Meine Zeit in Gottes Hand (Psalm 31)

Psalm 31,16:

Du bist mein Gott! Meine Zeit steht in deinen Händen.

Dieser Satz steht in einem Gebet – und ist ein Gebet. Wir lauschen mit dem Psalm einer Zwiesprache zwischen Gott und dem Beter. In dem Gebet legt er Gott seine Ängste und sein Vertrauen dar. Er bittet Gott um Hilfe. Wir lauschen der Zwiesprache eines Menschen, der hin und her gerissen wird in seinem Leben. Seine Gegenwart ist bedrohte Gegenwart. Menschen feinden ihn an. Er selbst weiß weder aus noch ein. Und in diesem Lebens-Hin-und-Her spricht er den vertrauensvollen Satz:

Du bist mein Gott! Meine Zeit steht in deinen Händen.

Der Beter breitet vor Gott die schlimme Vergangenheit aus – und bittet für die Zukunft. Diese Bitte ist seine Gegenwart. Sie ist die Insel im aufgewühlten Meer des Lebens. Sie ist die Ruhe im Sturm. Sie ist der Anker, die ihn hält: Mensch, warum bin ich so aufgeregt? Warum stehe ich so unter Strom? Warum lasse ich mich bis in die tiefsten Tiefen meiner Seele so bedrängen? Was ist mit mir los? Meine Ängste und Sorgen zerfressen mich. Panisch schreie ich zu Gott! Und dann denkt er an seinen Anker im Sturm, seine Oase in der Wüste – auch angesichts der Todesbedrohung:

Du bist mein Gott! Meine Zeit steht in deinen Händen.

Wir leben heute nicht mehr in Verfolgung, zumindest nicht in unserem Land. Die meisten von uns dürften keine erbitterten Feinde haben. Aber wir haben die Bedrohung durch den Tod, wir haben unsere Aufreger im Alltag: Wenn wir warten müssen – wie lang werden uns ein paar Minuten unserer Lebenszeit! Wenn uns Menschen gleichgültig oder verächtlich erniedrigend begegnen – wie viel Zeit verbringen unsere Gedanken mit solchen Situationen. In unserer Vergangenheit schlummern grausame Fallen, in die wir immer wieder hineinfallen, weil wir nie mit ihnen fertig werden – es wird uns heiß, das Herz klopft, Traurigkeit umfängt uns. In all diesen Alltagssituationen innehalten, dann tut es gut, die Ängste in Gottes Hand zu legen, die Vergangenheit und die Zukunft in Gottes Hand zu legen und die Gegenwart bestimmt sein lassen von diesem Gebet:

Du bist mein Gott! Meine Zeit steht in deinen Händen.

Meine Zeit und ich gehören nicht den Menschen, gehören nicht der Vergangenheit, auch nicht einer ungewissen Zukunft. Wir gehören Gott. Wenn ich mir dessen bewusst bin, wenn ich mir immer wieder diese vertrauensvolle Aussage des Beters zu eigen mache, sie in meinem Herzen bewege, dann verändert sich mein Alltag. Ich gehe anders mit mir selber um, ich gehe anders mit den Menschen und Situationen um, mit denen ich es zu tun habe. Menschen und Situationen, die mich vorher unter Strom und Stress gesetzt haben, werden auch eingebettet in meine Gottesbeziehung.

Du bist mein Gott! Meine Zeit steht in deinen Händen

Bete ich – und lege auch die jeweilige Situation, den jeweiligen Menschen in Gottes Hände.

Manche von uns dürften ganz andere Probleme haben. So mancher Mensch sitzt zu Hause und weiß nichts mit seiner Zeit anzufangen. So verbringt er den Tag mit sich selbst, verbringt sein Gehirn den Tag damit, Bedrängendes wiederzukäuen und immer wieder, bis es einem ganz komisch wird. Meine Zeit steht nicht in Gottes Händen, ich bin Sklave der mir aufgedrängten leeren Zeit. Leere Zeit bedrängt mich. Ich versuche sie mit fernsehschauen, mit PC-Spielen, mit dem Smarthphone/Handy irgendwie zu füllen. Indem ich den Satz bete:

Du bist mein Gott! Meine Zeit steht in deinen Händen,

werde ich wieder Herr meiner Zeit. Ich bestimme, wie ich sie füllen mag. Ich fülle sie mit Gott. Die Menschen, an die ich denke lege ich segnend und fürbittend in Gottes Hand. Ich lese Zeitung oder schaue Fernsehen – gleichzeitig bete ich für die Menschen, über deren schlimme Schicksale ich gerade lese und höre. Ich bete für die Journalisten, die Redakteure, die die Nachrichten gestalten. Ich bete für die Sicherheitskräfte, die Pflegekräfte, die Politiker, die so viel Verantwortung für viele Menschen haben. Und beten heißt nicht nur, ein paar Worte an Gott zu richten. Beten heißt, wenn es mir möglich ist, mich auch näher mit diesen Menschen zu befassen, in ihr Leben als gute Bekannte betend – nicht neugierig und penetrant – einzudringen und sie in Gottes Hand legen. Das kann ich tun, wenn ich aus gesundheitlichen Gründen in meiner Wohnung eingekerkert bin, sogar wenn ich an mein Bett gefesselt bin. Dann bin ich auf einmal nicht mehr eingekerkert und gefesselt: Die Welt öffnet sich mir – ich öffne mich der Welt. Denn auch die Zeit der Welt steht in Gottes Händen.

Hat Gott Hände, so wie wir zwei Hände haben? Natürlich nicht. Das ist metaphorisch gesprochen. Wir Menschen sind so begrenzt, wir können uns Gott nicht in seiner Fülle denken. Wir können von ihm nur mit der Sprache reden, die uns zugänglich ist: vergleichend mit dem, was wir kennen. Wir kennen die Hände Gottes in Jesus Christus. Was haben Jesu Hände getan? Jesu Hände haben Menschen heilend berührt, die andere nicht einmal ansehen konnten vor lauter Abscheu und Ekel. Jesus hat Menschen bei der Hand genommen, und durch seine Hände flossen Gottes Kräfte, die Menschen sehen ließen, aufrecht gehen ließen, er hat ihnen den Mund geöffnet, dass sie sich mitteilen konnten, die Ohren geöffnet, dass sie hören konnten. Er hat Menschen befreit von allem, was sie gefesselt und bedrängt hat. Er hat Menschen gesegnet, seine Hände haben das Brot geteilt, damit Menschen satt wurden. Wenn wir als Christen sagen:

Du bist mein Gott! Meine Zeit steht in deinen Händen

dann sind es diese Hände Jesu, in denen wir Gott erkennen, dann sind es die Hände Jesu, in die wir uns und die Menschen, für die wir beten hineinlegen. Unsere liebenden Bitten, unsere fürsorgende Gebete sind eins mit den wohltuenden Händen Jesu.

Es gibt den Text – angeblich aus dem 14. Jahrhundert:

Christus hat keine Hände, nur unsere Hände,

um seine Arbeit heute zu tun.

Er hat keine Füße, nur unsere Füße,

um Menschen auf seinen Weg zu führen.

Christus hat keine Lippen, nur unsere Lippen,

um Menschen von ihm zu erzählen.

Er hat keine Hilfe, nur unsere Hilfe,

um Menschen an seine Seite zu bringen.

Dieser Text sagt nur die halbe Wahrheit. Es stimmt: Jesus Christus handelt durch uns, die wir ihm nachfolgen. Aber dieses „nur“ – nur unsere Hände, nur unsere Füße, nur unsere Lippen, nur unsere Hilfe – das ist zu kurz gegriffen. Der Text soll Christen anspornen – das ist alles gut und richtig. Aber Gott hat noch unermesslich viele Möglichkeiten, unsere Zeit und die Zeit unserer Mitmenschen in seinen Händen zu halten. Er hat unermesslich viele Möglichkeiten einzugreifen. Und diese Möglichkeiten können wir im Gebet nutzen, denn wir Menschen sind begrenzt. Wir sind zeitlich begrenzte Wesen, lokal begrenzte Wesen, körperlich und verstandesmäßig begrenzte Wesen. Aber in dem Gebet zu Gott können wir unsere Zeitbegrenzung, unsere Ortsgebundenheit, unsere Grenzen des Körpers und des Verstandes sprengen, denn wir sind in Gottes Händen – und können Gottes Hände im Gebet nutzen, um Menschen beizustehen, sie zu stärken in ihrem schweren Kampf im Leben.

Wir dürfen jedoch nicht vergessen: Wir unterstützen im Gebet – Gebet ist nicht schon der Sieg. Gebete sind keine Magie, die Gott, Geister und Welt zwingen. Wie die Hände Jesu von erbitterten und verbitterten Gegnern an das Kreuz festgenagelt wurden, damit sie nicht mehr segnend und Wohl tuend handeln können, so wird auch heute weltweit das betende Handeln der Glaubenden durch Gegner Jesu Christi behindert und bekämpft. Wenn ich sage:

Du bist mein Gott! Meine Zeit steht in deinen Händen,

dann wird nicht alles einfach gut – aber etwas ändert sich: Ich bestimme, wer meine Zeit beherrschen soll: Gott in Jesus Christus. Seinen Händen vertraue ich. Ich vertraue als Glaubender mein Leben seinen Händen an, mein Sterben und meinen Tod, den seine Hände ins Leben überführen werden. Dieser Moment, in dem ich meine Gegenwart und mein Leben insgesamt Gott anvertraue, ist die Insel im aufgewühlten Meer des Lebens. Er ist die Ruhe im Sturm. Er ist der Anker, der mich hält, meine die Oase in der Lebenswüste.