Johannes 19 (Es ist vollbracht!)

Der Predigttext für den Karfreitag steht im Johannesevangelium, im 19. Kapitel:

Nachdem Jesus verurteilt worden war, nahmen sie ihn und er trug sein Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha. Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte.

Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der König der Juden. Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreib nicht: Der König der Juden, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der König der Juden. Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.

Als aber die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch das Gewand. Das war aber ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. Da sprachen sie untereinander: Lasst uns das nicht zerteilen, sondern darum losen, wem es gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt (Psalm 22,19): »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten.

Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.

Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet. Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und steckten ihn auf ein Ysoprohr und hielten es ihm an den Mund. Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht!, und neigte das Haupt und verschied.

Soweit der Predigttext.

Es ist vollbracht – auf Griechisch: Tetelestai! Dieses Wort ist das letzte Wort Jesu, das wir vor seinem Sterben hören – es ist der Höhepunkt des Lebens Jesu, so sieht es das Johannesevangelium.

Wie banal wird es heute verwendet! Zum Beispiel, wenn einer irgendeine Lappalie beendet hat, ruft er aus: Es ist vollbracht! Das ist eine Verballhornung des Wortes Jesu, der am Ende seiner Folterung, am Ende seines Lebens ausruft: Es ist vollbracht! Ein befreiendes Wort, ein machtvolles Wort. Es ist kein Wort, in dem der zu Tode Verurteilte seine Resignation, seine Trauer, seine Angst ausspricht, sondern ein triumphierendes Wort: Es ist vollbracht. Ich habe es geschafft! Ich habe durchgehalten, trotz allem bin ich meinem Vorhaben, meinem Werk treu geblieben. Jesus hat sein Lebenswerk vollendet. Tetelestai.

Was hat Jesus vollbracht? Was ist sein Lebenswerk?

Ich möchte das an den vier Enden des Kreuzes darstellen:
Das erste Ende – der Grund: Wir können befreit sterben.
Das zweite Ende – die linke Seite des Querbalkens: Wir können dankbar leben.
Das dritte Ende – die rechte Seite des Querbalkens: Gott begleitet auch durch schlimme Zeiten hindurch.
Das vierte Ende – die Spitze des Kreuzes: Wir dürfen zu Gott gehören.

Das Kreuz – der senkrechte Balken bedeutet: der Himmel berührt die Erde. Der waagrechte Balken bedeutet: die Arme umfassen die Erde.

Der Himmel berührt die Erde:

Jesus hat Gott den Menschen nahegebracht und den glaubenden Menschen zu Gott.
Jesus vergewissert den Menschen Gottes Liebe in all der Lebensfinsternis und ermöglicht die Liebe des Menschen zu Gott.
In  Jesus Christus werden Gott und Menschen ganz eng verbunden: Wie eine Rebe am Weinstock hängt, so sind Glaubende mit Jesus vereint, bekommen Kraft von ihm – und das nicht nur zur Lebzeiten Jesu, sondern erst recht durch seinen Tod und seine Auferstehung.

Die Arme umfassen die Erde:

In Jesus kam Gott zu uns und hat damit die Welt erhellt, er hat den Menschen Hoffnung gegeben in dem alltäglichen Einerlei. Die Menschen können anders werden. Es muss nicht immer alles einfach so ablaufen zwischen bösen und guten Kräften wie bisher. Menschen und Welt haben eine Verbindung zu Gott und ein Ziel. Sie haben Hoffnung in Ewigkeit und Liebe. Sie haben Licht, sie haben einen Weg, sie kennen den Zugang zu Gott: Wer mich sieht, der sieht den Vater, sagt Jesus Christus. Sie haben in Jesus Christus Brot und Wasser, die auf diesem Weg des Guten und des Lebens nähren, stärken, aufrichten.

Die Welt ist nach Jesus nicht mehr wie sie vorher war: In Jesus kam Gott in die Welt. Jesus hat ein großes Werk vollbracht. Zu diesem großen Werk gehörte es, dass er das Sterben auf sich nimmt.

Warum? Für uns!

Das erste Ende – der Grund: Wir können befreit sterben

Für uns? Was haben wir davon? Der Leiter eines Hospizes schreibt in seinem Buch: „Statistiken belegen, wie wichtig Religion und Spiritualität für viele schwer kranke Patienten werden. Zwei von drei Befragten berichten, dass dieser Aspekt im Verlauf der Erkrankung für sie einen höheren Stellenwert eingenommen hat und sie dadurch Trost finden.“ (Lübbe) Wie können wir im Glauben Trost finden? Das Johannesevangelium formuliert bildhaft: Jesus geht uns voraus, um uns bei Gott Wohnung zu bereiten. Wenn Menschen im Glauben an Jesus Christus sterben, dann gehen sie hinein in Gottes Welt, es gibt ein Weiter – das Leben ist nicht beendet, sondern das Leben wird bei und in Gott vollendet. Glaubende gehen nicht ins Nichts, die Dunkelheit, dem vergehen. Sie gehen hinein in das Licht und die Herrlichkeit, die Gott ihnen schenken wird, die Jesus ihnen versprochen hat. Sie gehen hinein in das Leben – und dieses Hineingehen, das hat uns Jesus durch sein Sterben für uns ermöglicht. Jesus sagte auch: Ich bin die Tür. Ja, es ist vollbracht – tetelestai – die Tür in die herrliche Welt Gottes ist geöffnet.

Aber nicht nur im Sterben haben wir etwas davon, dass Jesus sein Lebenswerk vollbracht hat. Das zweite Ende – die linke Seite des Querbalkens: Wir können dankbar leben.

Der Mensch lebt in Beziehungen. Oft haben wir keinen Menschen, der uns sehr nahe ist. Aber Gott ist uns immer nahe – so nahe, wie nie ein Mensch uns nahe sein kann. Wir hängen an ihm, wie die Rebe am Weinstock – wir dürfen es, weil er uns liebt, weil er uns so nahe an sich herankommen lässt. Wo kommt Mut mir her? Woher Kraft? Woher Atemholen? Wo kommen meine Hoffnung her, meine Zuversicht?

Kelly Clark, die Olympiasiegerin in Snowboardfahren, sagt: „Jesus, ich kann meine Liebe nicht verbergen.“ Warum kann sie ihre Liebe zu Jesus nicht verbergen? Wer die folgenden göttlichen Mutmachworte hört, der weiß sich geliebt. Es sind Liebesworte, die dem Johannes in Erinnerung gerufen werden. Liebesworte Jesu.

Wenn Jesus sagt: Ich bin das Brot des Lebens, dann sagt er: Ich bin deine Kraft!

Wenn Jesus sagt: Ich bin das Licht, sagt er: Du, Kind, hast viel Dunkelheit zu ertragen, durch andere Menschen, durch dich selbst – ich aber bin dein Licht, du musst nicht in Dunkelheit versinken!

Wenn Jesus sagt: ich bin die Tür, dann sagt er: Du, Kind, es geht weiter! Du stehst vor Gott – du stehst nicht vor verschlossenen Türen!

Wenn Jesus sagt: Ich bin der gute Hirte, dann sagt er: Du weißt deinen Lebensweg oft nicht, du weißt nicht, wohin du gehen wirst, wenn dein Leben beendet ist – aber vertraue dich mir an, folge mir! Und du wirst deinen Lebensweg gut vollenden!

Wenn Jesus sagt: Ich bin die Auferstehung und das Leben! Dann hören wir voller Freude zu. Wir staunen mit offenem Mund, weil das zu wunderbar ist. Wir verstehen nicht, wie das sein kann, das mit der Auferstehung, das mit dem Leben.

Wenn er sagt: Ich bin die Wahrheit, dann heißt das, wir müssen sie nicht in irgendwelchen Menschen finden, in Weltanschauungen, in Religionen. Die Fülle, das Ziel, die Vollendung finden wir in Jesus Christus.

Wenn Jesus sagt: Ich bin der Weinstock – dann wollen wir seine Liebe annehmen. Und das ist die Voraussetzung, dass wir uns diese große Liebe Gottes in Jesus Christus auch aneignen können. Wer wie eine Weinrebe an ihm hängt – aber seine Kraft, sein Lebenssaft blockiert, der wird trocken, verwirrt, einsam, in sich verbohrt und eng.

Es ist vollbracht. Tetelestai.

Wie haben wir Gemeinschaft mit ihm? Mein erster Gedanke am Morgen sei: Dank. Mein letzter Gedanke am Abend sei: Dank. Nicht unbedingt für die schlaflose Nacht, für das Schwere, das wir am Tage erlebt haben, sondern dafür: Ich darf dein sein, mein Gott. Mein Leiden ist dein Leiden. In der Einsamkeit meines Leidens, in dem kein Mensch mich versteht, ja, verstehen kann, bist du bei mir, nimmst mir die Einsamkeit und die Ströme der Lebenskraft dürfen mich durchströmen. Die Fürsorge Jesu ist so groß,  dass sie sogar in den letzten Sterbeminuten zum Vorschein kommt, wenn Jesus – wie wir im Predigttext hören – sagt: Dein Sohn, deine Mutter. Und so ist auch seine vollkommene Fürsorge als Mensch vollbracht, vollendet. Und sie hört mit seiner Auferstehung nicht auf – seine liebende Fürsorge gilt auch uns.

Das dritte Ende – die rechte Seite des Querbalkens: Gott begleitet auch durch schlimme Zeiten hindurch.

Es ist vollbracht. Die Christen sahen noch etwas als vollbracht an: In den alttestamentlichen Schriften fanden Christen Hinweise darauf, dass Jesus Christus und seine Taten angekündigt worden sind. Gott hat die Ankunft seines Sohnes verheißen, versprochen, angekündigt. Von der Geburt bis hin zum Tod Jesu fanden sie Hinweise in alttestamentlichen Schriften. Damit hat Gott sein Volk durch dunkle Zeiten hindurch getröstet. Der Prophet Micha ruft als Botschafter Gottes dem Volk Israel zu, das sich von Gott verlassen wähnt: Bethlehem, aus dir wird hervorgehen der Fürst, der Hirt meines Volkes Israel. Oder die Prophezeiung des Jesaja: Gott hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, den Blinden, dass sie sehen sollen, den Zerschlagenen, dass sie frei sein sollen. Heute, so Jesus, ist es geschehen. Jesus hat vollendet, was Gott seinem Volk und aller Welt versprochen, angekündigt hat.

Man sagt, dass vielen Sterbenden das Leben vor Augen rückblickend abläuft. Was sie Böses getan haben wird ins Bewusstsein geholt, was sie Gutes getan haben, wird ihnen wieder bewusst, sie erinnern sich daran, was andere ihnen getan haben, was sie sich selbst angetan haben. Und in diesem Ruf Jesu, dem König der Juden: Es ist vollbracht – wird deutlich, dass alles vor seinem Auge abgelaufen ist: Die Geschichte seines Volkes Israel – und sein Wirken zur Befreiung der Menschen. So sieht es Johannes, denn er sagt: Damit die Schrift erfüllt wird, rief Jesus: Ich habe Durst! Und man gab ihm Essig, er nahm ihn und sagte: Es ist vollbracht – und starb. Gott steht zu seinem Wort – wenn auch Menschen in ihrer Geschichte noch so viel Schlimmes tun.

Das vierte Ende – die Spitze des Kreuzes: Wir dürfen zu Gott gehören.

Und mit all diesen Aussagen sind wir einem Geheimnis auf der Spur: Wir haben Teil an dieser Befreiung durch Jesus, wenn wir sein Wort hören und im Herzen bewahren, wenn wir tun, was er sagt, vor allem aber auch im Abendmahl. Im Abendmahl begegnet uns der auferstandene Jesus in seinem vergangenen Leiden. Es ist vollbracht: Ja, auch unsere Rettung, Erlösung, die Vergebung unserer Sünden, wir sind im Leiden nicht mehr allein, weil er uns zur Seite steht – all das hat er vollbracht, damit wir den Tod nicht fürchten müssen, damit wir die finstersten Zeiten in der Menschheitsgeschichte nicht fürchten müssen – denn er ist das Ziel, damit wir Gott in ihm lieben können: Jesus, ich kann meine Liebe nicht verbergen.