Markus 2,1ff.: Jesus-Schreck

Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht im Markusevangelium im 2. Kapitel:

Und nach einigen Tagen ging er wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war. Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort. Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.

Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein? Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen? Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher? Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim! Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.

Soweit der Predigttext.

Seit Jesus ist nichts mehr so auf der Erde, wie es vorher war. Wir Menschen stecken Gott in ein Schublädchen – und so wie wir uns Gott vorstellen, muss er auch sein. Und das erfahren wir in der Geschichte von der Heilung des Gelähmten.

Dass Gott Mensch wurde – das kann nicht sein! Dass ein Mensch herkommt und Sünden vergibt – das kann nicht sein! Dass einer dann auch noch einen Gelähmten heilt – das kann nicht sein!

Jesus bringt auf der ganzen Ebene Unordnung in das Leben, in das Denken, in den Glauben der Menschen. Er ist der Hausfrauenschreck: Wo er hinkommt, da gibt es Unordnung! Wie sollen sie jetzt diesen ganzen Staub und Dreck, der durch das Dachaufbrechen entstanden ist, wegbekommen? Er ist der Schreck der Hausbesitzer: Was das wieder kostet, das Dach zu reparieren! Er ist der Schreck der Frommen, die alles beobachten: Wenn irgendeiner daher kommt und Sünden vergibt, was passiert dann mit unserem Tempel – nur an ihm allein darf man Opfer bringen, damit man die Sünden vergeben bekommt! Er macht das ganze Wirtschaftssystem kaputt, wer kauft dann noch Opfer-Schafe, Opfer-Tauben, wenn man einfach so Sünden vergeben darf?

Jesus ist der Schreck für den Gelähmten! Warum für den Gelähmten? Der Gelähmte ist passiv. Er tut nichts, er sagt nichts, er liegt nur auf seinem Teppich. Er wird von vier Männern herbei gebracht. Ob sie ihn gefragt haben? Ob er es befahl? Wer waren die Männer? Sklaven? Freunde? Diener? Söhne? Sie brachten ihn einfach zu Jesus. Und dann machen diese Männer so ein Aufhebens – vielleicht will er all das gar nicht? Sie machen das Dach kaputt, sie lassen ihn, den vom Staub Hustenden hinab vor die Füße Jesu. Da liegt er nun dreckig und hustend vor den kritischen Augen der Frommen und den hustenden und Augen reibenden Gaffern, die Jesus sehen wollten. Und dann spricht Jesus auch noch seine Sünden an, die ihm vergeben wurden. Was soll das? Hat er Jesus jemals dazu autorisiert, ihn als Sünder hinzustellen? Was sollen nun die Leute von ihm denken? Ist er schlimmer gewesen als die anderen? Und dann entspinnt sich auch noch über ihn eine Argumentation – hilflos verfolgt er das Ganze – er kann nichts sagen, man redet über den auf dem Fußboden Liegenden hinweg. Schlimme Situation das Ganze. Und dann: Dann sagt Jesus auch noch: Nimm deinen Teppich und geh! Habe ich ihn darum gebeten, geheilt zu werden? Ich will ja gar nicht herumlaufen. Das war immer so toll, dass die anderen mich herumgetragen haben. Ich musste nichts tun, ich konnte nur befehlen. Ich musste keine Verantwortung tragen, aber ich konnte anderen sagen: Tragt ihr für mich Verantwortung! Das war so klasse. Ich konnte mich wie ein König von vorne und hinten bedienen lassen! Wollte ich geheilt werden? Was haben die Männer nur angerichtet, dass sie mich hierhergeschleppt haben. Und nun diene ich auch noch als Demonstrationsobjekt für die Macht dieses Jesus aus Nazareth. Wer ist das überhaupt? Aber ich tue ja, was er befiehlt, es wird sonst noch peinlicher, wenn ich jetzt liegenbleiben würde. Ich stehe auf. Aber ich haue ab. Nichts wie weg hier.

Und so stand der Geheilte auf – und ging. Ohne Reaktion. Reaktion wird nur von den Gaffern geschildert: Sie waren begeistert und riefen: So etwas haben wir noch nie erlebt! Sie loben Gott – und dieser Gotteslob schallt hinter dem Geheilten hinterher, der nur weg will, nichts wie weg. Und jetzt? Wo soll er hin? Was soll er machen?

Ja, Jesus ist überraschend – und nichts ist mehr so wie es war. Und das gilt auch für uns, die wir die Geschichte lesen und betrachten. Wir denken darüber nach – über Sünden-Vergebung, wir denken über das nach, was wir im Leben alles so verbockt und vermasselt haben – und wir geben aber nicht selten anderen dafür die Schuld. Aber dennoch wird uns Unwohl – und wie können wir unsere Schuld loswerden? Einfach so? Ohne große Taten, ohne Opfer? Ja, im Namen Jesu: Deine Schuld ist dir vergeben! Warum? Weil Gott uns in Jesus Christus liebt. Darum können wir im Namen Jesu die Schuld vergeben – und dadurch werden wir von den Fesseln der Vergangenheit gelöst und können unser Leben neu leben, frei – aber im Dienst Jesu Christi. Nicht im Dienst der Sünde und der Schuld. Deine Sünden sind dir vergeben – du bist frei, um Gottes Willen zu tun.

Ja, Jesus ist überraschend – und nichts ist mehr so wie es war. Und das gilt auch für uns, die wir die Geschichte lesen und betrachten. Wir denken darüber nach: Heilung? Kann ein Mensch so heilen? Kann Jesus auch mich heilen, der ich an Leib und Seele verwundet bin? Der ich mich so oft gelähmt fühle, depressiv, ängstlich, trostlos, einsam? Kann er das? Und so überlegen wir hin und her – und wir fragen uns. Was würde Jesus mir sagen, damit mein Leben aus der Lähmung neu erstehen kann? Welchen Weg würde er mir weisen? Nicht, nimm den Teppich und gehe, sondern vielleicht: Öffne dich für die Menschen um dich herum, gehe zu ihnen, zeige ihnen deine Nähe, deine Hilfe. Ich sage: Ich habe Angst vor Menschen, davor, was sie sagen und denken könnten, ihr Lärm, ihr Chaos, den sie verbreiten, macht mir Angst, schreckt mich zurück! Würde Jesus mir vielleicht sagen: Steh auf, bete für sie, damit sie einen neuen Weg gehen können, den Weg mit Gott. Und ich öffne dich, damit Du keine Angst empfinden musst, sondern Dankbarkeit darüber, dass ich, Jesus Christus, Gott, bei dir bin.

Ja, Jesus ist überraschend – und nichts ist mehr so wie es war. Und das gilt auch für uns, die wir die Geschichte lesen und betrachten. Wir denken darüber nach: Was sagt er eigentlich über den Glauben? Euer Glaube hat euch geholfen! Was ist denn das „Glaube“? Das Wörtchen Glaube bedeutet Vertrauen. Aber, es bedeutet im Mund Jesu noch nicht, was es dann später bedeutet. Jesus spricht im Kontext von Wundern häufig von Glauben. Und so kam man auf die Idee, dass man sagte: Man muss nur glauben, dann wird man auch gesund. Der Glaube ist also etwas, das von mir ausgeht und aufgrund meiner Psyche zu meiner Heilung beiträgt. Auch ohne Jesus. Und das ist vollkommen falsch.

Jesus spricht immer vom Glauben der Menschen dann, wenn sie irgendeine Schwierigkeit überwinden mussten auf dem Weg zu Jesus. Die Schwierigkeit in unserem Text bestand darin, dass sie aufgrund der Menschenmenge nicht zu Jesus durchdringen konnten. Die Gaffer machen einfach keinen Platz! Doch die Männer geben nicht auf. Sie überlegen sich: Wir kommen wir dennoch zu Jesus? Wie können wir diese Herausforderung, diese Schwierigkeit überwinden? Und sie kommen auf die Idee, den Gelähmten durch das Dach vor Jesu Füße zu legen. Das Hindernis vertrauensvoll überwinden – das ist Glaube. Eine andere Geschichte: Eine Frau hat Blutungen. Sie ist unrein. Sie darf Menschen nicht berühren, damit diese nicht auch unrein würden. Und dann? Sie berührt Jesus heimlich. Sie hat es gewagt, das traditionelle Hindernis zu überwinden: Du darfst nicht! Nachdem Jesus das herausbekommen hatte, bekannte sie ihre Schuld und Jesus sprach zu ihr: Dein Glaube hat dir geholfen. Gehe hin in Frieden. Eine andere Geschichte: Ein Mann kommt mit seinem Sohn zu Jesus. Der Sohn hatte wohl Epilepsie und warf sich überall hin, sogar ins Feuer. Und der Vater wollte, dass Jesus den Sohn heilte. Jesus fragte ihn, ob er glaube, dass er das tun könne. Doch der Vater konnte das Hindernis seines Unglaubens nicht überwinden. Das einzige, was er konnte, war, zu schreien: Ich glaube – beseitige du meinem Unglauben! Ich will das Hindernis überwinden und tue es hiermit, aber ich kann es einfach nicht überwinden. Dieses Hindernis, dieser Glaube ist zu groß für mich. Doch Jesus half dem kranken Sohn. Und so gibt auch uns diese Geschichte für unser Leben zu denken: Welche Hindernisse liegen zwischen mir und Jesus? Kann ich sie überwinden? Will ich sie überwinden? Will ich wirklich – in dem Sinn glauben – mich Jesus Christus ganz ausliefern und mich in seine Hände legen?

Jesus ist überraschend, erschreckend überraschend. Und so richten wir uns auch darauf ein, einfach zu sagen: Ich glaube, beseitige meinem Unglauben. Und wir denken: Ach ja, Jesus wird es dann schon irgendwie richten. Aber dieser Schrei des Vaters kommt nicht aus der Bequemlichkeit heraus, aus dem Gefühl: Nun ja, mache ich es halt so, weil ich nicht anders mag. Es ist der Schrei der Verzweiflung. Wenn wir diesen auch in uns spüren, dann mag dieses Gebet auch unsere Herzen und Sinne bestimmen: Ich will ja glauben – aber ich kann es nicht, ich will alle Hindernisse, die mich daran hindern, dir zu vertrauen überwinden, aber sie sind zu groß! Wenn dieser Schrei aus dem Herzen kommt, wird Jesus auch mit uns barmherzig sein.

Aber vielfach fordert er eben, dass wir wirklich alles tun, um selbst die Hindernisse zwischen Jesus und uns überwinden. Welche könnten das sein? Undankbarkeit kann uns von Jesus Christus fernhalten. Von Jesus kann uns das falsche Gottesbild fernhalten: Ich will nur um etwas bitten – dann wird er es auch schon irgendwie tun. Wir stecken Gott, wie die frommen Menschen in der Geschichte in eine Schublade. Und so wie wir denken, dass er ist, soll er sich gefälligst auch verhalten. Doch Gott ist überraschend! Er ist kein Schalter damit wir von Jetzt auf Gleich ins Wohlgefühl reinrutschen. Er ist kein Schalter, der unsere Bitten erhört. Gott ist kein Schalter – Glaube ist vertrauen – und Vertrauen ist ein Ausdruck der Beziehung des Miteinanders, des aufeinander Hörens und Achtens. Was uns vielfach daran hindert, Hindernisse zu Jesus zu überwinden ist, dass wir uns von Gott ein falsches Bild machen, uns ihn falsch vorstellen und wenn er dem Bild nicht entspricht, dann machen wir ihn zur Schnecke, statt uns selbst auf den Weg zu machen, dieses Hindernis zu überwinden. Die Götter benutzen, als Hilfestellung im Leben – das ist unsere uralte Menschheitsreligion.

Aber das hat mit dem Gott, den Jesus Christus „Vater“ nennt und der auch unser „Vater“ ist, nichts zu tun. Wer das Hindernis zu Gott überwindet, legt sich in die Hand Gottes in schlimmen Tagen und in guten Tagen. Er steht mit Gott in Kontakt, durch Beten, durch Hören auf Gottes Wort, durch Hören auf Gottes Wort in uns selbst, in guten und bösen Tagen. Glauben, vertrauen, das heißt: Mit Gott in Jesus Christus sein Leben leben, sein Leben führen, allen Hindernissen zum Trotz.

Ja, Jesus ist überraschend – und nichts ist mehr so wie es war. Und das gilt auch für uns, die wir die Geschichte lesen und betrachten. Wir denken darüber nach: Wollen wir überhaupt, dass Gott unser Leben bestimmt? Wollen wir geheilt werden? Wir richten uns auch darin ein, bequem zu leben. Wir richten uns ein, möglichst den Alltag nicht stören zu lassen. Wollen wir zulassen, dass Jesus Christus unseren Alltag stört, uns fordert, uns auf die Beine stellt und sagt: So, mein Lieber, so, meine Liebe, jetzt aber los! Wollen wir das – wollen wir das wirklich? Der Alltag der wird nie mehr so, wie er vorher war. Er wird nicht mehr von unserer Bequemlichkeit bestimmt werden, sondern von den Herausforderungen, vor die Gott uns stellt. Und so ist der Glaube im Sinne Jesus niemals da, sondern wir werden immer wieder herausgefordert, Hindernisse auf dem Weg zu Jesus vertrauend zu überwinden. Aber wenn wir sie vertrauend auf dem Weg zu Jesus hin überwinden, dann wird er uns einmal sagen: Dein Glaube hat dir geholfen. Geh hin in Frieden – komm her in meinen Frieden. Ja, Herr Jesus Christus, werden wir ihm antworten, danke, für Deinen Frieden. Amen.