Galater 4,1-7: Maria ahnt – ihr Sohn verändert

Der für den heutigen Weihnachtstag vorgeschlagene Predigttext steht im Brief des Apostels Paulus an die Galater im vierten Kapitel:

Ich sage aber: Solange der Erbe unmündig ist,
ist zwischen ihm und dem Knecht kein Unterschied,
obwohl er Herr ist über alle Güter,
sondern er untersteht Vormündern und Pflegern bis zu der Zeit,
die der Vater bestimmt hat.
So auch wir:
Als wir unmündig waren, waren wir in der Knechtschaft der Mächte der Welt.
Als aber die Zeit erfüllt war,
sandte Gott seinen Sohn,
geboren von einer Frau
und unter das Gesetz getan,
damit er die, die unter dem Gesetz waren,
erlöst, damit sie die Kindschaft empfingen.
Weil ihr nun Kinder seid
hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in die Herzen, der da ruft:
Abba, lieber Vater!
So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind;
Wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott.

So weit der Predigttext.

Jesus, geboren von einer Frau – und von was für einer Frau! Die Mutter Jesu war wenig älter als unsere Konfirmandinnen als sie merkte, die Kraft Gottes wirkt in ihr, als sie sich sagen ließ: „das Wunder Gottes wächst in dir“. Als sie das hörte, sang sie ein machtvolles Lied. Sie war euphorisch, sie war glücklich, alle Welt schien sich ihr zu ändern. Endlich greift Gott ein! Der Evangelist Lukas berichtet von einem Lied, das sie sang:

Meine Seele erhebt den Herrn,
und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes;
denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.
Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder.
Denn er hat große Dinge an mir getan,
der da mächtig ist und dessen Name heilig ist.
Und seine Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht
bei denen, die ihn fürchten. 
Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die stolz sind in ihrem Herzen.
Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. 
Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.
Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf,
wie er geredet hat zu unsern Vätern, Abraham und seinen Kindern in Ewigkeit.  

Was für ein machtvolles Lied. Die sanfte Maria singt so ein Lied? Sie hat Träume vom Eingreifen Gottes. Die Welt soll endlich besser werden! All die Armut, all die Ungerechtigkeit, die sie sehen muss – Gott wird dem Grauen ein Ende bereiten! Hat sie vor Freude den Boden unter den Füßen verloren? Hat sie sich getäuscht, wie so viele vor und nach ihr?

Marias Sohn nimmt dieses Lied auf – aber er verändert es in Gottes besonderen Art und Weise. Maria konnte ihre Hoffnung nur so aussprechen, wie es viele Menschen ihres Volkes getan haben. Sie sahen Gottes Arm als kriegerischen Arm an. Sie sahen Gottes Boten mit Gewalt heranstürmen und die neue Welt, die Welt Gottes durchsetzen. Aber gerade mit diesem ihrem Kind hat Gott einen anderen Weg beschritten, einen Weg, den wir heute noch nicht verstehen, weil auch wir dieses machtvolle Lied der Maria singen würden. Auch wir wünschen uns, dass Gott machtvoll auftritt, dass er die Stolzen erniedrigt, dass er die Reichen leer ausgehen lässt und die Hungrigen sättigt. Wie sehr wünschen wir uns, dass Gott einmal zeigt, wer der Herr in dieser seiner Schöpfung ist: Nicht der ungerechte Mensch, nicht der Spötter, nicht der Gewalttäter. Marias Lied ist unser Lied, Marias Traum von einer guten Welt ist unser Traum.

Marias Sohn Jesus verwirklicht ihre Hoffnung – aber anders. Er spricht und lebt im Namen Gottes:

Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.
Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.
Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.
Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.
Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.
Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.
Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.
Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, wenn sie damit lügen. Seid fröhlich und getrost.

Wir hören diese Worte und sind enttäuscht. Der Sohn der Maria spricht ja auch nur Worte! Es sind Worte, nur Worte. Es hat sich nichts geändert.

Und doch ist alles neu geworden, entscheidend neu. Gott hat in Jesus Christus eindeutig gesagt, was richtig ist, was falsch ist. Die Stolzen, die Überheblichen gelten in Gottes Augen wie nichts – und so dürfen auch seine Kinder sie in ihrem Stolz wie nichts ansehen. Die Gewaltigen, die Herrscher auf ihren Thronen in aller Welt – sie sind nicht mehr Wert als jeder einzelne Mensch auf der Erde. All ihr Pomp, all ihr Getöse, all ihr arrogantes Auftreten – das ist nicht Gottes Wille. Die Reichen, die sich alles leisten können, die sich Menschen kaufen – sie tun es noch immer, aber sie sind ganz klein, wenn wir sie mit den Augen Gottes ansehen. Das gilt auch für Menschen, die in Horden andere drangsalieren und überschreien: Wie armselig sind sie! Durch Jesus Christus hat Gott sie alle, alle von ihren hohen Rössern heruntergeholt – und auch uns.

Sie kennen doch das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern:

Ein Kaiser will das Schönste und beste Kleid haben, ein Kleid das nur höchste menschliche Kunst herstellen kann. Da kommen zwei Burschen und sagen: Wir können ein solches einmaliges Kleid herstellen! Das Besondere an diesem Kleid ist nur, dass allein gute Menschen es sehen können. Sie bekommen den Auftrag und tun so, als ob sie nähen und nähen. Alle, die das Nichts sehen, sagen: Oh, wie schön, wie wunderbar! Denn sie wollen ja nicht als schlechte Menschen gelten. Der König sah auch kein Kleid – aber was soll er sagen? Soll er sagen, dass da nichts sei und damit allen Menschen zeigen, dass er ein böser Mensch ist? Die anderen haben ja ein Kleid gesehen! Würdig trägt er das Nichts durch die Straße und führt es stolz seinem gesamten Volk vor. Kein Mensch sagt, dass er ja gar nichts anhat, weil jeder Angst hat, die anderen würden ihn als bösen Menschen ansehen. Nur ein Kind ruft: Der ist ja nackt!

Christen, Menschen, die mit den Augen Gottes zu sehen gelernt haben, sehen: All der Stolz, all die falsche Würde – diese Menschen sind in Gottes Augen klein. Sie kleiden sich mit Stolz, sie kleiden sich mit Gewalttaten, sie kleiden sich mit Reichtum, sie kleiden sich mit Ungerechtigkeit und Hochmut, sie umgeben sich mit Anhängern und Bewunderern – aber jeder der zu Jesus Christus gehört, jeder, der Gottes Kind ist, sieht: sie haben alle nichts an. Unter diesem protzendem Gehabe sind sie bloß, sind sie nichts als normale Menschen – sie sind Menschen wie du und ich, sie sind hilflos wie du und ich.

Dass all ihr Getue vor Gott nichts ist und in den Augen der Kinder Gottes nichts gilt, das macht viele zornig. Nicht von ungefähr wird in so manchem Land die Bibel verboten, werden Christen verfolgt. Christen sehen: sie tun so erhaben – doch sie sind alle sehr gering. Das gilt für Philosophien und für Religionen, für Ideologien und – auch fürs Christentum. Wie viel Pomp, wie viel Macht, wie viel Getue und Gedönse bestimmte auch die Kirchengeschichte, wie viel aufgeblasenes Denken – und Gott sagt in Jesus Christus immer: Lieber Mensch, so sehr du dich aufbläst und aufblähst, daraus wird nichts. Du machst dich nur lächerlich. Seit Gott, der Schöpfer und Erhalter der Welt, des Universums, in dem kleinen Menschlein Jesus als Kind einer jungen und armen Mutter zur Welt gekommen ist, irgendwo in einem Nest von Israel, seit dieser Zeit ist alles Aufgeblasene lächerlich. Das hat uns auch der erwachsene Sohn der Maria gelehrt. Sicher, das Aufgeblasene, Lächerliche kann sehr gewalttätig sein, kann Schmerzen und Tod hervorrufen. Das müssen heute, am Weihnachtstag wieder viele Christen, Mädchen und Jungen und Erwachsene, in der Welt erfahren. Deren Gottesdienste angegriffen werden, die entführt und gefoltert werden. Jesus erlebte das selbst und sagte denen, die zu ihm gehören: Habt keine Angst vor ihnen. Was alleine zählt ist: Gott. Wir standen, wie Paulus sagt: unter der Knechtschaft der Mächte. Das ist nun vorbei. Gott sei Dank. Die Menschen wollen Gott werden – doch unser Gott wurde Mensch, um geknechtete Menschen zu befreien. Ja, Gott sie Dank.

Jesus hat uns aber noch etwas gelehrt – und wir nehmen es so hin, als sei das selbstverständlich: Wir dürfen Gott „Vater“ nennen. Wir beten im Vater unser immer so gedankenlos runter: „Vater unser.“ Aber mit dieser Anrede „Vater“ hat etwas stattgefunden, etwas, das auch die Welt umgekehrt hat: Diejenigen, die zu Gott gehören, brauchen keine Angst vor Gott haben. Manche sagen: „Wieso sollte ich Angst vor Gott haben – den gibt es ja gar nicht!“ Gottesleugnung ist Angst vor Gott. Ich rede mir mit anderen ein: „Gott gibt es nicht!“ – und damit kann ich mich seinem Anspruch entziehen. Wer Angst vor Gott hat, der ist, wie Paulus sagt, ein Knecht, ein Sklave. Wer sich Gott entzieht, der ist Sklave des Todes, Sklave der Sünde und Sklave des Gesetzes. Sklave der vermeintlichen Notwendigkeiten, des Schicksals und der Sterne, Sklave der Religionen und der fabrizierten Dämonen.  

Als aber die Zeit erfüllt war,
sandte Gott seinen Sohn,
geboren von einer Frau
und unter das Gesetz getan,
damit er die, die unter dem Gesetz waren,
erlöst, damit sie die Kindschaft empfingen.
Weil ihr nun Kinder seid
hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in die Herzen, der da ruft:
„Abba, lieber Vater!“
So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind.

Wir, die wir Gott als „Vater“ anreden, brauchen keine Angst vor der Welt und keine Angst vor Gott haben. Und wie sehr brauchen wir diesen Vater! Jesus sah die Menschen, wie Schafe ohne Hirten herumirren. Wie sehr sehen wir Menschen herumirren. Sie greifen nach jedem Strohhälmchen, das irgendwie irgendwas Gutes, Schönes, Wellnessiges, Religiöses, Fortschritt verspricht. Muss ich da etwas schildern? Schlagen wir die Zeitung auf, machen wir den Fernseher an: Was für Palaver, was für Weisheiten, was für neue Wege – von denen wir sehen, bevor sie ausgesprochen werden: Armes Geschöpf, das ist ein wirklich großartiger Weg, aber ein Irrweg. Ihr lasst euch betrügen, und das immer wieder. Nicht nur einmal. Ihr rennt diesen Weg voller Stolz und Angriffslust, voller Angst und in Panik, und nach kurzer Zeit zeigt euch einer einen anderen Weg, und den rennt ihr auch voller Stolz und Angriffslust, voller Angst und in Panik. Dann kommt wieder einer und sagt im Brustton der Überzeugung: Das ist der Weg – und wieder ein panisches Herumgerenne. Und dann? Wenn alles schwarz wird, wenn es dunkel wird vor Augen und die Atemlosigkeit kommt, hören wir einen einzigen kleinen Satz: „Fürchte dich nicht. Du brauchst doch nicht so herumrennen, dich verausgaben, panisch sein: Fürchte dich nicht, du bist Gottes Kind!“

Wie glücklich sind diejenigen, die wissen, dass sie Gottes Kinder sind. Ihnen gehört die Welt, sie sind Erbe. Sie dürfen sich in die Arme Gottes werfen, wenn die Angst sie befällt. Sie dürfen sich der Liebe Gottes überlassen, wenn das Fieber der Panik sie niederwirft. Natürlich leben Kinder Gottes noch nicht in Gottes Reich, oder auf der Insel der Seligen. Aber sie haben jemanden, zu dem sie rennen können, sie haben jemandem, an dessen Herzen sie liegen: sie haben Gott in unserem Herrn Jesus Christus.

Wenn die Einsamkeit kommt, es still um uns wird –
dann können wir auf Gott hören.
Wenn die Einsamkeit kommt, keiner unser Wort mehr hört –
dann können wir mit Gott reden.
Wenn alle uns verlassen –
dann ist Gott da, vor dem wir auch traurig schweigen können.
Wenn wir etwas erleben und keiner es versteht –
dann können wir es Gott berichten, euphorisch und glücklich wie die Maria
oder in Schmerzen und Angst, wie Jesus am Kreuz:
Mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Wenn der Lebensweg ein Irrweg ist –
dann können wir uns Gott zuwenden und bitten:
Leite du mich aus der Sackgasse raus.
Wenn Liebe, Freude, Ekstase, Dankbarkeit aus uns herausbrechen –
dann wissen wir, wir sind kein verglühender Stern,
wir sind von Gottes Liebe und Freude umgeben und erfüllt.
Wenn das Sterben kommt, der Tod uns berührt –
dann können wir uns fallen lassen,
weil wir wissen: Gott, der in Jesus Christus uns liebende Gott, fängt mich auf.
Wir tauchen ein in das Licht, das Jesus Christus heißt.

Was für ein Vorrecht haben wir Kinder Gottes! Was für ein Vorrecht! Wir können all das nicht verstehen. Wir können es immer nur ahnen, wir können dem nur nachspüren; dieses Vorrecht in der Liebe Gottes zu stehen, können wir nur andenken, zu fassen, sogar zu schmecken versuchen.

Und all das begann mit Weihnachten. All das begann damit, dass Gottes Kraft in Maria ein Wunder wachsen ließ, ein Wunder mit Namen Jesus. Die junge Mutter spürte, so berichtet uns Lukas, dass Neues, etwas nie Dagewesenes in die Welt hereinbricht. Sie konnte es noch nicht so fassen, sie konnte es nur ahnen. Ihr Sohn ist unsere Rettung, unser Heiland: er nimmt uns als Kinder in die Liebe Gottes hinein. Ja, auch du bist Kind Gottes, das Gott mit „Vater“ anreden darf. Und damit hat Jesus das Lied der Maria, seiner Mutter, auf Gottes Art und Weise in die Tat umgesetzt.

Amen.