Römer 9,14-24: Gottes Liebe ist größer als wir denken

Ich lege als heutigen Predigttext nicht den für diesen Sonntag vorgeschlagenen Predigttext zugrunde, sondern auf Wunsch den vom letzten Sonntag. Er steht im Brief des Paulus an die Römer im 9. Kapitel.

Paulus beschäftigt ein Problem. Er ist Jude und er möchte, dass alle Juden wie er Zugang finden zu Jesus Christus, seinem Herrn. Doch erfährt er großen Widerstand. Großen Widerstand erfährt er auch darum, weil er zu den Heiden geht und ihnen das Evangelium verkündigt. Und viele Heiden kommen, hören und bekennen sich zu Jesus Christus, zu ihrem Herrn. Und Menschen seines Volkes kommen zu ihm und sagen:  Das geht doch nicht Gott ist unser Gott, und wie kommst du dazu, Heiden zu unserem Gott einzuladen? Und das beschäftigt Paulus: Juden, sein eigenes Volk, das Volk, das Gott erwählt hat, kommen nicht zu Jesus Christus – und wildfremde Völker, die Gott mit Moses nicht erwählt hat, die kommen und bekennen sich zu Jesus als Christus. Und als er so durch die Stadt Korinth geht, in der er zu dieser Zeit lebt, sieht er einen Töpfer. Er beobachtet ihn – und sieht, wie dieser Ton formt. Der eine Tonklumpen wird für wertvolle Gefäße genommen, ein anderer wird ohne ersichtlichen Grund zu Alltagsgefäßen geformt. Ein dritter Klumpen missrät – und wird weggeworfen. Da kommt ihm folgender Gedanke – und er versucht ihn mit Hilfe seiner Tradition der Bibelauslegung zu verbinden:

In den Versen 14-24 heißt es:

Was sollen wir denn hierzu sagen? Ist denn Gott ungerecht?

Denn er spricht zu Mose (2.Mose 33,19): »Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.«

So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.

Denn die Schrift sagt zum Pharao (2.Mose 9,16): »Eben dazu habe ich dich erweckt, damit ich an dir meine Macht erweise und damit mein Name auf der ganzen Erde verkündigt werde.«

So erbarmt er sich nun, wessen er will, und verstockt, wen er will.

Nun sagst du zu mir: Warum beschuldigt er uns dann noch? Wer kann seinem Willen widerstehen?

Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so? Hat nicht ein Töpfer Macht über den Ton, aus demselben Klumpen ein Gefäß zu ehrenvollem und ein anderes zu nicht ehrenvollem Gebrauch zu machen? Da Gott seinen Zorn erzeigen und seine Macht kundtun wollte, hat er mit großer Geduld ertragen die Gefäße des Zorns, die zum Verderben bestimmt waren, damit er den Reichtum seiner Herrlichkeit kundtue an den Gefäßen der Barmherzigkeit, die er zuvor bereitet hatte zur Herrlichkeit. Dazu hat er uns berufen, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden.

Soweit der Predigttext.

Was sagt der Predigttext, der beim ersten Hören wahrscheinlich recht kompliziert klingt? Der Predigttext sagt: Gott erwählt wen er will – Gott verwirft, wen er will. Der Mensch ist ein Klumpen Ton in der Hand Gottes.

Das mögen wir nicht hören – und es ist, so gesagt, auch falsch. Doch sagt Paulus das wirklich?

Predigttexte wurden durch eine Kommission in einer Perikopenordnung festgelegt.[1] An der Auswahl dieses Predigtextes aus dem Römerbrief können wir etwas Eigenartiges erkennen: Er ist mitten aus einem Argumentationszusammenhang herausgerissen worden. Was bedeutet das?

Ich sagte: „Gestern war´s ein schöner Tag, weil ich meine Freunde besucht habe!“ Ein Hörer erzählt einem anderen weiter: „Wolfgang hat gesagt, gestern war´s ein schöner Tag – dabei hat es doch pausenlos geregnet. Ist der doof?“ Wenn nicht die gesamte Aussage berücksichtigt wird, dann kann man anderen alles Mögliche an Üblem in den Mund legen. Natürlich habe ich gesagt: „Gestern war´s ein schöner Tag“ – aber ich habe nicht über das Wetter gesprochen. Ich habe das gesagt, weil ich bei meinen Freunden war. Das haben Sie sicherlich auch schon erlebt. Sie sagen etwas und dann ziehen andere darüber her. Sie haben das gesagt, worüber sich die anderen den Mund zerreißen, aber Sie haben das nicht so gesagt oder in anderen Zusammenhängen.

Das können wir immer wieder sehen, dass Menschen über andere herziehen, indem sie sie nur halb oder bewusst falsch zitieren. Denken wir nur mal an die Nachrichten der vergangenen Wochen. Da wird behauptet, der Politiker hat was gegen XY gesagt. Ein Halbsatz wird zitiert – und der belegt es auch. Aber der ganze Satz ist zu hören – dann stimmt der Vorwurf aber nicht mehr. Eine ehemalige Fernsehmoderatorin sagt einen Halbsatz – alle Welt fällt über diesen her und das, was sie wirklich gesagt hat, will keiner mehr hören. Und so geht es und geht es. So werden missliebige Personen aus Politik und aus dem Journalismus, aus Kirchen, der Rechtsprechung und aus dem privaten Leben rausgeworfen. Man braucht diese falschen Beschuldigungen, diese Halbsätze. Man wartet darauf, um missliebigen Personen ans Bein pinkeln zu können.

So geht es auch unserem Apostel. Was hat er nicht alles schon zu seinen Lebzeiten ertragen müssen – und das geht die ganze Kirchengeschichte hindurch so. Als Frauenfeind, Heidenfeind, Judenfeind, Gottesfeind, Menschenfeind usw. wird er beschuldigt. Doch was sagt er wirklich? Wir können hier nicht den ganzen Paulus darlegen, sondern nur fragen, was sagt er eigentlich in Röm 9-11? Diese Kapitel müssen wir insgesamt betrachten, wenn wir den Predigttext verstehen wollen. Was davor und danach gesagt wurde natürlich auch. Paulus ist nicht immer einfach zu verstehen. Paulus ist ein Mensch, der anderen die Wahrheit nicht nur um die Ohren schlägt, sondern er versucht, das, was er glaubt, zu begründen. Er sagt die Wahrheit – und die Wahrheit braucht manchmal viele Worte. Lügen sind häufig kurz – damit sie auch jeder versteht. Wahrheit kann auch kurz sein – aber dann versteht sie keiner, wenn man nicht bereit ist, lange darüber nachzudenken. Über kurze Lügen muss man nicht nachdenken. Die Wahrheit will im Herzen bewegt werden, sie will den Menschen erfassen und dem anderen Wohl tun und nicht niedermachen. Und auch dem Apostel Paulus geht es nicht darum, Menschen mit Worten niederzuknüppeln.

Was sagt Paulus in diesen Kapiteln? Er denkt über das Verhältnis von Juden und Judenchristen bzw. Heidenchristen nach. Juden sind Gottes erwähltes Volk – daran lässt sich nicht rütteln. Aber auch wenn sie Gottes erwähltes Volk sind, so nehmen viele doch Jesus Christus nicht als ihren Retter an. Und diese Frage bewegt ihn: Warum nehmen viele Juden Jesus Christus nicht an? Sie glauben doch an Gott, warum dann nicht daran, dass sich Gottes Liebe in Jesus gezeigt hat? Paulus kommt zu einem komplizierten Schluss: Weil Juden häufig Gott ablehnen, gelangt die Glaubensverkündigung zu den Heiden. Das bedeutet: Es steht in Gottes Plan, wenn viele Juden Jesus nicht als ihren Retter anerkennen. Das ist sehr kompliziert gedacht. Aber es ist ein Versuch, das große Rätsel zu lösen: Warum glauben so wenig Juden an Jesus Christus? Wie kann Gott das zulassen, dass sich so wenig Juden von Jesus Christus leiten lassen? Wir haben keine bessere Lösung – zwar viele Lösungsversuche, aber keine Lösung, weil wir Gott nicht in die Karten schauen können. Können wir es wirklich nicht? Paulus sieht in Jesus Christus Gottes große Liebe auf die Erde kommen und auf der Erde wirken. Und da kann das Wort von der Verwerfung von Menschen nicht sein letztes Wort sein. Und darum sagt er: Am Ende der Zeit, wenn Jesus Christus sich als Herr der Welt zeigen wird, dann werden alle Menschen ihn als diesen Herrn erkennen und bekennen. Und er ruft aus:

O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«? Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste«? Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

Die Worte des Predigttextes, die von der Verwerfung und Erwählung durch Gott sprechen, sind also nur ein kleiner Teil in seiner Argumentation.

Was haben wir heute davon? Ich habe Ihnen drei Päckchen mitgebracht, die Gott uns mit dem Text des Paulus gepackt hat.

Das erste Päckchen: Gottes Liebe ist immer größer als wir denken

Was haben wir heute von den Aussagen des Paulus? Alles! Die Liebe Gottes in Jesus Christus ist der Maßstab! Wir können und dürfen nicht sagen: Gott hat diesen oder jenen verstoßen. Oder: Gott liebt mich nicht. Gott ist zwar Richter, er richtet über uns, über unser Fehlverhalten, über unsere Sünde, über unsere mangelnde Nächstenliebe, … – und wir werden uns furchtbar schämen, weil all unsere Lieblosigkeit sichtbar werden wird. Aber Gott ist uns gnädig, weil er uns nur in Jesus Christus sehen kann. Und das sehen wir an Paulus: Diese Liebe Gottes, die er in Jesus Christus uns Menschen gezeigt hat, bestimmt sein ganzes Denken – und dieses kann auch unser Denken bestimmen. Wir denken immer zu klein von Gott, wir schränken seine Liebe immer ein – doch kann die Liebe Gottes noch größer sein, als sie sich uns in Jesus gezeigt hat?

Das zweite Päckchen: Je tiefer wir über das rätselhafte Handeln Gottes nachdenken, desto tiefer dringen wir in seine Liebe ein

Paulus sagt: Alles liegt in Gottes Hand. Das heißt aber nicht, dass es uns immer gut geht, dass wir Gottes Handeln an uns und an der Welt verstehen. Aber wir dürfen auf Gottes Liebe in Jesus Christus sehen und uns in ihr betten. Auch Paulus versteht die Rätsel des Lebens nicht. Er denkt darüber nach. Wie wir über das nachdenken, was uns plagt. Unsere Gedanken kreisen und kreisen über die Ungerechtigkeit in der Welt, sie kreisen und kreisen über die Frage: Warum müssen Menschen leiden. Sie kreisen über die Frage: Warum muss Gottes Volk, warum muss ich leiden, die wir doch zu Gott gehören? Aber Paulus kommt zur Ruhe. Er kommt zur Ruhe, weil er um die Liebe Gottes weiß. Weil er um die Liebe weiß, kann er Gottes geheimnisvolles Wirken preisen – auch wenn ihm manchmal der Kloß im Hals sitzen mag. Paulus spricht das große Leiden der Geschöpfe an – und dann mündet er in einen zuversichtlichen Jubel ein:

Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? … Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.

Paulus kommt nicht umhin: Je tiefer wir über Gottes rätselhaftes Handeln nachdenken, desto tiefer dringen wir ein in Gottes Liebe.

Das dritte Päckchen: Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand.

Häufig rutscht uns ein Satz raus: Darüber darf man nicht nachdenken – das muss man glauben. Paulus ist da ein ganz anderer Typ. Er denkt nach – und darum verstehen viele ihn häufig nicht mehr so, weil sie das Denken in Glaubensdingen abgeschaltet haben. Nicht so Paulus. Er denkt nach. Er denkt nach über Gott, er denkt nach über die Welt, er scheut sich nicht, die Widersprüche zu denken, er dringt ein in die Dunkelheiten der Welt, in das, was Sünde und Tod genannt wird. Er dringt ein ins Leiden, in die Schmerzen. Paulus wagt es. Er ist unermüdlich darin, die Welt mit all ihren Schattenseiten im Licht Gottes zu durchdringen. Paulus ist ein Abenteurer. Und das dürfen wir auch sein: Abenteurer Gottes. Warum? Weil der Mensch, der mit Gottes Hilfe ins Leiden, ins Sterben eindringt ahnt und weiß: Du kannst nicht tiefer fallen, als nur in Gottes Hand. Wer mit Gott an der Welt zerbricht – der landet nur bei Gott. Wer mit Gott in Schmerzen schreit, der schreit mit Gott: Warum hast du mich verlassen. Wer mit Gott an der Sünde, der Ungerechtigkeit, der Grausamkeit der Welt, dem Bösen, der Gewalt nicht vorbeigeht, der begegnet all dem mit den Augen der Liebe Gottes, wird traurig und geht dagegen an. Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand. Was auch immer dir begegnet: Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand.

Diese drei Päckchen wurden uns von Paulus gepackt. Es sind Geschenke, die im Herzen bewegt werden wollen, weil sie aus Gottes Wahrheit kommen.

Amen


[1] Liturgische Konferenz der EKD 1978.