Micha 5: Nicht erfüllte Erwartungen

Der für den heutigen ersten Weihnachtsfeiertag vorgeschlagene Predigttext steht im Buch des Propheten Micha im 5. Kapitel:

Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda,
aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei,
dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit gewesen ist.
Indes lässt er sie plagen bis auf die Zeit,
dass die, welche gebären soll, geboren hat.
Da wird dann der Rest seiner Brüder wiederkommen zu den Söhnen Israel.
Er aber wird auftreten und weiden in der Kraft des HERRN
und in der Macht des Namens des HERRN, seines Gottes.
Und sie werden sicher wohnen;
denn er wird zur selben Zeit herrlich werden,
so weit die Welt ist.
Und er wird der Friede sein.

Israel, Israel, Israel. Wie sehnt sich Israel nach Frieden, seit urdenklichen Zeiten. Es sehnt sich nach Gottes machtvollem Werk, nach dem Auftreten des Menschen Gottes, der diesen Frieden durchsetzen wird. Und der Friede? Kam er mit Jesus? Wo bleibt er? Nein, Jesus ist nicht der, der in Israels und unseren Augen dieses Kriterium, das wir im Text des Propheten Micha finden, erfüllt.

Er aber wird auftreten und weiden in der Kraft des HERRN
und in der Macht des Namens des HERRN, seines Gottes.
Und sie werden sicher wohnen;
denn er wird zur selben Zeit herrlich werden,
so weit die Welt ist.
Und er wird der Friede sein.

Jesus ist eigentlich auch nicht der, den die frühe Gemeinde erwartete, darum hat sie Jesus an manche alte Erwartungen angepasst, an Erwartungen, die wir in Schriften des Alten Testaments finden. Er ist auch nicht der, den wir Christen erwarteten. Und darum verkünden Christen einen anderen, der ihnen mehr zu geben vermag. So verkündet der sogenannte TV-Pfarrer Jürgen Fliege die zu Herzen gehenden Worte des tibetanischen Buddhisten Dalai-Lama. Ein Theologie-Professor findet seine Sehnsucht in den Meditationen der japanischen Zenmeister – und führt zahlreiche Studierende diesen Weg. Was wollen wir mit diesem Jesus? Zahlreiche Christen stellen sich das Bild irgendeines indischen Gurus vor ihre Augen und meditieren seine Weisheiten. Andere meinen, ihre Sehnsucht werde erfüllt, wenn sie sich schöner machen lassen oder von einer Diät zur anderen hetzen, andere, wenn sie in der Weltgeschichte herumreisen, sich in ihren Träumen bergen oder im Rausch, welcher Art auch immer: Drogenrausch und Gruppenrausch. Philosophische Weisheiten sind größer als dieser Jesus, wichtiger, einsichtiger, er verschwindet ganz in unseren wunderbaren Weltgebäuden. Und andere Christen wenden sich gelangweilt ab: Nein, dieser ist es nicht, den ich erwartete.

Und andererseits: Bibeln sind Bestseller. Die sogenannte Volksbibel, angepriesen von der BILD-Zeitung ist, soweit ich gehört habe, vergriffen. Aldi-Bibeln gingen weg wie warme Semmeln. Menschen haben Sehnsucht nach Jesus – doch finden sie diese erfüllt, wenn sie mal in diesen vielen Bibelseiten sehnsüchtig nach Gotteserlebnis und Gottestiefe herumblättern? Nein, Jesus ist wirklich nicht der, den wir erwarten. Er ist so ganz anders! So unscheinbar! So menschlich. Er gibt so wenig her. Verwundert reiben wir uns die Augen. Ohne Donner und Gloria war da ein Mensch in der Weltgeschichte, wirkte in einem Winkel der Erde, hatte ein paar Anhänger, wurde umgebracht – das wars eigentlich.

Er aber wird auftreten und weiden in der Kraft des HERRN
und in der Macht des Namens des HERRN, seines Gottes.
Und sie werden sicher wohnen;
denn er wird zur selben Zeit herrlich werden,
so weit die Welt ist.
Und er wird der Friede sein.

Jesus ist eigentlich nicht der, den der Prophet erwartete, nicht der, den Israel erwartete, den die frühe Gemeinde erwartete und wir erwarten. Wieviel Kriege in der Welt, große und kleine, und kein Friede. Wieviel Not, Hunger, grausames Sterben – und keine Macht des Herrn. Wieviel Einsamkeit, Schmerzen, todesbanges Fragen – und kein sicheres Wohnen. Wieviel Hunger nach Gott, nach Gewissheit, nach Einheit mit dem Weltganzen gibt es. Dieser, der alles Sehnen endet, kam nicht. Es kam ein ganz anderer. Jesus kam. Er kam als Kind und lächelte und schrie wie ein Kind – ohne Macht. Er wuchs auf, sah die römische Besatzungsmacht und die Not seines Volkes – und er vertrieb die Soldaten nicht und heilte nur einzelne. Er wirkte eine kurze Zeit, redete, warb, verteidigte sich – das wars.

Doch warum setzte dieser Jesus sich durch, so weit die Welt ist? Wieso feiern auf der ganzen Welt Menschen, Gemeinden Weihnachten, die Geburt dieses unscheinbaren Menschen? Woher wissen seitdem Millionen und Millionen von Menschen auf der ganzen Erde: Er ist der verheißene Friede? Er ist der, der in der Kraft und der Macht Gottes gekommen ist? Wie kommt es, dass sie in ihm den sehen, den der Prophet mit den Worten verkündet hat:

Er aber wird auftreten und weiden in der Kraft des HERRN
und in der Macht des Namens des HERRN, seines Gottes.
Und sie werden sicher wohnen;
denn er wird zur selben Zeit herrlich werden,
so weit die Welt ist.
Und er wird der Friede sein.

Wir reiben uns die Augen und verstehen gar nichts. Dieses Kind, dieser Mensch Jesus ist nicht der, den wir wollen, wenn wir genau hinsehen. Doch je genauer wir hinsehen, wird aus diesem unscheinbaren Menschen ein Mensch, durch den Gott hindurchleuchtet. Wenn wir noch genauer hinsehen, dann erkennen wir in ihm Gott wieder. Doch wie geht das? Was ist geschehen? Es geht eine Kraft von diesem Menschen aus, die uns dazu führt, ihn anzustarren. Es geht eine Freundlichkeit von diesem Menschen aus, die uns dazu führt, uns geborgen zu fühlen. Es geht eine wissende Frage von ihm aus, die unser Herz öffnet und erkennen lässt: Mein Gott, was bin ich für ein Mensch, einer, der klein und kaputt, verzweifelt und ängstlich ist. Es geht ein Wissen von ihm aus, und er schaut mich an, und ich weiß: Er liebt mich, obwohl ich so bin wie ich bin. Es geht eine Macht von ihm aus, die mich neu macht, verändert, gottgemäss macht. Und schaue ich ihn an, lasse ich mich in seine Ruhe, in sein lichtvolles Wesen hineinnehmen.

Und wieder reibe ich mir die Augen: Was geht hier mit mir vor, etwas, das ich nicht erwartet habe. Etwas, das die Gemeinde, die Menschheit, das jüdische Volk nicht erwartet hat. Wir stehen vor Jesus Christus und sehen Gott in ihm. Aber dennoch: Wir mögen einen anderen Gott, wir erwartet einen anderen. Menschen weisen ihn ab, weg von der Tür! Wir treiben ihn in die Ställe der Welt, in die Hinterhöfe, in die letzten Ecken. Wir tun absichtlich das Gegenteil von dem, was er wollte, wir reden schlecht und gehässig über andere, wir grenzen aus, die wir nicht mögen und die uns nicht mögen, wir zerstören scheinheilig das bisschen Frieden unter uns Menschen. Wir gefallen uns in unseren Achs und Wehs, in unserer Schuld und Sünde. Nein, Menschen mögen Gott und seinen Liebeserweis in Jesus Christus nicht. Als Säugling wurde er in den Stall getrieben, als Kind vertrieben in ferne Länder, als Erwachsener verspottet und getötet. Begegnet dieser Jesus Christus in Menschen heute noch, auch sie werden häufig diesen Erniedrigungen ausgesetzt. Nein, Menschen mögen Gott und die Seinen nicht, weil er ihre Erwartungen nicht erfüllt.

Aber das eigenartige, wunderbare ist: Gott setzt sich in Jesus Christus durch. Die Fülle der Finsternis kann sein Lichtstrahl nicht verlöschen. Immer wieder wird unser finsteres, ängstliches, einsames Herz von seinem Licht getroffen – und wir schauen ihn an und sagen: Ich erwartete Dich nicht so, aber du bist es. Immer wieder werden Menschen in den finstersten und gewalttätigsten Situationen von seinem Licht getroffen – und sie schauen ihn an und sagen: Ich erwartete dich nicht so, aber du bist es. In ihren Krankheiten und Verzweiflungen sehen sie ihn an und sagen ihm: Ich wollte deine Hilfe – aber Du schenkst mir Ewigkeit.

Und so schauen wir auf das Kind Jesus, durch das Gott hindurchleuchtet, und werden eingetaucht in seine Macht, seine Kraft, seine Ruhe, seinen Frieden. Denn eigenartiges geschieht: schauen wir ihn an, dann ist unsere Not, unsere Krankheit, unser Widerstand nicht mehr der Mittelpunkt unseres Lebens. Der Mittelpunkt ist seine Nähe. Schauen wir ihn an, ersetzt er immer mehr unsere Menscheneinsamkeit durch Geborgenheit, unsere vielen Fragen durch sein Wort: Ich bin bei dir, ich bin da. Und er legt Gottes Namen auf uns, sodass wir in Gott Leben bekommen. Er weidet uns, wie der Prophet sagt, indem wir uns bei ihm im schweren Alltag geborgen wissen. Er schenkt uns Frieden, indem wir uns von ihm füllen lassen.

Wie kann das alles sein? Mensch, frag doch nicht, sondern sieh ihn an. Sieh an, das Kind in der Krippe, sieh ihn nur unverwandt an in seinem Wort, in seinem Geist – dann durchstrahlt sein Licht auch dich, hin zu den anderen.