Lukas 10,38-42: Ruhige Wahrheit gegen Geschrei

Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht im Lukasevangelium im 10. Kapitel:

Als sie aber weiterzogen, kam Jesus in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm ihn auf. Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihnen zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll! Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.

Soweit der Predigttext.

Heute haben wir überall Geschrei. Die einen schreien Politiker X muss her – die anderen schreien Politiker X muss weg! Die einen schreien ihre politische Meinung heraus – und die anderen schreien ihre politischen Meinungen heraus. Zeitungen und Zeitschriften versuchen sich durch politische Schlagzeilen zu übertönen, das Gelächter über den jeweils anderen dröhnt in den Ohren, es ist ein Spotten und Drangsalieren, dass man kaum noch so richtig versteht, worum es eigentlich geht. Hinzu kommt das Geschrei der Mörder in den mörderischen Ideologien, die mit allen technischen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, den Lärm unerträglich machen. Zu diesen Schreiereien kommt noch der Lärm derer, deren Schritte durch die Straßen hallen, es kommt das Zersplittern von Glas, das Knistern der brennenden Autos und Häuser. Man hört die Schreie der Betrunkenen, das schrille Gelächter der Überfröhlichen. Alle fordern dazu auf: Schrei mit uns mit, nicht mit den anderen! Mach bei uns mit, wir sind die Guten! Die anderen sind der Weltuntergang, sind Kinder des Teufels! Tut was, macht was, regt euch, kämpft, steht auf gegen die anderen! Ein wirrer und irrer Aktivismus befällt Menschen wie ein Virus – aber keiner weiß, wie die Welt wirklich gesunden kann. Das Weinen und Wimmern der Opfer, ihre trockenen Tränen nimmt kaum einer mehr wahr. Es geht unter in dem Geschrei der Aktivisten und Täter. Und zwischen all diesen Leuten gibt es diejenigen, die krampfhaft versuchen, die Welt irgendwie im Gleichgewicht zu halten: Sie pflegen die Verletzten, sie schreien: Hört doch auf!, sie weinen und sind verzweifelt, weil sie nicht erkennen können, wie sich alles wieder bessern soll.

Es hat sich seit der Zeit Jesu nicht viel geändert. Namen ändern sich und die Mächte, aber die Menschen sind gleichermaßen in Aufruhr. In der Zeit Jesu hieß es: Die Römer müssen weg! König Herodes (Antipas) muss weg! Es wurde gekämpft und man versuchte, normale Menschen auf die eigene Seite zu ziehen: Kämpf mit für die gute Sache! Kämpf mit für die Sache Gottes! Wenn du nicht mitkämpfst, wird die Welt untergehen! – Und gegen diesen Aufruhr haben sich mit martialischem Geschrei die römischen Soldaten eingemischt, Menschen wurden bekämpft, überfallen, abgeschlachtet, gekreuzigt. In das Geschrei derer, die auf der jeweils guten Seite kämpften, Römer wie Römergegner, mischte sich das Weinen der Opfer.

 Und in all diesem Geschrei und Getöse schauen wir in ein kleines Häuschen in Bethanien, das Häuschen der Geschwister Maria, Martha und Lazarus. Von Lazarus ist, warum auch immer, nicht die Rede. Aber von den zwei Schwestern. In dieses Häuschen wird nicht lange nach dieser im Predigttext geschilderten Situation Trauer einziehen, denn Jesus ist zwischen die Mühlsteine der Gewalttäter geraten und wurde hingerichtet. Aber noch wissen die beiden Frauen nicht, was auf sie zukommen wird.

Eine der beiden Frauen hört den Worten Jesu zu, die andere schuftet und werkelt, rennt herum. Maria jedoch hört zu. Sie hört nur zu. Sie sitzt zu Füßen Jesu – und hört zu. Es ist eine Oase der Ruhe, in die wir hineingenommen werden. Eine Welt des Zuhörens inmitten der Welt des Lärmens und des Geschreis, des Kampfes und der Bedrängnisse. Ein ruhiges, gelassenes Sitzen, das den Worten und dem Nachdenken unseres Herrn Jesus Christus lauscht. Sie hört der einfachen aber herrlichen Botschaft zu, einer Botschaft, die tröstet, einer, die Ruhe schenkt, einer, die dazu ermuntert, die Liebe Gottes des himmlischen Vaters zu erkennen. Gott wird es sein, der in all dem Chaos, das Menschen anrichten, seine Welt zur Vollendung führen wird.

In seiner Botschaft traut Jesus uns zu, in der Welt des Geschreis und des Gebrülls, der Welt der Übertrumpfungen und hysterischen Propaganda schlicht die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit Gottes zu sagen und zu leben, voller Liebe in der Kraft Gottes. Und diese Botschaft ist ganz einfach: Gott, der himmlische Vater liebt dich – und traut dir zu, Liebe weiterzugeben. Er traut dir zu, zu vergeben, ruhig, gewiss, ohne Aufregung und Hektik, ohne Spott, ohne Niedertracht und Verachtung anderer. Er traut dir zu, aus der Kraft Gottes den Irrenden zu sagen: Komm!

 Und Jesus sagt in einem anderen Kontext: Wer Ohren hat zu hören, der höre. Wer Ohren für das Wesentliche hat, der soll seine Ohren spitzen und zuhören, was Gott zu sagen hat. Inmitten all des Geschreis der Menschen – eine Oase der Ruhe, eine Oase, in der Gott spricht.

Und wir setzen uns wie Maria zu Füßen des Herrn Jesus und denken Mariagedanken: Ich höre, Herr. Rede Du.

Jesus ist nicht bei uns. Wie können wir uns zu seinen Füßen setzen? Wir können es uns vorstellen, er besucht uns, wir lesen sein Wort in der Bibel, wir beten: Komm, Herr Jesus!, wir sprechen mit ihm und wir lauschen auf das, was er unserem Herzen zu sagen hat.

Das ganze Geschrei der Welt möchte – wie das Geklapper der Töpfe der Martha – das Lauschen auf das Wort Jesu verhindern. Das Geschrei der Leute: Ihr müsst tun! Ihr müsst schaffen! Ihr müsst die Welt verbessern! Ihr müsst Partei nehmen – statt zu Füßen Jesu zu sitzen und seinen Worten zu lauschen – das Geschrei der Leute will verhindern, dass wir Jesus lauschen und zuhören. Wir müssen es einüben, das Zuhören. Und während wir es uns einüben, während wir versuchen, seinen Worten zu lauschen, hören wir, dass Jesus leise in unsere Wohnung eingetreten ist und zu uns redet. Doch dann kommt das Geschrei der Welt wieder in unser Herz und in unsre Seele und wir nehmen wahr, wie Jesus die Rufenden und Aktivisten zurechtweist: Seid still! Es ist jetzt richtiger zuzuhören. Und so hören wir, wenn wir zu Jesu Füßen sitzen, wie er uns beschützt – und so können wir dem Welt-Geschrei und den Welt-Aufruhr in unserem Kopf, in unserem Herzen, in unserer Seele sagen: Jesus Christus, mein Herr und mein Gott, sagte: Zuhören ist jetzt besser als sich mit den Schreienden und den Aktivisten welcher Art auch immer abzugeben. Und so lassen wir uns nicht beirren, sondern hören ihm, unserem Herrn Jesus Christus, zu.

Die Welt mag empört sein über diese Einstellung. Sie will wichtiger erscheinen als alles andere. Sie denkt, sie sei wichtiger als unser Herr Jesus Christus. Die Welt mag darum noch lauter schreien! Aber für uns, die wir zu Jesus Christus gehören, ist er wichtiger als alles Geschrei und Gedöns der Welt. Er ist unsere Orientierung, er ist es, dem wir unser Ohr, unser Herz unsere Seele leihen. Wir halten sie ihm hin. Keinen Ideologien, keinen Weltanschauungen und keinen politischen oder religiösen Schreihälsen, sondern allein ihm. Wir halten sie ihm hin, unser Herz, unsere Seele, damit er sie in Schwingung bringt, wie der Musiker sein Instrument.

Was sagt Jesus eigentlich der Maria? Wie vermag er ihre Seele, ihr Herz in Schwingung zu bringen? Wir wissen es nicht. Wir wissen nicht, was Maria so interessant fand, was sie ergriffen hatte. Aber das ist auch nicht wichtig, denn es war etwas, das zwischen Jesus und Maria abgelaufen ist. Wenn Jesus redet, zu Einzelnen redet, dann kann es etwas Intimes sein, etwas, das nur diesen Menschen angeht. Und so weiß ich auch nicht, was er Ihnen und Euch zu sagen hat, wenn ihr zu seinen Füßen sitzt, wenn ihr seinen Worten lauscht, abseits vom Geschrei der Welt. Wenn ihr eure Seele, euer Herz ihm hinhaltet, dann wird er euch Dinge sagen, die uns anderen Menschen gar nichts angehen. Er wird Euch Weisungen geben für Euer Leben, er wird Euch trösten angesichts all des Leidens, er wird euch Kraft geben, all den Schreiereien und den Rufen standzuhalten und fröhlich, dankbar, gelassen das tun, was er Euch zu tun und zu lassen aufgetragen hat.

Im Jahr 1936, als lautes Gedröhn, Geschrei, Prügeleien, Machtdemonstrationen, Marschmusik, Gemeinheiten, Zwänge und marschierende Stiefel verschiedener Ideologen die Hirne vernebelten, die Herzen mitrissen,

in einer Zeit, in der man zeigte, wer hier und da die Macht hatte, mit Fahnen und Parolen,

in Zeiten, in denen man unmenschliche Gesetze erließ und Unbarmherzigkeit als gute Tat forderte,

Zeiten, in denen man Worte verdrehte, Böses mit guten Worten bezeichnete und Gutes verhöhnte –

in dieser Zeit wendet sich Dietrich Bonhoeffer gegen Christen, die meinen, jetzt sei es keine Zeit zum Beten, jetzt sei es keine Zeit, in der Bibel zu lesen. Jetzt sei die Zeit gekommen, in der man Stellung beziehen muss, Zeit, in der man mitmachen muss. In diese Zeit hinein sagte Bonhoeffer:

„Die Fragen, die heute an uns gestellt werden, heißen: Wie lerne ich beten? Wie lerne ich die Schrift lesen? Entweder wir können den Menschen da helfen oder wir helfen überhaupt nicht.“

Wir Christen haben einen anderen Lebensstil. Wir müssen uns nicht dieses und jenes von irgendwelchen Christen oder Ideologen oder Nichtchristen insgesamt aufdrängen lassen. Wir gehören allein unserem Herrn Jesus Christus, und von ihm lassen wir uns für unser Leben Weisung geben. Er ist es, der uns Trost, Kraft, Liebe geben möchte – und unsere Aufgabe ist es, uns beschenken zu lassen mit dieser freundlichen Herrlichkeit Gottes. Wir sind die Melodie Gottes in der Welt des Geschreies, wenn wir uns ihm überlassen, ihm zuhören, und in seinem Auftrag unser Leben, unser Reden, Tun und Beten führen. Wir sind die Melodie Gottes, wenn wir nicht beginnen mitzuschreien, über andere herzufallen – sondern beginnen, ihm zuzuhören. Zu seinen Füßen zu sitzen und zuzuhören.

Und so kann auch unsere Wohnung zu einer Oase der Ruhe werden, in der wir auf unseren Herrn Jesus Christus lauschen. Wir setzen uns zu seinen Füßen und bitten: Herr, komm und rede du.

*

Manchmal geht mir die Ruhe auf den Keks. Ich habe nichts zu tun und verplempere meine Zeit, sagte Einer dem Heiligen.

Oh, sagte der Heilige: Das sind kostbare Zeiten, töte sie nicht mit Fernsehen und Handy. Ich liebe solche Zeiten, weil ich dann Zeit habe, mich Gott zuzuwenden ihm zuzuhören und zu beten.

Das ist meine Maria-Zeit. In dieser verändere ich betend mich und die Welt.