Psalm 137: Aus anderer Perspektive lesen

Psalm 137 (Predigt in der Reihe: Bitte stolpern – schwer zu verstehende Texte der Bibel)

Ich habe mir diesen Predigttext für die Reihe ausgesucht, weil ich schon immer über ihn gestolpert bin. Und darüber eine Predigt halten zu müssen, ist gut, denn dann wird man gezwungen, sich intensiv mit dem, was einem stört, auseinanderzusetzen.

Die biblischen Texte haben etwas Eigenartiges an sich: Sie kennen das Wort mit dem Finger: Wenn ich mit dem Finger auf einen Menschen zeige, zeigen drei auf mich zurück. Wenn ich jemand anklage, ihn niedermachen möchte, dann bin ich der dreifach Angeklagte, Niedergemachte. Das geschieht auch, wenn wir anklagend auf Bibeltexte zeigen, um sie zu verurteilen. Was ich damit meine, das wird im Laufe der Predigt deutlich. Der Predigttext:

An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten.
Unsere Harfen hängten wir an die Weiden im Lande.
Denn dort hießen uns singen, die uns gefangen hielten, und in unserm Heulen fröhlich sein: »Singet uns ein Lied von Zion!«
Wie könnten wir des HERRN Lied singen in fremdem Lande?
Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde meine Rechte vergessen.
Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wenn ich deiner nicht gedenke, wenn ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein.
HERR, vergiss den Söhnen Edom nicht den Tag Jerusalems, / da sie sagten: »Reißt nieder, reißt nieder bis auf den Grund!«
Tochter Babel, du Verwüsterin, wohl dem, der dir vergilt, was du uns getan hast!
Selig ist der, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert!

Soweit der Predigttext.

Der Text ist brutal. Er ist grausam. Was uns heute vor allem sehr grausam vorkommt: Es ist davon die Rede, dass Kinder ermordet werden sollen. Es wird sogar gesagt, dass derjenige der Kinder am Felsen zerschmettert, selig ist, das heißt, von Gott anerkannt werden wird.

Es stellt sich nicht nur die Frage, wie ein solcher brutaler Text in die Bibel hineinkommt, sondern: Wie kann einer nur so etwas formulieren?

Gewalttätige Texte sind Ausdruck einer gewalttätigen Zeit. Und der Mensch, der diesen Text geschrieben hat, lebte in einer brutalen Zeit, einer Zeit, in der Israel von den Babyloniern besiegt und versklavt worden war. Juden waren der Willkür der Sieger ausgeliefert. Viele Texte aus dieser Zeit geben die Grausamkeiten wieder, denken Sie nur an die Geschichte von Daniel der in die Löwengrube geworfen wurde, an die historischen Texte, die davon sprechen, dass den Herrschern die Augen ausgestochen wurden, an Texte, die Pogrome gegen Juden sichtbar werden lassen – es ist eine furchtbare Zeit gewesen. In einer solchen Zeit kocht in einem Menschen der Zorn, der Wunsch nach Rache. In einer solchen Zeit wünscht man sich Gott auf seiner Seite, damit man machtvoll den Feind besiegen kann.

Aber warum sollen gerade Kinder, wehrlose Kinder zerschmettert werden? Kinder sind die kommende Generation an Gewalttätern. Kinder sind die kommenden Soldaten, Sklaventreiber, die grausamen Herren. Und wenn ein Volk keine Kinder mehr hat, dann ist es schwach. Dann hat es keine Durchsetzungskraft mehr. Das gilt auch für brutale Völker: Wenn es keine Kinder mehr hat, dann sind die unterdrückten, unterjochten, versklavten Menschen frei. Darum werden in vielen alten Texten auch so die Jungs und die Männer betont: Ein Familienclan, der viele Söhne und Männer hatte, konnte sich behaupten unter den Clans – aber wenn er bösartig war, konnte er die schwächeren Clans ducken, erniedrigen. Kinder sind also äußerst wichtig für ein Volk, wenn es sich behaupten möchte. Kinder sind, wie wir in der ersten Predigt dieser Reihe gehört haben: Zukunft. Wenn die Kinder genommen werden, gibt es für dieses Volk, für die Unterdrücker, für die Feinde keine Zukunft mehr.

Weil Kinder Zukunft sind haben es auch bis in unsere Moderne hinein Ideologien immer auf die Kinder abgesehen. Heute bringt man sie nicht um, man versucht es auf andere Weise: Die Nationalsozialisten versuchten durch Kinder- und Jugendorganisationen die Kinder zu gewinnen, damit sie aus dem Einflussbereich der Eltern herausgebrochen werden. Genauso versuchten die Kommunisten mit ihren Kinder- und Jugendorganisationen die Kinder umzuerziehen, in ihre Ideologie hinein zu erziehen. Und wenn wir für unsere Zeit hellhörig geworden sind, merken wir auch hier immer wieder Bestrebungen einzelner extremer Gruppen, die Kinder zu erreichen, um sie umerziehen zu können.

Damit haben wir die Zeit ein wenig in den Blick bekommen und die Frage geklärt: Wie sah es damals aus, in der Zeit, in der der Text geschrieben wurde.

Jetzt kommen wir selbst in den Blick. Wir haben auf den Text mit dem Finger gezeigt – nun merken wir: drei Finger zeigen anklagend zurück:

Warum finden wir den Text grausam? Nicht allein darum, weil es um Kinder geht, sondern weil es überhaupt darum geht, dass Menschen umgebracht werden sollen. Feinde sollen umgebracht werden. Haben wir nicht vom Feindesliebegebot Jesu gehört? Wir sind empört über so einen Text, wir, die wir in einer friedlichen Zeit leben. In einer Zeit, in der wir unser Leben weitgehend so einrichten können, wie wir es wollen, wir haben kaum Bedrängnisse, kaum unter Willkür anderer zu leiden. Uns geht es gut. Selbstbewusstsein, Selbstbehauptung steht in allen psychologischen und anderen Kursen ganz oben an. Du bist wer, du bist groß, du bist der Beste – und du kannst dich auch entsprechend selbstbewusst verhalten. Wir leben damit in einer Ausnahmezeit. Und wir, denen es als ein sehr, sehr großes Geschenk gegeben wurde, in einer so friedlichen Zeit zu leben, überheben uns über Menschen, die in einer grausamen Umwelt leben müssen? Wir sind so voller Liebe für alles Mögliche, und so Herz erweichend offen für alle möglichen guten Taten – dass wir überheblich werden gegenüber Menschen, denen es nicht so gut geht. Die Arroganz, der Hochmut von uns heutigen Mitteleuropäern, denen es gut geht wie nie, denen es so gut geht, wie nicht einmal den Kaisern und anderen Herrschern der Antike – wir maßen uns an, andere zu beurteilen. Und dieser Hochmut wird auch heute weltpolitisch immer wieder deutlich: Wir gehen in die Welt hinein und machen Herrschern anderer Länder und Kulturen Vorschläge, wie sie am besten regieren können. Wir üben wirtschaftlichen Druck auf sie aus, wenn sie nicht unseren modernen Vorstellungen gemäß handeln. Manchmal sitze ich vor dem Fernseher und denke mir: Was für eine Überheblichkeit!

Denken wir uns jetzt in die Menschen hinein – sagen wir eines Landes wie dem Kongo. Wie gehen die mit diesem Text um? Sie verstehen ihn. Sie verstehen, was bei einem Menschen für Rachegefühle aufkommen können. Irgendwelche barbarischen Gruppen und Clans versuchen die Oberherrschaft zu bekommen, sie überfallen wahllos Stämme, ermorden die Männer, vergewaltigen die Frauen, rauben die Kinder, um sie zu Soldaten zu machen oder als sexuelle Gespiele zu haben, verkrüppeln die Menschen, indem sie die Körper schänden und kaputte Menschen an Leib und Seele auf ihren Raub- und Kriegszügen hinterlassen. Erst neulich gab es wieder äußerst brutale Hinweise darauf, die ich Ihnen ersparen möchte.

Wenn wir diesen Psalm lesen, lesen, dass Menschen gezwungen wurden fröhliche Lieder zu singen in barbarischem Umfeld – wer denkt da nicht an die Konzentrationslager der Nationalsozialisten, in denen Inhaftierte zum Spaß der Aufseher Musik spielen mussten?

Wie lesen all diese Menschen den Text aus Psalm 137? Als Befreiung. Ja, Gott, zerstöre die Macht dieser Gewalttäter, dieser Barbaren, die uns und unseren Lieben das Leben zerstören. Ja, Gott segne den Menschen, der Widerstand leistet, der die Vernichter vernichten kann! Gott, lass diese Zeit endlich herbeikommen, in der die Menschenverächter vernichtet werden!

Können wir diesen Text jetzt ein wenig besser verstehen? Ein ganz klein wenig? Wir sprechen so viel vom liebenden Gott. Aber ist ein Gott, der all diese Ungerechtigkeiten zulässt, ein liebender Gott? Wäre ein Gott, der zornig ist über das Unrecht, der Gerechtigkeit hart und unerbittlich durchsetzt, nicht im Grunde ein besser liebender Gott?

Und so wollten wir den Text schlagen, wollten auf ihn zeigen und sagen: Text, das gehört sich nicht, du musst raus aus der Bibel! Und der Text schlägt massiv zurück. Drei Finger zeigen auf uns zurück: Du hast keine Ahnung vom Leben! Du nimmst dein kleines gutes Leben in deiner mitteleuropäischen Zeit des 21. Jahrhunderts als Maßstab dafür, wie Gott handeln sollte, was Menschen sagen dürfen und was nicht? Dein Hochmut stinkt zum Himmel!

So werden wir durch den Text gescholten – und unser Hochmut fällt auf uns zurück. Unser Gott ist ein liebender Gott – aber auch ein gerechter Gott. Liebe ohne Gerechtigkeit ist keine Liebe – wie auch Gerechtigkeit ohne Liebe keine wahre Gerechtigkeit ist. Beides gehört zusammen. Das Feindesliebegebot, das Jesus gelehrt hat, ist kein Larifari-Gebot, zugeschnitten auf die Feinde, die mir im Alltag irgendwie über die Leber laufen, indem sie ein falsches Wort sagen, oder das Wort falsch betonen und ich mir dadurch viele Gedanken mache. Oder einfach Menschen, die ich als Feinde ansehe, weil sie anders denken als ich. Das Feindesliebegebot hat in unseren Breiten Hochkonjunktur, wo es weit und breit keine Feinde gibt. Und wenn es sie gäbe – wie schnell würden manche Leute, die es leichtfertig in die Welt hinausposaunen und von anderen verlangen, verstummen. Das Feindesliebegebot Jesu will in solchen brutalen Zeiten durchgesetzt werden, wie wir sie angesprochen haben. Es gibt nichts Schwereres als das Feindesliebegebot. Es ist zu Schade, als dass wir es einfach so daher plappern und von anderen verlangen. Es gibt nichts Größeres und Einmaligeres als das Feindesliebegebot – aber wir dürfen es nicht als Keule gegen Menschen nehmen, die sich angesichts von Grausamkeiten behaupten müssen. Wen das Feindesliebegebot Jesu ergreift, wer sich danach wirklich in schlimmen Zeiten auszurichten vermag: Ja, der ist groß, der ist wahrhaft groß!

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Der Psalm bricht ab mit einer Seligpreisung:

Selig ist der, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert!

Warum bricht er ab? Ahnt der Beter, dass eine solche Aussage übel ist? Wir wissen es nicht. Aber was wir wissen: Ein anderes Kind des Volkes Israel, Jesus Christus, spricht ca. 500 Jahre später eine andere Seligpreisung aus:

Selig, die keine Gewalt anwenden; denn sie werden das Land erben. Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden satt werden. Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden. Selig, die ein reines Herz haben; denn sie werden Gott schauen. Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Söhne Gottes genannt werden. Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihnen gehört das Himmelreich.

Das klingt wundervoll, das klingt, schön, das klingt harmonisch – aber wie schwer ist das! Was für ein riesen großer Anspruch an uns Menschen, die wir doch, wenn es uns furchtbar schlimm ergeht, lieber sagen würden: Selig ist der, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert!

Der Text macht uns ganz klein, weil er uns in Abgründe des Lebens schauen lässt, die wir heute weitgehend verdrängen, die wir nicht wahrhaben wollen, die aber auch in uns vorhanden sind.

Solche Texte stehen in der Bibel, damit wir selbst durchleuchtet werden, damit wir selbst unsere Schuld erkennen. Unsere Schuld besteht nicht allein darin, dass wir über andere hochmütig urteilen, sondern auch darin, dass deutlich wird, wie Menschen ein falsches Gottesbild, wie wir uns ein falsches Gottesbild zusammenbasteln, gerademal so wie es uns gefällt. Je nach Situation in der wir leben. Und so hat auch Gott auf die Bitte des Psalms reagiert – aber anders, als es sich der Beter vorgestellt hat. Wie ging es in der Geschichte Israels weiter? Der große Perserkönig Kyrus besiegte die Babylonier, militärisch – aber auch diplomatisch geschickt. Trotz eines Massakers an gefangenen Soldaten, wurde Kyros als freundlicher, kluger, barmherziger Herrscher bekannt. Als einer, der menschlich mit den besiegten Völkern umgeht. So durfte dann nach dem Sieg des Kyros über die Unterdrücker das Volk Israel in die Heimat zurückkehren. Gott hat also einen anderen Weg eingeschlagen, als der Beter in seinem Zorn gewünscht hatte. Gott ist mit diesen schlimmen Feinden gnädiger umgegangen, als der Beter es gedacht hatte. Etwas Ähnliches sehen wir auch im Zusammenhang des Propheten Elia: Elia ließ Gottesgegner umbringen. Doch Gott sagte ihm, dass er nicht mit mächtigen Taten daherkommt, nicht als Feuer, Wasser, Sturm, sondern als Säuseln, als leichter Wind, der die Welt in seinem Sinne verändert. Gott handelt anders, als wir es uns oft in unserem Ärger ausdenken – lassen wir uns in die Bewegung Gottes, in die Menschenfreundlichkeit Gottes hineinnehmen?

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Noch etwas wird mir in der Beschäftigung mit diesem Text deutlicher: Wir haben von Jesus Christus einen Auftrag bekommen. Dieser Auftrag lautet, Gottes Willen weltweit durchzusetzen. Dazu gehört es auch, dass wir die Menschen, die in solchen äußerst schlimmen Situationen leben, dass wir sie wahrnehmen in ihrem Leiden, dass wir sie ernst nehmen, dass wir ihnen helfen, so gut es von hier aus eben geht – und eben nicht hochmütig und besserwisserisch.

Haben Sie schon von dem Kongolesen Denis Mukwege gehört? Einem Arzt, einen Christen, der mit seinen bescheidenen Mitteln die ihm zur Verfügung stehen, versucht, gefolterten Frauen im Kongo zu helfen? Man kümmert sich in unserem Land um dieses und jenes Oberflächliches –: die leidenden und die helfenden Menschen sind uns jedoch unbekannt. Aber darum geht es: Menschen zu helfen, damit sie eben nicht mehr solche Gebete um Rache sprechen müssen. Es gibt viele Hilfsorganisationen, die sich einsetzen, denen wir helfen können, ihre wichtige Arbeit zu machen. Brot für die Welt, Hilfe für Brüder, Kindernothilfe, SOS Kinderdörfer, Rotes Kreuz, World Vision, Terre des Femmes und Terre des Hommes, Ärzte ohne Grenzen, Internationale Gesellschaft für Menschenrechte, Amnesty International, International Justice Mission – gegen Sklaverei… Es gibt bewundernswerte Menschen, die sich nicht von dem Leiden kleinkriegen lassen, die sich nicht von den mächtigen bösartigen Clans und Herrschern einschüchtern lassen, sondern sich mit ihrer kleinen Kraft diesen Brutalos in der Nachfolge Jesu, im Namen der Menschlichkeit entgegen stemmen. Und damit machen sie etwas, das wunderbar ist: Sie verschwenden keine Kraft für Rachegefühle und für Empörung über Menschen mit Rachegefühlen, sondern: Sie helfen. Sie helfen und helfen. Die Bibel ist nicht auf Vergangenheit angelegt, sie will nicht allein sagen: So war es – sondern sie will Perspektiven für die Zukunft bieten. Und das ist eine wunderbare Perspektive: Es muss nicht so brutal auf der Welt bleiben. Tue das Deine, um Unrecht zu verhindern. In Gottes Namen. Amen.

Kurzer Nachtrag: Im Bibeltext wird selig gepriesen, wer die Kinder der Feinde tötet. Von Kyrus, dem großen König, gibt es eine Legende, die sagt: Als er geboren war, wurde vom König befohlen, dass er getötet werden soll, damit er später den Thron nicht besteigen kann. Doch der kleine Kyrus wurde gerettet, weil derjenige, der ihn töten sollte, ihn heimlich einer Familie brachte, die ihn aufgezogen hat. Er bekam später den Thron und regierte auffällig gut. So wurde Kyrus das Vorbild für Vorstellungen eines idealen Königs. Wenn wir das mit Blick auf den Psalm hören, – auch mit Blick auf das Thema Kinder – erkennen wir: Gottes Wege sind interessant, wie ich meine.