Matthäus 2,13-23: Gott bringt Leiden

Der für heute (30.12.) vorgeschlagene Predigttext steht im Matthäusevangelium im 2. Kapitel:

Als die Weisen aber hinweggezogen waren, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir’s sage; denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen. Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich nach Ägypten und blieb dort bis nach dem Tod des Herodes, auf dass erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht (Hosea 11,1): »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.«

Als Herodes nun sah, dass er von den Weisen betrogen war, wurde er sehr zornig und schickte aus und ließ alle Knaben in Bethlehem töten und in der ganzen Gegend, die zweijährig und darunter waren, nach der Zeit, die er von den Weisen genau erkundet hatte. Da wurde erfüllt, was gesagt ist durch den Propheten Jeremia, der da spricht (Jeremia 31,15): »In Rama hat man ein Geschrei gehört, viel Weinen und Wehklagen; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen.«

Soweit der Predigttext.

Christen haben nicht den Anspruch, das Leiden zu erklären, sie haben nicht den Anspruch, die Warum-Frage zu lösen. Sie haben aber den Anspruch, zu helfen, Leiden zu bewältigen.

Viele fragen angesichts dieses und anderer Texte: Ist das historisch alles wirklich so geschehen? War es so? War es nicht so? Wie dem allem auch sei: Matthäus kam es auf etwas anderes an als auf historische Fragen. Evangelisten wollen uns auf etwas ganz anderes hinweisen. Was ist dieses andere? Wenn Sie einen Teppich auf der Oberfläche ansehen, dann sieht er wunderschön aus. Wenn sie ihn umdrehen, kann man Wesentliches erkennen: Wie er gemacht wurde usw. Und so drehen wir die Texte der Evangelisten einmal um und lesen die Geschichten einmal mit den Augen der frühen Christen.

Wo Gott auftritt verstummt nicht das Leiden, im Gegenteil: Die Geburtsgeschichten in den Evangelien wimmeln nur davon, zu erzählen, wie viel Leiden Gott den Menschen zumutet, welches Leiden Menschen einander zumuten.

  • Was musste das junge Mädchen Maria leiden, wenig über 12 Jahre alt, bekam sie auf einmal ein Kind – so zeigen es uns die Evangelisten – und das bedeutet in der Regel: Tötung, Verbannung aus dem gewohnten Umfeld. Aus diesem Grund flieht sie auch, so hören wir im Lukasevangelium zu ihre Tante, weit weg von Nazareth.
  • Was musste Josef leiden, welche inneren Kämpfe musste er ausstehen: Bleibe ich bei Maria? Lade ich die Schande auf mich? Laste ich die Schande oder Spott mir auf?
  • Der ungläubige, der zweifelnde Zacharias musste leiden, der Priester verstummte, weil sein enges Weltbild Gottes Handeln entgegenstand.
  • Just zu der Zeit hat der Kaiser Augustus im fernen Rom, so sieht es der Evangelist Lukas, eine Volkszählung ausgerufen. Das bedeutete: Wenn man nicht mehr in der Stadt seiner Vorfahren lebte, musste man dahin ziehen – und die hoch schwangere Maria musste sich auf den beschwerlichen Weg machen. Herrscher sind rücksichtslos in ihren Vorhaben. Die kleinen Leute müssen leiden, wenn den Herrschern danach ist.
  • Wo bringen wir unser Kind zur Welt, damit es ihm gut geht? Damit die Mutter überlebt? Diese Frage dürfte Maria und Josef sehr beschäftigt haben in einer Zeit, als die Mutter- und Kindersterblichkeit sehr hoch war. Dann war kein Raum mehr in der Herberge. Die erste Geburt – hier, an diesem Ort? Es kann einem Angst und Bange werden, wenn wir uns in Maria hineinversetzen.
  • Als das Kind dann zur Welt gekommen war, erregte es den Zorn des Herrschers Herodes. Herrscher und ihre Anhänger sind immer erregt, erregt, wie Löwen, wenn es um ihre Herrschaft geht, grausam wie Löwen vernichten sie alles, was ihnen und ihren Jungen in die Wege kommen könnte. Und so ist auch Herodes der Todesbringer über zahlreiche Kinder. Er ließ eigene Söhne hinrichten und Jugendliche, die ihn kritisierten.
  • Die Weisen aus dem Morgenland, müssen leiden. Warum? Hätten sie dem Herodes verraten, wo Jesus geboren wurde, wären die Kinder gerettet worden. Einer stirbt für alle – Jesus wird für alle sterben – aber erst müssen alle für ihn sterben, damit er gerettet wird. Mit dieser schweren Last müssen die Weisen weiter leben.
  • Dann müssen sich die von der Geburt geschwächte Maria und Josef auf den Weg machen. Auf den Weg, auf die Flucht. Ihr kleines soeben geborenes Kind hat schon Teil an den Grausamkeiten der Welt.

Warum habe ich das so ausführlich dargelegt? Weil wir die Geschichte, die sich hinter den Geburtsgeschichten verbirgt, meistens verklärt wahrnehmen. All das Leiden, auf das die Evangelisten uns hinweisen, all das Leiden im Hintergrund spielt kaum eine Rolle. Es wird vom wunderbaren Ergebnis her verklärt: Es hatte ja auch alles einen wunderbaren Ausklang: das wunderbare Wirken Jesu und die Auferstehung. Aber wenn Gott in die Welt der Menschen hineintritt, dann verlangt er von seinen Menschen sehr viel – vor allem auch darum, weil das Licht, das er bringt, die Finsternis zurückschlagen lässt. Die Not, das Leid, das Böse hassen das Licht, will die Helligkeit vertreiben, fühlen sich unwohl, so bekämpfen die Menschen, die die Finsternis mehr mögen als das Licht, die Menschen Gottes. Manchmal merken wir es selbst, wenn wir in Finsternis versinken, dass wir keine Lust haben auf das Licht, dass wir Gutes zurückweisen, dass wir es verspotten, dass wir es einfach nicht hören wollen. Finsternis der Seele schließt uns ein, verschließt uns vor dem Licht.

Das wollen uns die Evangelisten zeigen: Wenn Gott in die Welt tritt, dann ist nicht nur Leuchten vorhanden. Dann wird es blutiger Ernst. Dieser blutige Ernst wird dann letztlich auch am Sterben Jesu deutlich.

Gott bewahrt nicht vor dem Leiden – aber Gott hilft das Leiden zu bewältigen. Mögen es Engel sein, mögen es Menschen sein, mögen es Träume sein, Gott steht Menschen bei, gibt ihnen Führung, gibt durch diese Zeichen Kraft und Mut, sich auf den Weg zu machen, trotz eigener Schwäche, eigener Ängste, eigener Wehrlosigkeit.

Gott bringt in das gefährdete Leben hinein einen ganz neuen Ton: den Ton der Freude. Warum gibt es die Finsternis, das Leiden? Das zu erklären, dazu verschwenden die Evangelisten keinen Moment. Aber sie erklären, dass in diese Finsternis Gott hereingebrochen ist. In ihr muss man mit Gott rechnen. Diejenigen, die mit Gott rechnen, die sind nicht vor Leiden gefeit, nicht vom Leiden befreit. Im Gegenteil. Aber für sie ist das Leiden aus einem neuen Blickwinkel zu sehen.

  • Maria muss leiden – aber Gott hat an ihr gehandelt! Gott! Er ist nicht fern, undurchdringlich – er handelt! Gott selbst!
  • Josef muss leiden – aber Gott hat er in seinem Traum wegweisend erfahren! Gott! Er ist nicht tatenlos, er wählt Menschen aus, sich mutig und klug dem Leiden entgegen zu stemmen.
  • Die Weisen haben Leiden auf sich genommen – aber sie haben Gottes Handeln, Gottes Gesicht in dem Kindlein Jesus gesehen!
  • Die Hirten müssen wieder zurück in ihren Alltag – aber sie haben gesehen: Unser Tun hat Sinn, Gott hat uns emporgehoben, er hat uns als ganz wertvoll angesehen! Gott!

So ist das Leiden allgegenwärtig – es wird nicht erklärt, aber durch die Kindheitsgeschichten helfen Matthäus und Lukas, das Leiden angesichts der Finsternisse, angesichts des Alltags zu bewältigen. Gott handelt. Warum er handelt wie er handelt, das ist irrelevant. Wenn Menschen auf Gott sehen, dann ist allein Gott wichtig. Nicht mehr all die Warums.

Und so haben wir in dem vergangenen Jahr vielleicht eine Menge einstecken und wegstecken müssen. Manche von uns wurden so gebeutelt, dass sie kaum mehr ein und aus wussten. Rätsel, Fragen, Krankheiten, Todesfälle, Sorgen, Befürchtungen und Einsamkeiten, eigenes Verhalten liegen hinter so manchen von uns hier und heute. Lebensumbrüche: Gerade war noch alles sehr schön und gut, wie bei der jungen Maria, wie beim Josef, wie bei den Weisen, den Eltern der Kinder, die getötet wurden – aber dann von Jetzt auf Gleich brach eine neues Leben an – vielfach mit Schwierigkeiten und großem Leid verbunden. Sinnbildlich wird es an den Opfern des Tsunami in Indonesien deutlich: Sie leben ihr Leben, sie feiern und tanzen – und mitten in dieses normale Leben bricht die Katastrophe hinein. Mir hat sich in diesem Jahr besonders dieses Bild eingebrannt: In Indonesien, so zeigt ein Video, ist bunter Trubel – dann auf einmal ein Krachen – alles ist zerstört. Oder die beiden jungen Frauen in Marokko: Die Dänin und die Norwegerin, die vor einer Bergtour Nachts schlafen, sie werden von Terroristen überfallen und bestialisch ermordet. Vielleicht haben sich bei Ihnen andere oder ähnliche Bilder eingebrannt, selbst erlebt, oder eben vom Leben anderer wahrgenommen.

Von jetzt auf gleich kann alles anders werden. In diese Finsternisse hinein wurde Gott Mensch. Jesus Christus ist nicht in einem behüteten Raum geboren worden, Ängste seiner Mutter und ihr fester Glaube, Sorgen des Vaters und sein fester Glaube, der Beistand Gottes, der nicht vor dem Bösen bewahrt, aber in dem Bösen Wege weist, Kraft gibt, das musste das soeben geborene Kindchen erleben. Gott kommt in das Chaos der Menschen, in die Welt, in der brutale Herrscher und Gruppen die Macht mit allen Mitteln an sich reißen. In diese Welt hinein kommt Gott, nicht in die heile Welt fröhlicher Weihnacht. Und weil er in diese Finsternis hinein kam, hilft er sie auch bewältigen. Nicht mit klugen Worten, die das Leiden erklären wollen, sondern mit der Gewissheit: Gott ist bei mir, er ist mit mir über das Sterben hinaus, er trägt mich durch alles hindurch und führt mich heim zu sich.

Was liegt hinter uns? Leiden – gewiss – aber auch: die Bewältigung des Leidens. Aus dieser Erfahrung, dass wir sehr viele Leiden bewältigt haben, können wir auch davon ausgehen, dass wir im kommenden Jahr Leiden zu bewältigen in der Lage sind. Warum Angst? Warum Sorgen? Der Glaube ist der Sieg, der diese zu überwinden vermag. Vom Vertrauen der jungen Maria, die sich ganz in Gottes Hand gelegt hat und mit diesem durch alles hindurchgehen konnte, was an Abgründen sich auftat und an Gefährdungen sie umbrandeten – von diesem Vertrauen können wir uns leiten lassen. Denn Maria und Josef haben es mit denselben Gott zu tun, mit dem auch wir zu tun haben. Den Gott, der aus Liebe Mensch geworden ist, der in die Dunkelheiten hereinkam, um uns in den Lebensdunkelheiten zur Seite stehen zu können. Und selbst in den Finsternissen, aus denen wir selbst nicht ausbrechen können, weil wir uns in sie einrichten, weil wir das Licht – auch das Licht Gottes meiden – werden wir von unserem Gott getragen. Wir mögen Gott zurückweisen, wie Herodes, wir mögen damit unendlich viel Leiden hervorrufen. Wir sind Gott nicht fremd. Vielleicht schaffen wir es, einen Spalt zu öffnen, um dieses Licht Gottes, das uns umgibt einzulassen. Herodes hat es, soweit wir wissen, nicht geschafft. Er ist in seiner Finsternis gestorben. Aber Gott lässt sich durch solche Finstermenschen nicht von seinem Vorhaben abbringen. So wurde Jesus Christus zum Erlöser, zum Retter von Sünden.

Das sehen wir alles auf der Unterseite unseres Teppichs. Nun drehen wir den Teppich um und schauen auf seine wunderschöne Oberseite: Der liebende Gott handelt in dieser Welt wunderbar. Vielleicht ist es Ihnen auch möglich, den Lebensteppich umzudrehen und das wunderbare Handeln Gottes durch alles Leiden hindurch zu erkennen. Vielleicht gelingt es Ihnen, einen Lichtstrahl Gottes in die Finsternisse ihres Lebens einlassen zu können. Bitten wir ihn darum.

Ehre sei Gott. Amen.

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Einige Anmerkungen:

Ich war nicht in der Lage, die Theodizee-Frage angemessen zu behandeln, was notwendig gewesen wäre, wenn man den Kindermord ins Zentrum stellt.

Eine platte Historisierung des Textes, nach dem Motto: Jesus musste fliehen – also unterstützt Flüchtlinge – halte ich auch nicht für angemessen, weil man dann – mit Blick auf heute – die Frage stellen müsste, warum emigrieren Menschen, statt sich für eine bessere Zukunft des eigenen Landes einzusetzen (natürlich nicht bei politischer, religiöser usw. Verfolgung). Auch halte ich eine plumpe Ethisierung des Textes für nicht angemessen, weil es dem Text darum nicht geht.

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Nicht nur Jesus Christus ist das Thema dieser Texte. Es sind wir Menschen. In unserem Bezug zu Gott, in unseren Machtanmaßungen, unserer Verletzlichkeit, unseren Hoffnungen, unserem Alltag. In dieses unser Leben bricht Gott herein – er bestimmt es neu. Er eröffnet ganz neue Welten.