Wolke der Zeugen (Hebräerbrief 12)

Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht im Brief an die Hebräer im 12. Kapitel:

Darum auch wir:

Weil wir eine solche Wolke von Zeugen – von Glaubenden – um uns haben,

lasst uns ablegen alles, was uns beschwert,

und die Sünde, die uns umstrickt.

Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf,

der uns bestimmt ist, 

und aufsehen zu Jesus,

dem Anfänger und Vollender des Glaubens.

Soweit der Predigttext.

Der ehemalige Papst Benedikt XVI. hat in einer Predigt (24.12.2005) gesagt:

„Das Licht von Bethlehem ist nicht mehr erloschen. In allen Jahrhunderten hat es Menschen berührt, hat es sie umstrahlt. Wo der Glaube an dieses Kind aufging, da blühte auch die Caritas auf – die Güte für die anderen, das Zugehen auf die Schwachen, auf die Leidenden;… . Von Bethlehem her zieht sich eine Lichtspur, eine Spur der Liebe und der Wahrheit durch die Jahrhunderte.“

Ja, es zieht sich eine Lichtspur durch die Jahrhunderte. Manchmal auch gegen die institutionalisierte Kirche. Denn das Licht von Bethlehem ist nicht in eins zu setzen mit Kirchenleitungen und Kirchenverwaltungen. Diese Lichtspur durchzieht Hütten wie Paläste, normale Häuser wie Beduinenzelte. Alte und Junge, Kranke und Gesunde, Nichtbehinderte und Behinderte, Reiche und Arme, Kluge und weniger Gewandte – welche Unterteilung wir in der Menschheit auch vollziehen – sie gilt nicht für das Licht Gottes, das Menschen als Menschen ergreift: so auch Zweifelnde und Nichtglaubende. Es zieht sich eine Lichtspur durch die Zeit und durch die Welt. Wir müssen nur genau hinsehen. Wir finden sie auch unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Künstlerinnen und Künstlern, Menschen, welchen Berufs auch immer. Und wir finden sie in unseren Herzen.

Wir Menschen haben die Fähigkeit, eher die dunklen Seiten von Menschen zu betrachten. Die Seiten des Vergehens, der Schuld, des Versagens. Aber wie wunderbar sind all die Menschen, die trotz ihres Versagens, ihrer Schuld Lichtspuren hinterlassen. Gott beruft Menschen, die ihm nachfolgen sollen, obwohl sie auch ihre dunklen Seiten hatten und gegen ihre dunklen Seiten ankämpften. Wer im Glauben steht, ist nicht unbedingt eine Lichtgestalt, sondern er ist ein Mensch, der mit dem Licht Gottes gegen seine dunklen Seiten ankämpft.

Denken wir an David, der vom Schreiber des Hebräerbriefes auch der Wolke der Zeugen zugerechnet wird. Er hat – um es derb zu sagen – viel Mist gebaut. Hat Blut an seinen Händen kleben, hat anderen die Frauen ausgespannt. Er hat seine depressiven Phasen. Er hat in der Erziehung versagt. Und dennoch: Er hat an Gott festgehalten – und Gott hat an ihm festgehalten.

Glaubende sind nicht vollendet – sie gehen erst auf die Vollendung durch Jesus Christus zu.  

Wenn wir das wissen, dann können auch wir mutiger werden: Wir können als die Menschen, die wir sind, im Glauben loslegen. Unvollendet, fragwürdig, mit alter Schuld behaftet, mit neuer Schuld verdreckt. Aber, wie der Predigttext uns lehrt: Lasst uns nicht auf die Schuld sehen, lasst uns auf den sehen, der uns die Schuld genommen hat: auf Jesus Christus, dann hinterlassen wir eine Lichtspur.

Der Hebräerbrief spricht von der Wolke der Zeugen – und nennt zahlreiche Zeugen, die den Glauben an Gott bezeugen, aus dem Alten Testament: Abraham, Jakob, David und viele andere mehr. Christen nennt er nicht – wahrscheinlich war zu seiner Zeit die Unterscheidung Juden-Christen noch gar nicht üblich. Er hat noch keine lange Zeit des christlichen Glaubens hinter sich, denn er wurde wenige Jahrzehnte nach dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi geschrieben.

Im ersten Jahrhundert fing es mit dem Glauben an Jesus Christus an: mit Jesus, den Anfänger unseres Glaubens. Jesus gab das Licht weiter an die Apostel, an die Männer und Frauen, die ihm folgten. So manche kennen wir mit Namen – aber unzählige dieser großen und mutigen Menschen kennen wir nicht mehr – aber, wie es in der Offenbarung des Johannes heißt: Ihre Namen sind aufgeschrieben im Buch des Lebens. Jesus Christus kennt die Seinen.

So manche Namen sind aus den weiteren Jahrhunderten bekannt. Viele von ihnen wurden wegen des Glaubens verfolgt und ermordet. Und trotz des Widerstandes durch die Herrscher und ihrer Steigbügelhalter, wuchs die Gemeinde Jesu, die Wolke der Zeugen, immer weiter an: Die Glaubenden lehrten und taten Gutes, Neues kam in die Welt, ohne Ansehen der Personen. Und auch hier: Sklaven und Sklavinnen, Reiche und Menschen des Mittelstandes – viele hinterließen die Spur des Glaubenslichtes. In Europa, Nordafrika, Asien – bis hin nach Indien und China. Und es ging weiter – heutzutage ist der christliche Glaube der Glaube, der weltweit am meisten vertreten wird. Es kommt allerdings nicht auf die Zahl an, sondern: Unter fast allen Völkern und Stämmen, gibt es Glaubende, in allen Sprachen. Christlicher Glaube gilt der gesamten Schöpfung, allen Menschen, grenzenlos. Die Einladung gilt allen – und viele nehmen die Einladung an. Und so wächst er ständig stark an. Wir dürfen nicht unser Deutschland als Maßstab nehmen. Deutschland und Europa wurden vom Glauben, der weltweit in Menschen wirkt, massiv überholt. Und das macht uns dankbar, dass Gottes Geist weltweit so wunderbar wirkt. Die Wolke der Zeugen wächst stetig an: in grausamen Zeiten, in ruhigen Zeiten.

Wir dürfen aber auch in unserem Land nicht Kirchenmitgliedschaft als Maßstab nehmen. In einem Gedicht heißt es:

Jesus Christus vermag uns,
die wir im Winter zittern,
wie Frühlingsluft umwehen:
Knospen schwellen,
Gräser sprießen,
Vögel singen,
Sehnsucht schwingt, vibriert:
Erwartung von Leben,
Erwartung von Frucht.

Soweit das Gedicht. Mit dieser lichtvollen Frühlingsluft des Glaubens umspielt Jesus Christus die Menschen. In diese Frühlingsluft des Glaubens sind viele Menschen eingetreten. Sie werden vom Glauben umweht, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind, auch wenn sie sich noch dagegen wehren. Es gibt eine Sehnsucht nach Glauben und Gott. Eine Sehnsucht nach den Werten – auch wenn darüber gespottet wird, auch wenn man sich gegenüber Gott aufplustert: Menschen wehren sich gegen die Sehnsucht nach Gott, weil sie größer sein wollen als er. Sie nehmen die Frühlingsluft wahr – aber sie versperren sich in ihren Winterklamotten.

Aber nicht alle wehren und versperren sich. Es gibt im Internet eine Seite, die heißt: https://promisglauben.de/ . Auf dieser Seite werden Schauspielerinnen und Schauspieler, Politikerinnen und Politiker, Sportlerinnen und Sportler, Influencerinnen und Influencer – und viele andere, die aus welchem Grund auch immer den Promis zugerechnet werden, vorgestellt. Junge Frauen und Männer bezeugen auf TikTok ihren Glauben. Sie gehören zur Wolke der Zeugen. Wir können dankbar sein, dass es sie gibt, die mutigen Menschen, die ihren Glauben bekennen, zu ihrem Glauben stehen. Jesus Christus, der Frühlingswind umweht sie – und sie wachsen im Glauben, sie bringen Frucht. Nur eine Stimme möchte ich jetzt aus der Vielzahl herausnehmen:

„Die US-amerikanische Leichtathletin Sydney McLaughlin-Levrone, die Weltmeisterin und Olympiasiegerin über 400-Meter-Hürden ist und mehrmals den Weltrekord verbesserte, kündigte in den sozialen Medien das baldige Erscheinen ihres Buches „Far Beyond Gold: Running from Fear to Faith“ an. Damit möchte sie Menschen ermutigen, Ängste zu besiegen, fest im Glauben zu stehen und zu sehen, wie viel Freiheit in Verbindung mit Jesus Christus wirklich möglich ist.“

Wenn wir in unser Leben zurückdenken: Wer ist es gewesen, der uns vom Glauben berichtet hat? Wer ist es, der uns Glauben vorgelebt hat? Waren es Prominente? Waren es Kirchenmenschen? Oder waren es Eltern, Großeltern, Onkel, Tanten? Waren es unterschiedliche Menschen? Schriftstellerinnen und Schriftsteller?

Aber wie ist es heute? Ist diese Tradition abgebrochen? Haben wir sie abbrechen lassen?

Es gibt Zeiten, in denen es so aussieht, als würde der Glaube verschwinden. Mir als einer, der sich intensiv mit Geschichte befasst hat, zeigt es sich, dass es immer Zeiten gab, in denen der Glaube irgendwie verschwand, in denen Menschen der Kirche sich furchtbar daneben benommen haben, alles, was mit an Schönem dem christlichen Glauben verbunden wurde, verlodderte. Der Schatz des Glaubens wurde in den Dreck getreten. Denken wir nur an die Zeiten des Nationalsozialismus und des Kommunismus. Doch dann geschah das, was keiner mehr erwartet hatte: Menschen hatten Sehnsucht nach dem Licht Gottes, der Frühlingswind Gottes begann den Winter zu erwärmen, Gott wurde gefunden. Nicht selten, weil die Wolke der großartigen Zeugen wieder erkannt wurde. Die Menschen der Kirchengeschichte, sei es Augustinus, Elisabeth von Thüringen, Hildegard von Bingen, Martin Luther, Paul Gerhard, Florence Nightingale, die in ihr Tagebuch schrieb: „Gott sprach zu mir und rief mich in seinen Dienst.“

Wir sehen heute, dass Menschen immer stärker von der Tradition gelöst werden sollen, die Wolke der Zeugen wird geleugnet. Wir genügen uns selbst! Wir Menschen heute sind die Größten, wir schaffen das! Wir sind die Herren über Klima und Wetter, die Wissenschaft der Moderne samt ihrer KI – wir sind es. Schaut nicht auf die veraltete Wolke der Zeugen, schaut nicht auf Christus! Heute blüht das Leben! Schaut nicht auf die alte Lehre! Wir wissen es heute besser!

Es ist gut, dass Menschen selbstbewusst werden. Aber Größenwahn ist immer schlecht. Nicht zuletzt auch darum, weil Größenwahn umschlagen kann in Depression: eine Depression, die den Menschen zum Tier erklärt, die den Menschen dann auch so behandelt. Menschen sind häufig Maß los. Generationen können maßlos sein.

Aber der Frühlingswind, Jesus Christus, umweht uns – bringt in der Sehnsucht der Menschen nach Gott Frucht.

Frucht bringt er auch durch uns. Durch uns in unserem Alltag. Wie begegnen wir Menschen? Missgelaunt oder fröhlich? Werden unsere Klagen von Dank durchzogen? Kritisieren wir verstehend oder rechthaberisch? Es müssen nicht große, weltbewegende Taten sein, zu denen Jesus Christus uns beruft. Für manche ist es schon eine große, weltbewegende Tat, wenn wir offen auf andere Menschen zugehen können. Wenn wir auch in kleinen Dingen hilflosen Menschen beistehen. Wichtig ist, dass wir wissen: Wir gehören zur Wolke der Zeugen. Wir gehören zu denen, die wir uns seit alters zu Gott bekennen, zu Gott, dem Schöpfer der Erde und des Universums. Und wir können mit unserem Leben eine Lichtspur ziehen. Zu Gott, der in Jesus Christus Mensch wurde und uns in ihm seine Liebe zeigte. Zu Gott, der mit seinem Heiligen Geist in Menschen weltweit wirkt – auch in und durch uns – Lichtspuren.

Darum auch wir:
Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben,
lasst uns ablegen alles, was uns beschwert,
und die Sünde, die uns umstrickt.
Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf,
der uns bestimmt ist, 
und aufsehen zu Jesus,
dem Anfänger und Vollender des Glaubens.

Amen