Hesekiel 18: Gefährdete Gerechte

Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht im Buch des Propheten Hesekiel im 18 Kapitel.

1 Und des HERRN Wort geschah zu mir: Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: »Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden«? So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel. Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne …

Wenn sich der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben. Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen, die er getan hat. Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der HERR, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt?

Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut Unrecht und lebt nach allen Gräueln, die der Gottlose tut, sollte der am Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll nicht gedacht werden, sondern in seiner Übertretung und Sünde, die er getan hat, soll er sterben.

Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Denn warum wollt ihr sterben, ihr vom Haus Israel? Denn ich habe kein Gefallen am Tod des Sünders, spricht Gott der HERR. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben.

Soweit der Predigttext.

Der Vater isst saure Trauben – dem Sohn werden davon die Zähne stumpf. Das ist häufig als ein altes – sagen wir – Naturgesetzt empfunden worden. Wenn Väter sich daneben benehmen, dann spüren das auch die Kinder. Aber auch umgekehrt: Wenn Kinder saure Trauben essen, wenn sie sich in den Augen vieler daneben benehmen, dann werden den Vätern die Zähne stumpf, dann fällt das auf die Väter zurück. Aber Gott sagt durch den Propheten: Das ist kein Naturgesetz! Niemand ist daran gefesselt. Im Gegenteil: Jeder ist für sich selbst verantwortlich, jeder ist selbst für das verantwortlich, was er tut. Eltern macht Gott nicht für die Kinder haftbar – Kinder macht er nicht für die Eltern haftbar.

Ich habe, wie für die heutige Predigt vorgeschlagen wurde, nur ein paar Verse aus dem langen Kapitel vorgelesen. In den nicht vorgelesenen Versen schildert der Prophet viele schlimme Vergehen. Auch wenn die Vergehen schlimm sind: Was auch immer Eltern und Kinder tun – sie werden von Gott nicht für den jeweils anderen haftbar gemacht. Was folgt daraus? Jeder hat die Chance neu anfangen, und er muss sich nicht an seine Eltern oder Kinder gekettet wissen. Wer sich Gott zuwendet, was auch immer Eltern oder Kinder angestellt haben – der wird von Gott angenommen.

Und das hat Folgen: Dürfen wir Kinder an Eltern und Eltern an Kinder ketten, wenn Gott es nicht tut? Sicher: Eltern und Kinder prägen einander. Nur: Vor Gott zählt das nicht. Jeder von uns ist frei, er ist verantwortlich für sich selbst. Jeder muss sich selbst für Gott entscheiden. So kann sich keiner herausreden und sagen: Ich glaube nicht an Gott, weil meine Eltern nicht geglaubt haben – aber es geht auch nicht, zu sagen: Ich glaube an Gott, weil meine Eltern geglaubt haben. Jeder muss selbst den Weg zu Gott finden. Und dieser Weg zeigt sich dann auch in unserem Verhalten. Wer den Weg zu Gott wählt, versucht in seinem Leben so zu handeln, dass es Gott gefällt.

Und das kann ein unberechenbarer Weg sein: Ein Gerechter kann vom Weg abkommen – und ein Gottloser kann den Weg finden. Keiner darf, bevor er bei Gott seinen Weg beendet hat, gelobt werden oder abgewertet werden.

Da ist ein Mensch, der wird von allen gemieden. Man schüttelt den Kopf über ihn, tuschelt über ihn und fragt sich: Wie kann aus dem nur so einer geworden sein!? Eigenbrötlerisch zieht er seinen Weg, mürrisch und abweisend oder in finsterer Gesellschaft. Wir meiden ihn. Ein paar Jahre später, vielleicht sogar ein paar Stunden später, hat dieser Mensch ein Erlebnis. Er bricht zusammen, erkennt seine Schuld, öffnet sich Gott und geht einen neuen Weg, einen ganz neuen Weg in Gemeinschaft, in Liebe und Hilfsbereitschaft.

Da ist ein Mensch, der wird von allen anerkannt. An ihm sieht man Gott wirken, er ist freundlich, zugänglich, hilfsbereit, gibt gute Ideen und Wegweisung. Wir loben ihn – und dann? Ein paar Jahre später, vielleicht sogar ein paar Stunden später, hat dieser Mensch ein Erlebnis, er bricht zusammen, will von Gott nichts mehr wissen, schlägt mit seinem Verhalten über alle Stränge.

Jeder Gerechte ist gefährdet auf seinem Weg und mag er auch noch so vorbildhaft und gerecht scheinen. Besonders gefährdet ist der Gerechte nicht, weil er sichtbar moralisch verkommen kann. Am Schlimmsten ist es, wenn sich die Selbstgerechtigkeit in uns Gerechte breit macht, die Selbstbezogenheit – alles hat sich um mich zu drehen. Ich bin der Mittelpunkt und der Maßstab für das Leben um mich herum. Schlimm ist die Selbstverliebtheit: Man gönnt sich Gutes, erwartet, dass andere mir Gutes tun. Oder die Selbstüberschätzung, der Selbstbetrug, der sich und andere mit einem falschen Schein betrügt.

Selbstgerechtigkeit, Selbstbezogenheit, Selbstverliebtheit, Selbstüberschätzung und Selbstbetrug – das sind große Gefährdungen. Warum? Weil der Gerechte, weil der Glaubende gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass er nicht auf sich selbst schaut, sondern auf Gott, dem er gehört. Der Gerechte ist immer auf Gott hin ausgerichtet und auf den Nächsten. Es geht um Liebe, Zuwendung, Vergebung, Hilfestellung. Und der Gerechte, der nur auf sich selbst sieht, der hat den Weg Gottes verpasst, der ist auf dem Irrweg. Er ist gott-los geworden, weil er auf sich selbst, anstatt auf Gott schaut.

Das ist darum so gefährlich, weil man solche Irrwege nur so schlecht erkennt. Wenn der Gerechte sich moralisch daneben benimmt, dann weiß er es ganz deutlich: Das will Gott nicht. Aber wenn man sich selbst in den Mittelpunkt stellt, dann merkt man das nicht so deutlich. Im Gegenteil, man meint, man habe ein Recht darauf. Auf diese Irrwege müssen wir ganz besonders Acht haben. Wir müssen im Gebet immer wieder bitten, dass Gott uns die Augen öffnen möge, damit wir uns so sehen, wie wir sind und nicht so, wie wir uns gerne hätten.

Wir betrachten uns gerne prüfend vor dem Spiegel, schauen nach jedem widerspenstigen Haar. Nehmen wir uns an jedem Tag auch einmal Zeit, uns mit Gottes Augen prüfend anzusehen: Wer bin ich? Wie bin ich? Das zu tun ist viel wichtiger, als sich um jedes Pickelchen im Gesicht zu kümmern. 

Wie auch immer unser Weg aussehen wird oder aussieht: Wir brauchen keine Angst zu haben zu versagen. Denn Jesus geht uns als guter Hirte nach. Im Neuen Testament finden wir den Satz: Werden wir untreu – Gott ist dennoch treu. Gott geht uns nach, wenn wir den Weg verfehlen, er ruft, er ist uns nah. Auch können wir auf seine Vergebung hoffen, auf seine Liebe bauen. Und wenn wir merken, dass wir Gott verfehlt haben, dann besteht für die ehemals Gerechten genauso die Möglichkeit, den guten Weg wieder zu finden wie dem Gottlosen. Vor allem sehe ich immer wieder, wie Gott selbst seine Gerechten vor Selbstgerechtigkeit bewahrt.

Woran merkt man das? Lässt mich ein Mensch mal links liegen – fange ich an zu explodieren. Aber habe ich schon mal daran gedacht, dass Gott ihn mir in den Weg gestellt hat, um meine Selbstbezogenheit in die Schranken zu weisen? Wenn ein Mensch mich falsch beschuldigt, dann kann ich zu Recht beleidigt sein – wirklich? Habe ich schon mal daran gedacht, dass das der Weg Gottes ist, um mich von meiner Selbstverliebtheit zu kurieren? Andere Menschen sind häufig die bittere Medizin, die Gott uns verschreibt, damit wir von unserer Selbstgerechtigkeit geheilt werden.

Darf ich mal aus dem Nähkästchen von mir und meinem Sohn plaudern? Kein Mensch hat mich jemals so zur Weißglut gebracht wie er, weil er einfach nicht das gemacht hat oder machen will, wie ich es für richtig halte. Irgendwann wurde mir von Gott gesagt: Junge, du siehst dich immer als ruhigen, friedliebenden Menschen an. Das ist Gottes Medizin! Siehst du, wie dünn diese friedfertige Schicht ist? Siehst du, dass du nur ruhig bist, wenn alles ruhig läuft? Das ist keine Kunst. Wirf dich auf mich, auf Gott, mit all deinen Schwächen, Ängsten und Sorgen. Aber nicht nur dann, sondern wirf dich auf Gott mit all deinen vermeintlichen Stärken, Freuden und Sorglosigkeiten. Ich will dich heilen! Und das, was für mich gilt, gilt auch für Sie: Wirf dich auf Gott mit all deinen Schwächen, Ängsten und Sorgen. Aber nicht nur mit diesen, sondern wirf dich auf Gott mit all deinen vermeintlichen Stärken, Freuden und Sorglosigkeiten. Er will dich heilen.

Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist, heißt es im Predigttext.

Wenn wir uns selbst prüfen, dann darf das nicht in einer andauernden und krankhaften Selbstbespiegelung enden. Denn dann schauen wir auch wieder nur auf uns selbst. Unsere Selbstprüfung muss damit enden, dass wir auf Gottes Liebe sehen und uns in seine Hand legen. Wir können beten: Gott, auch wenn ich mich selbst nicht einschätzen kann, du kennst mich. Danke, ich bin dein.

Wenn wir uns Gott zugewendet haben, dann folgt daraus ein Leben, das nicht mehr gottlos ist. Das bedeutet, dass wir uns dann jeweils verantwortlich wissen für den anderen, der sich nicht Gott zugewendet hat: Die befreiten Eltern beten für die noch gefangenen Kinder, die befreiten Kinder beten für die noch gefangenen Eltern. Befreite Menschen haben die Aufgabe, die Pflicht, sich in Liebe dem anderen liebevoll aber auch mahnend zuzuwenden, damit Menschen, die den Lebensweg ohne Gott in Angst aber auch in Angst vor dem Tod gehen, freie Menschen werden. Vor allem beten wir darum, dass Gott in seiner Liebe ihnen und uns gnädig sein möge. Denn er will nicht, dass der Mensch sterbe, er will ihn annehmen, zum ewigen Leben führen. Amen