Der Apostel Paulus – oder einer seiner Schüler – schreibt der Gemeinde, warum er sich so für die Gemeinde einsetzt für sie kämpft:
Damit ihre Herzen gestärkt und verbunden werden in der Liebe und zu allem Reichtum an der Fülle der Einsicht, zu erkennen das Geheimnis Gottes, das Christus ist.
In Christus liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis.
Wie ihr nun angenommen habt den Herrn Christus Jesus, so lebt auch in ihm, verwurzelt und gegründet in ihm und fest im Glauben, wie ihr gelehrt worden seid, und voller Dankbarkeit. Seht zu, dass euch niemand einfange durch die Philosophie und leeren Trug, die der Überlieferung der Menschen und den Elementen der Welt folgen und nicht Christus.
Denn in Christus wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig, und ihr seid erfüllt durch ihn, der das Haupt aller Mächte und Gewalten ist.
Soweit unser Predigttext.
Ich mache jetzt etwas, was beim Predigen niemals gemacht werden sollte. Von sich selbst sprechen. Mein damaliger Predigtlehrer würde sich mit Grausen abwenden.
Ich habe den Predigttext schon häufiger als Herausforderung gehabt. Mein Versuch bestand immer wieder darin zu verdeutlichen, was der Satz bedeutet:
Denn in Christus wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig.
Das ist furchtbar schwer – und letztlich auch überheblich. Wie kann die Fülle Gottes, die Vollkommenheit Gottes, die Herrlichkeit Gottes in einer Predigt angemessen zu Wort kommen? Wird angesichts der Fülle, Vollkommenheit, Herrlichkeit Gottes nicht jedes Wort zu einer frommen Hülle, ein blasses Etwas, das vielleicht höchstens ein wenig künstliches Glitzer von Gott zu vermitteln vermag?
Als ich gelesen habe, dass dieser Predigttext in diesem Jahr wieder dran ist, machte ich mir wie in den Vorjahren erneut Gedanken, um die Fülle, Vollkommenheit, Herrlichkeit Gottes darstellen zu können. Auf einmal verstand ich: Der Versuch, die Fülle Gottes, seine Vollkommenheit und Herrlichkeit auszusprechen, muss scheitern, wenn wir einen anderen Weg gehen als Gott gegangen ist. Christus ist ein Geheimnis. Und bleibt ein Geheimnis. Wir können jedoch dem Geheimnis Gottes nachspüren, wir können versuchen, uns ihm anzunähern. Und das ist unsere Lebensaufgabe. Darum muss man, so schreibt der Apostel: kämpfen. Dafür muss man sich einsetzen. Es geht nicht darum, die Fülle, Herrlichkeit, Vollkommenheit Gottes darzustellen. Es gilt, sich im Leben und mit dem Leben dem Geheimnis um Gottes Herrlichkeit in Jesus Christus anzunähern.
Das Geheimnis Gottes, Jesus Christus, wird schon in den Schriften des Alten Testaments angedeutet. Wie die Sonne am Morgen den Himmel erleuchtet, bevor sie aufgegangen ist, so hat Gott Menschen berufen, hat er Propheten berufen, das Licht Gottes zu verkündigen, das in der Zukunft aufleuchten wird. Zukunft sehen – das ist für Menschen unmöglich. Nicht aber für Gott. Und so wiesen Propheten wie auch andere Autoren biblischer Schriften durch den Geist Gottes auf Jesus Christus hin. Christen fanden überall im Alten Testament – wie man in der PC-Welt sagen würde – Easter Eggs, die Gott versteckt hat. In der Kunst nennt man das seit Jahrhunderten Anamorphose: Es werden ganz bestimmte Perspektiven benötigt, um das vom Künstler Gemalte zu erkennen. Diese Hinweise halfen, die Herrlichkeit Gottes in Jesus Christus überhaupt sehen zu können.
Dass diese Texte wirklich auf Jesus Christus hinweisen, wird vielfach bestritten, vieles wird umgedeutet, wird als etwas gesehen, das nachträglich passend gemacht wurde. Vor allem dann, wenn Menschen ganz rational davon ausgehen, dass es Prophezeiungen nicht geben kann. Weil es keinen Gott gibt, lehnen sie solche Erkenntnisse ab. Wer aber glaubt, dass es Gott gibt, traut Gott auch zu, auf seinen Messias, seinen Christus hinzuweisen, lange, bevor er ihn sendet, lange bevor er sich in ihm zu erkennen gibt. Aber es geht vor allem um etwas anderes: Der Geist Gottes lässt Bezüge herstellen, damit wir besser verstehen können. Wie auch immer etwas letztlich zu verstehen ist: Es geht darum, dass Gott uns Verstehenshilfen gibt. Wir müssen sie nur geduldig und mit Gott liebendem Herzen sehen lernen. Ohne diese Easter Eggs Gottes, ohne die Verstehenshilfen ist Jesus Christus nicht richtig zu erkennen.
Unser Wort „Text“, das wir aus dem Latein übernommen haben, bedeutet: Tuch, Gewebtes. Der Glaube lässt die biblischen Texte die biblischen Tücher wunderbar transparent werden. Auf einmal können Menschen durch das dichte Tuch hindurchsehen. Das Tuch wird durchsichtig. Aus dem dicken Leinentuch wird ein durchsichtiges Chiffontuch. Oder aus den vielen durchsichtigen Tuchschichten werden die Tücher Stück für Stück heruntergenommen – und wir können sehen. Das lernen wir von den frühen jüdischen Christen, die ihre alttestamentlichen Schriften besser kannten als wir. Die Fülle Gottes ist in den Worten alttestamentlicher Glaubender eingewoben – eingewoben wie ein Goldfaden in ein kostbares Gewand.
Die Fülle Gottes webt sich mit dem Goldfaden Gottes weiter ein – und es erstrahlt nach dem Morgenlicht die Sonne:
Die Jugendliche Maria aus Nazareth lässt Gott in sich geboren werden, öffnet ihr Herz Gott, der durch sie wirken möchte. Der Mann Joseph, dem Gott half, die richtigen Entscheidungen zu treffen, lernte, auf Gott aufmerksam zu werden. In diesen beiden wunderbaren Menschen spüren wir ein kleines bisschen von der Fülle Gottes wirken. Dann natürlich in dem Sohn Jesus Christus. Seine Worte, seine Lehren, seine Taten, sein ganzes Erscheinungsbild, half manchen Menschen, ihm außerordentlich viel Vertrauen entgegenzubringen, Menschen fühlten sich geheilt, befreit, angenommen, aufgenommen. Dieser Jesus Christus war normaler Mensch – und so haben ihn andere auch wahrgenommen. Als gefährlichen Provokateur, als einer von unwürdiger Geburt, als Hochstapler. Sie haben ihn angeklagt, gefoltert, verspottet, am Kreuz hingerichtet. Diese Menschen sahen keine Fülle, keine Vollkommenheit, keine Herrlichkeit Gottes in ihm. Sie sahen nur einen Menschen, den man beseitigen kann und muss, weil er stört. Aber andere Menschen sahen mehr in diesem Jesus Christus. Menschen mit friedfertigem Herzen, Menschen in Sehnsucht nach Gottes neuer Welt, Menschen, die sich für Gemeinschaft und Liebe einsetzen – sie sahen, in diesem Jesus aus Nazareth
wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig.
Denn sie waren, wie der Predigttext weiter ausführt
erfüllt durch ihn.
Und so wurden die Zeichen der Armut, der Unbedeutendheit – so wurde der Weihnachtsstall Zeichen der Fülle Gottes. Viele Menschen weltweit haben es verstanden. Sie haben sehen gelernt. Sie haben die vielen undurchsichtigen Tücher beiseiteschieben können – und durch das transparente Tuch das Geheimnis Gottes ein wenig wahrnehmen können.
Und so wurde das Zeichen des Todes, das Foltergerät, das Kreuz nicht zu einem Zeichen der Vernichtung – es wurde zu einem Zeichen der Vergebung, der Rechtfertigung, der Auferstehung, Zeichen des Lebens. Auch hier: Viele Menschen weltweit haben es verstanden. Sie haben sehen gelernt. Sie haben die undurchsichtigen Tücher beiseiteschieben können – und durch das transparente Tuch das Geheimnis Gottes ein wenig wahrnehmen können. Zumindest lernen wir es immer besser erkennen, wenn wir wollen. Wenn wir das, was wir bisher erkannt haben an Gottes Fülle, als Herausforderung nehmen, immer weiter dieser Fülle nachzuforschen. Wenn wir sie mit dem Leben erfassen suchen, uns ergreifen lassen.
Und so wurde Gott in Jesus Christus Mensch – nicht als Imperator, als Herrscher und Schreckensherrscher, nicht als eine große vom Himmel kommende Erscheinung, die uns bis heute erschrickt – er wurde Mensch in einem kleinen Säugling. Unbedeutend, unscheinbar, unbeweisbar. Viele Menschen der Welt haben ihn kennengelernt, und so strahlt von den vielen Krippenbildern eine wunderbare Ruhe aus. Eine große Würde und Vollmacht.
Die biblischen Geburtsgeschichten sind voller Bewegung: Hirten erkennen das Licht Gottes und rennen um die Wette in den Stall, die Weisen aus dem Morgenland machen sich auf, angelockt von dem Stern, der sie ins Unbekannte führt, Engel stellen Verbindung her zwischen Gottes- und Menschenwelt. So berichten uns die Evangelisten, damit auch wir für viele Unbedeutende uns aufmachen, von Gottes Licht angestrahlt, aufmachen zu dem, der die Fülle ist. Nicht in menschlicher Herrlichkeit finden wir ihn. Gottes Fülle finden wir im Unbedeutenden, im Unbeweisbaren. Nicht in menschlicher Vollkommenheit. Gottes Fülle finden wir in dem Menschen am Kreuz und im leidenden Menschen. Gottes Fülle finden wir in dem hilflosen Säugling: Jesus von Nazareth und in den hilflosen Menschen seither.
Wir haben einen wunderbaren Glauben. Der Glaube an Jesus Christus ist ein Prisma. Leuchtet das Licht Gottes hindurch, dann strahlt es aus auf unser Leben und auf das Leben anderer. Ohne das Licht ist das Prisma einfach nur ein Gegenstand. Trifft uns Menschen das Licht Gottes, dann beginnen wir unbedeutende, in sich zerrissene und zweifelnde Menschen zu leuchten. Ein Geheimnis. Wir strahlen, wie der Predigttext sagt,
erfüllt durch ihn.