Jesaja 29: Lichtblicke

Der Predigttext, der für den heutigen Sonntag vorgeschlagen wurde, steht im 29. Kapitel des Buches des Propheten Jesaja:

Starrt hin und werdet bestürzt, seid verblendet und werdet blind! Seid trunken, doch nicht vom Wein, taumelt, doch nicht vom Bier! Denn der HERR hat über euch einen Geist des tiefen Schlafs ausgegossen und eure Augen – die Propheten – zugetan, und eure Häupter – die Seher – hat er verhüllt. Darum wurde euch diese ganze Offenbarung wie die Worte eines versiegelten Buches, das man einem gibt, der lesen kann, und spricht: Lies das!, und er spricht: »Ich kann nicht, denn es ist versiegelt«; oder das man einem gibt, der nicht lesen kann, und spricht: Lies das!, und er spricht: »Ich kann nicht lesen.« Und der Herr sprach: Weil dies Volk mir naht mit seinem Munde und mit seinen Lippen mich ehrt, aber ihr Herz fern von mir ist und sie mich fürchten nur nach Menschengeboten, die man sie lehrt, darum will ich auch hinfort mit diesem Volk wunderlich umgehen, aufs Wunderlichste und Seltsamste, dass die Weisheit seiner Weisen vergehe und der Verstand seiner Verständigen sich verbergen müsse. Weh denen, die mit ihrem Plan verborgen sein wollen vor dem HERRN und mit ihrem Tun im Finstern bleiben und sprechen: »Wer sieht uns und wer kennt uns?« Wie kehrt ihr alles um! Als ob der Ton dem Töpfer gleich wäre, dass das Werk spräche von seinem Meister: Er hat mich nicht gemacht!, und ein Bildwerk spräche von seinem Bildner: Er versteht nichts!

Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden. Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen; und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels. Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten, welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen. Darum spricht der HERR, der Abraham erlöst hat, zum Hause Jakob: Jakob soll nicht mehr beschämt dastehen, und sein Antlitz soll nicht mehr erblassen. Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände – ihre Kinder – in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten. Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen.

Soweit der Predigttext.

Der erste Teil schildert die Blindheit der Menschen. Wie kommt es, dass Menschen Gott nicht erkennen? Wie kommt es, dass sie so blind sind und das nicht erkennen, was ganz deutlich vor Augen liegt? Wir Menschen sind taub für Gottes Wort, wir hören das nicht, was er uns zu sagen hat – ja wir wollen es nicht hören. Und wenn wir es hören, so sind wir Menschen in der Lage das, was wir sehen oder hören, so umzuinterpretieren, dass es das Gegenteil wird! Und wer alles ins Gegenteil uminterpretiert, wer Gutes böse nennt und Böses gut, wer die Menschen verführt, wie die Lemminge in den Abgrund zu rennen, der sie verführt, herumzuirren, mit dem handelt Gott wunderlich, seltsam. Das scheint aber nur seltsam und wunderlich für diejenigen, die alles ins Gegenteil verkehren, die selbst die Orientierung verloren haben. Gott handelt wunderlich und seltsam, indem er es einrichtet, dass am Ende keiner mehr da ist, der weise ist, der wirklich Verstand hat, man kann dann wirklich nicht mehr erkennen, was gut ist, was böse ist. Die Menschen rennen den Verführern nach – und irgendwann wissen sie gar nicht mehr, was nun richtig ist, was falsch. Alles ist irgendwie richtig, irgendwie falsch – keiner weiß mehr so richtig weiter. Man hofft, einen zu finden, der wenigstens den Anschein von Weisheit und Verstand hat – und dem rennt man dann panisch nach – in den Abgrund. Die Folge ist nicht etwa, dass wir Menschen angesichts dieser Erkenntnis demütig werden, still, erkennen, dass wir falsch handeln. Im Gegenteil: Wir plustern uns auf. Wir sind wie Tontöpfe – die dem Töpfer sagen: Du hast mich nicht gemacht. Wir sind purer Hochmut. Wir plustern uns auf: Ich habe mich selbst gemacht, ich bin, der ich bin, durch mich allein! Wir sind: „Wir haben uns selbst gemacht Töpfe“. Wir sind wie ein Bild, das den Maler belehren will.

Der Prophet sagt das nicht etwa heute – er sagte das vor ca. 2700 Jahren. Hat sich der Mensch geändert, seitdem?

Diesem traurigen Bild, das von uns Menschen gezeichnet wird, wird im zweiten Teil ein Text entgegengesetzt: Es kommt die Zeit, in der die Blinden wieder sehen – die Menschen Gott wieder erkennen. Es wird die Zeit kommen, in der die tauben Menschen – die Menschen, die Gottes Wort nicht mehr hören konnten, hören werden. Man wird nicht mehr herumirren, traurig, krank, verwirrt, man wird fröhlich sein, jubeln. Die Tyrannen und die Spötter, denen man vor lauter Verzweiflung folgte, weil man den Weg Gottes nicht mehr fand, die werden am Ende sein. Diejenigen, die das Gute böse nennen und das Böse gut, die sich einen Spaß daraus machen, alles umzuinterpretieren, diejenigen, die das Recht beugen, die Schwache anklagen, die Unschuldige vor das öffentliche Gericht zerren, die herumlügen – auch sie werden ihre Zeit gehabt haben. Die Irrenden werden Verstand annehmen, die Murrenden werden ihre Lektion bekommen.

Wann wird das sein? Wenn wir Menschen wieder Gottes handeln erkennen werden. Wann werden sie Gottes Handeln erkennen? Wenn sie die Kinder Gottes in ihrer Mitte wahrnehmen, so sagt es uns der Prophet.

Wir haben in dem Text also einen Kontrast: Die schlechte Welt – die gute kommende Welt. Die Welt, die der Mensch in seinem hochmütigen Wahnsinn zerstört – dagegen die Welt, die Gott in seiner Freundlichkeit herbeiführen wird. Die Erwartung dieser Welt Gottes macht Hoffnung, sie baut auf. Und auch Jesus spricht von dieser Erwartung, dieser Hoffnung in dunkler, trostloser, kaputter Zeit. Aber er sieht schon jetzt etwas, was die Menschen, die sich von dem Trostlosen, dem Kaputten in ihrer Verzweiflung bestimmen lassen, nicht sehen: Die Kinder Gottes in der Welt. Die Kinder Gottes, die sich nicht anpassen, sind in der Mitte der Menschen, die so rücksichtslos, lügnerisch, betrügerisch sind. Sie sind schon da – und sie verhalten sich schon jetzt so, wie es einmal sein wird: Sie vergeben, sie lieben, sie tun dem anderen wohl. Und so sieht der Prophet wie Jesus in der Dunkelheit Lichtblicke, Menschen als Lichtblicke. Ihr seid das Licht der Welt, sagt Jesus zu diesen Lichtblicken. Lebt als diese Lichter.

Sie finden in unserem Gemeindebrief, in der Himmelspost den folgenden Text:

  • Das Gute sehen lernen, zwischen den Menschen.
  • Das Lachen, die Freude, die Gemeinschaft, das Singen.
  • Menschen reichen einander die Hand, gehen miteinander schwere Wege, sie tragen einander die Last, sorgen sich um andere und kümmern sich. Menschen schließen Frieden, versuchen es miteinander neu, vergeben. Menschen sprechen einander gute Worte zu, streicheln Trost, nehmen in den Arm.
  • Sie setzen sich ein für die Gesellschaft, für ihr gutes Fortbestehen, für Demokratie, Meinungsfreiheit, für Menschenwürde, Recht, Gerechtigkeit und Liebe, sie opfern Zeit, Geld, Kraft, Gedanken und Gesundheit – und backen anderen Kuchen.
  • Das Gute sehen lernen – seht es, Freunde, das Herz entkrampft sich, das Hirn wird freier, die Seele leicht.
  • Das Gute sehen – ohne das Böse aus den Augen zu lassen – damit man weiß: Wofür man sich einsetzt, wofür man sich abmüht.

Das ist es, worum es geht. Sich nicht von der Dunkelheit das Leben verfinstern lassen, sondern die Lichtblicke sehen, die Gott uns in vielen Mitmenschen bereitet hat, wahrnehmen. Und zu diesen Lichtblicken sollen Kinder Gottes beitragen. Sie können es auch, denn sie leben im Geist Gottes. Wie schlimm ist es nun, wenn die Kinder Gottes versagen, wenn selbst sie keine Lichtblicke mehr sind? Wenn sie die glimmenden Dochte auslöschen, statt sie wieder anzufachen, die geknickten Rohre zerbrechen, statt ihnen wieder die Möglichkeit geben, zu wachsen? Wir Kinder Gottes, die wir auf uns schauen, statt uns vom Geist Gottes, vom Geist Jesu Christi leiten zu lassen, wir kreisen um uns, um unser Recht, um unser Vorankommen, um unser Vorteil – wie alle anderen kreisen wir um die Menschen, die uns beleidigen, die uns mit Ellenbogen stoßen – und wir stoßen zurück und zerbrechen sie vielleicht. Aber das ist ein Verhalten, das den Kindern Gottes nicht entspricht. Das will Gott nicht, dass sich seine Kinder, seine Lichtblicke, der Finsternis anpassen!

Kinder Gottes, die als Lichtblicke in der Welt leben, werden häufig angefeindet. Ja, auch Jesus konnte nur den Menschen helfen, die sich helfen lassen wollten. Auch er konnte dem Hass, der ihm entgegenschlug letztlich nicht ausweichen und ist ihm zum Opfer gefallen.

Aber diesem Hass etwas anderes entgegenzustellen, diesen Menschen, die irren, sich verirren, die Chaos um sich her verbreiten, die andere zerstören wollen, die Kaltherzigen, die selbst angesichts ihrer eigenen Kälte frieren, diejenigen, die Menschen verachten und auch sich selbst – diesen Menschen müssen Kinder Gottes etwas anderes entgegensetzen: Leben aus dem Geist Gottes. Sie müssen immer wieder versuchen, im Frieden auf sie zuzugehen, immer wieder vergebend. Kinder Gottes sind eben daran zu erkennen, dass sie den glimmenden Docht nicht auslöschen, dass sie das brechende Rohr nicht zerstören. Immer wieder die Hand reichen, um zu stärken. Immer wieder Wärme geben, damit die Kälte der Gottesgegner nicht siegt. Immer wieder Licht anzünden, damit die Dunkelheit nicht triumphiert!

Diese Verheißung – diese Zukunftsperspektive – schenkt Gott uns durch den Propheten. Wir können uns in diesem zweiten Teil des Textes wiederfinden: Kinder Gottes sind Lichtblicke.

Was ist, wenn wir uns jedoch eher im ersten Teil wiedererkennen? In der Unsicherheit, im Irren, im Kreisen um uns selbst, im Nichtverstehen, im Hochmut? Es ist nie zu spät, so sagt der zweite Teil des Predigttexts, sich in die Liebesbewegung Gottes zur Welt einzuklinken, in die Bewegung derer, die den Namen Gottes heiligen, ihn ernst nehmen, die sich als Kinder Gottes in die Liebesbewegung Gottes zur Welt hineinnehmen lassen. Und selbst wenn wir körperlich nicht mehr können, dann in dankbarem Gebet, im Jubel, wie der Prophet sagt. Es gibt Zukunftshoffnung – Gott verspricht es uns. Es gibt Zukunftshoffnung: Wenn wir wollen: Mit uns.