt.