Mein Jesus (Lukas 22,47-53)

Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht im Lukasevangelium im 22. Kapitel:

Noch während Jesus sprach, kam eine große Gruppe Männer. Sie wurden von Judas, einem der zwölf Jünger, angeführt. Judas ging auf Jesus zu, um ihn mit einem Kuss zu begrüßen. Aber Jesus fragte ihn: »Judas, willst du den Menschensohn mit einem Kuss verraten?«
Jetzt hatten auch die anderen Jünger begriffen, was vor sich ging. Aufgeregt riefen sie: »Herr, sollen wir dich mit dem Schwert verteidigen?« Einer von ihnen zog gleich das Schwert, schlug auf den Diener des Hohenpriesters ein und hieb ihm das rechte Ohr ab. Aber Jesus befahl: »Hört auf damit!« Er berührte das Ohr des Mannes und heilte ihn.
Dann fragte Jesus die obersten Priester, die Offiziere der Tempelwache und die führenden Männer des Volkes, die gekommen waren, um ihn festzunehmen: »Bin ich denn ein Verbrecher, dass ihr euch mit Schwertern und Knüppeln bewaffnen musstet? Jeden Tag war ich im Tempel. Warum habt ihr mich nicht dort festgenommen? Aber jetzt ist eure Stunde da. Jetzt hat die Finsternis Macht.«

Soweit der Predigttext.

Ein kurzer Hinweis vorweg: Wenn ich in der Predigt von „Ich“ spreche, dann meine ich nicht mich, sondern mich als Teil der Menschheit, ich nehme die Rolle dessen an, der dem Soldaten das Ohr abgehauen hat, ich bin der ewige Jünger.

Mein Jesus wurde gefangen genommen. Seine Gegner waren unerbittlich. Unermüdlich versuchten sie ihn durch gefährliche Fragen zu verstricken, damit sie ihn guten Gewissens verhaften konnten. Verbittert versuchten sie seiner habhaft zu werden. Im Internet machen sie sich bis heute über ihn lustig, nennen ihn einen religiösen Idioten, einen Religioten, dem nur Religioten folgen. Sie halten ihm vor, was er alles nicht gesagt hat, werfen ihm vor, mit Taschenspielertricks die dummen Menschen umgarnt zu haben, werfen ihm Falschheiten vor. Weil sie aber an ihn selbst nicht herankommen, versuchen manche ihn zu verschweigen – und wenn er doch genannt wird, dann lächerlich zu machen. Den Namen meines Jesus vermeiden sie wie der Teufel das Weihwasser, als schämten sie sich, den wunderbaren Namen „Jesus“ auszusprechen. Und wenn er auch in ihren Augen ein gutes Wort gesagt hat, dann sagen sie nicht, dass es Jesu Wort war, sondern legen es anderen in den Mund oder sagen: Verfasser unbekannt. Ihr Traum scheint zu sein: Nehmen wir ihn fest, richten wir ihn in den Medien hin, lassen ihn verschwinden, indem wir ihn verschweigen! Und mein Jesus lässt sich von ihnen gefangen nehmen? Er lässt sich erniedrigen, geht so tief hinab, dass er sich nicht wehrt? Und nun kommen sie nachts. In der Dunkelheit. Mit ihren finsteren Herzen und finsterem Verstand verbreiten sie finsterste Finsternis.

Aber diese verbitterten und unerbittlichen Gegner sind nicht die eigentliche Gefahr. Judas hat ihn verraten. Verraten mit einem Begrüßungskuss. Einem Kuss, mit dem man Freunde begrüßt, mit denen gute Lehrer begrüßt werden. Verraten mit einem Kuss. Durch einen Freund. Die wirklichen Feinde sind nicht außerhalb der Kirche. Sie können nur wirken, wenn wir innerhalb der Kirche meinen Jesus verraten, wenn wir ihn verkaufen, wenn wir ihn verspotten. Im letzten Jahrhundert wurden in der Sowjetunion und in China Christen furchtbar verfolgt, ermordet, in Lager gesteckt, denunziert, standrechtlich erschossen, Familien wurden auseinandergerissen, Kinder mit den Eltern deportiert. Was sie meinem Jesus antun wollten, haben sie seinen Kindern angetan. Es war eine sehr schlimme Zeit. Als der Papst Johannes XXIII. einmal bei einem Diplomatentreffen neben einem sowjetischen Diplomaten saß, soll er sinngemäß gesagt haben: Ihr versucht die Kirche zu vernichten? Gebt euch keine Mühe. Das haben wir als Christen schon 1960 Jahre lang versucht, und es hat noch immer nicht geklappt. (*) Die wahren Feinde der Kirche sind in ihrem inneren Zirkel. Immer wieder finden wir auch in den Medien das Erschrecken über diejenigen, die Kinder missbrauchen, die Frauen überreden. Erschrecken über diejenigen, die Gelder veruntreuen und intrigieren. Manches Erschrecken mag in Medien und bei Kirchengegnern geheuchelt sein, weil man am liebsten die Kirche verschwinden lassen möchte – aber wir in der Kirche müssen erschrecken.

Matthäus, der Evangelist, erschrickt auch. Aber bevor das große Reinemachen in der Kirche beginnt, warnt er mit einem Gleichnis von meinem Jesus: Man kann das Unkraut nicht herausreißen, ohne manches Getreide zu beschädigen, denn wir Menschen können Unkraut vom Getreide nicht immer unterscheiden. Das bleibt allein Gott überlassen, der die Herzen kennt. Aber diejenigen, die offensichtlich Menschen erniedrigen, die werden ausgeschlossen werden, wie mein Jesus sagte.

Zu denen in dem engeren Zirkel, die meinem Jesus schaden, gehöre auch ich. Ich wollte im Affekt meinen Jesus verteidigen. Ich nahm mein Kurzschwert, das ich immer dabei habe, um damit essen zu können, mit dem man schnitzen oder etwas reparieren kann. Ohne zu denken schlug ich einfach zu und hieb dem armen Mann ein Ohr ab. Dass ich einfach aus dem Affekt handelte, sieht man sicher daran, dass es nur das Ohr war. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich ihn töten können. Aber all das tut mir furchtbar Leid: Ich folgte meinem Jesus seit zwei bis drei Jahren – und habe von ihm immer noch nichts gelernt? Ich schäme mich so. Seine Lehre ist so gut – doch ich handle nicht danach. Durch die gesamte Kirchengeschichte hindurch bewundere ich das, was er uns zu sagen hat – aber ich gehe dann doch meine eigenen Wege, tue das, was ich für gut und richtig halte, Jesus hin oder her. Und dann kommt sowas bei raus! Darum hat mich dann auch mein Jesus getadelt und hat wieder gut gemacht, was ich Übles getan habe. Aber das macht mein Jesus nicht immer. Und so ist nicht nur Judas eine Gefahr für die Kirche, ich bin es auch, der ihn verteidigen wollte. Ich bin eine Gefahr für meinen Jesus. Dabei meinte ich es doch nur gut! Aber auf ihn muss ich hören. Auf ihn!

Ja, wir sind ihm gefolgt. Fast drei Jahre lang. Wir dachten, dass er unsere Sehnsucht nach einem neuen Leben in der Gesellschaft stillt. Wir wollten anders leben. Wir waren eine Bewegung junger Menschen, die alles anders machen wollten. Wir wollten die Menschen vereinen, statt sie zu trennen. Alte und Junge, Frauen und Männer, Reiche und Arme, Kranke und Gesunde, Menschen mit Behinderungen und ohne Behinderungen – wir wollten alle unsere kaputte Gesellschaft heilen. Und Jesus hat so gut gehandelt und gesprochen! Er hat unsere Träume von einer guten Gesellschaft aufgegriffen – und er hat sie gelebt. Er konnte sie wirklich leben! Wir haben es versucht, aber wir stießen immer wieder an Grenzen. Wir konnten diesen Menschen nicht leiden, den haben wir abgelehnt, weil er uns Angst machte, über manche Gruppen haben wir uns arrogant und hochmütig erhoben, haben manche ausgelacht. Aber Jesus – mein Jesus war ganz anders. Er war unser Vorbild. Doch merkten wir immer wieder, dass wir an unsere Grenzen gestoßen sind. Er hat uns herausgefordert, aus uns alles Menschliche herauszuholen, was in uns war – aber auch er hat unsere Grenzen bemerkt und hat darum auch gelehrt, dass wir einander vergeben sollen. Unendlich häufig vergeben sollen. Ja, mein Jesus hat oft übertrieben, so fanden wir, die wir ihm folgten.

Und nun wurde er verhaftet. Warum ließ er das zu? Warum ist er nicht wenigstens geflohen? Ich verstehe meinen Jesus nicht, wir alle verstehen unseren Jesus nicht. Wir haben uns ein Bild von ihm gemacht, eine uns liebe Vorstellung – aber er entspricht ihr nicht. Er ist ganz anders. Er ist ganz, ganz anders. Etwas Besonderes! Sie werden ihn umbringen, wie sie schon so viele umgebracht haben. Einfach so. Aus reiner Willkür. Ist das alles schlimm und traurig.

*

Soweit die Stimme des ewigen Jüngers, der dem Soldaten das Ohr abgeschlagen hat.

Wie es weiterging? Wir wissen es alle. Mein Jesus wurde hingerichtet. Die Menschen, die ihm gefolgt waren, verkrochen sich in Hütten. Sie erinnerten sich in ihrer Trauer an seine wunderbaren Worte und wunderbaren Taten. Sie schämten sich, weil sie in diesen Menschen ihre Hoffnung gesetzt hatten – der nun begraben war wie ihre Hoffnungen. Das Leiden tropfte als Tränen auf den Boden. Der Magen stach, das Herz verkrampfte sich. Die Trauer durchschüttelte den ganzen Körper, wie in einem schweren Fieber. In diese Trauer mischte sich die Angst um ihr eigenes Leben hinein. Alles hatten sie verlassen, hatten Zeit und Beruf geopfert, um mit Jesus neue, gute zu bekommen – und nun müssen sie wieder zurück. Zurück verspottet wie getretene Hunde. Zorn gegen diesen Menschen, der sich nun so einfach hat festnehmen und hinrichten lassen, erregte sie. Sie versuchten diesen zu unterdrücken – den Zorn – aber aus „mein Jesus“ wurde „dieser Jesus“. Dieser Jesus hat uns verführt. Er hat uns träumen lassen – und unsere Träume sind furchtbar geplatzt.

Zwei Tage und zwei Nächte lang lebten sie in tiefer Dunkelheit, lebten in Verzweiflung und Einsamkeit, in Selbstvorwürfen und Vorwürfen an diesen Jesus. Und seither lebten zig Millionen Menschen so. Sie haben Jesus lieben gelernt, sie sind ihm gefolgt, doch dann verstanden sie ihn nicht mehr. Wir verstehen ihn nicht. Wir werden von schweren Tagen geschüttelt, Körper und Hirn werden geplagt. Ewig scheint die Zeit der Tränen, der Zweifel, der Schlaflosigkeit. Ewig wie der Tod. Wir erinnern uns an das, was er an uns getan hat, wir lesen in den Evangelien seine Worte, wir denken vor ihm nach im Gebet, wir suchen ihn, verstehen nicht, suchen intensiver, klammern uns an ihn fest. Klammern uns tapfer fest. Wie Sophie Scholl, die im Februar 1943 von den Nationalsozialisten hingerichtet wurde, schrieb: „Ich will mich an das Seil klammern, das mir Gott in Jesus Christus zugeworfen hat“ – selbst dann, wenn ich mit meinen erstarrten Händen nichts mehr fühle. 

Aber dann, am dritten Tag, schenkt er sich ihnen wieder ganz neu. Dann, am dritten Tag – auch wenn wir meinen, es habe ewig gedauert, schenkt er sich uns wieder neu. Er schenkt sich uns in einem neuen Licht. Es wird Morgen, es wird hell, Leib und Seele geraten in Aufruhr – aber nicht wegen der Trauer, sondern wegen der Freude, wegen des Wunders: mein Jesus Christus schenkt sich uns wieder neu. Nach einer gefühlten dunklen Ewigkeit schenkt mein Jesus sich uns wieder neu – und wir werden neu. Ostern! Ewiges Ostern! Ewige Auferstehung.    

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(*) Das wird auch vom Kardinal Consalvi gesagt, der das Napoleon entgegengehalten hat. Wie dem auch sei: Weder Napoleon noch der Kommunismus hat die Kirche zerstören können.