♫ ʘ Gott gibt uns Würde (Jesaja 52f.)

Karfreitag – wir denken an Karfreitag an das Leiden Jesu Christi. Wir denken daran, dass er gefoltert wurde, dass er zu Unrecht verurteilt, verspottet, erniedrigt und hingerichtet wurde. Er starb. Wie viele andere Menschen auch – vor ihm, mit ihm und nach ihm. Und an diese entwürdigten Menschen, die in vielen Ländern der Erde gefoltert werden, zu Unrecht verurteilt und getötet werden – an die denken wir auch an Karfreitag, an all die entwürdigten Menschen weltweit – auch an die, die Verbrechern in die Hände fallen. Wir sehen im leidenden Jesus Christus auch die Menschen, die sich durch Einsamkeit, Krankheit und Sterben, Spott und Mobbing und durch mangelnde Selbstachtung erniedrigt fühlen und entwürdigt werden.

Jesus – in ihm Gott – wurde wie wir erniedrigt, er wurde jedoch, und das bekennen Christen seit 2000 Jahren, er wurde erniedrigt unseretwegen. Er nahm diese Entwürdigungen auf sich, um uns die Würde zurückzugeben. Unseren Schmerz hat er erlitten, unsere Vereinsamung ist seine. Wir, Verlorene an Irrtum, Schuld und Tod, werden aufgewertet, werden durch ihn gehalten.

Das Geheimnis, das Mysterium seines Todes können wir in seiner Tiefe gar nicht erfassen, wir können es nur staunend und anbetend betrachten.

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Der für den heutigen Karfreitag vorgeschlagene Predigttext steht im Buch des Propheten Jesaja, in den Kapiteln 52 und 53 (Auszug):

Siehe, meinem Knecht wird’s gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein. … Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.

Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der HERR warf unser aller Sünde auf ihn. Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.

Soweit der Predigttext.

Schon lange beschäftigt Menschen, die die Bibel lesen die Frage: Über wen spricht der Prophet Jesaja? Wer ist in diesem Text gemeint? Spricht er überhaupt von einem einzelnen Menschen oder vom Volk Israel, das entwürdigt wurde – und das man schon abgeschrieben hat – und dann doch von Gott erhoben wurde? Die früheste christliche Auslegung hören wir in der Apostelgeschichte. Der äthiopische Finanzminister fragt den Apostel Philippus: Von wem ist in diesem Text die Rede? Philippus antwortete: Von Jesus. Und er erklärte dem Äthiopier dieses prophetische Wort (Apg 8). Der Prophet weist in seiner von Gott geschenkten Voraussicht auf Jesus Christus, in dem Gott zu den Menschen kam.

Wir hören in diesem Wort des Propheten Jesaja von einem entwürdigten Menschen. Hier ist von einem Menschen die Rede, der misshandelt und verachtet wurde, gedemütigt an Körper, Geist und Seele.

Menschen entwürdigen andere und sehen sie dann auch als entwürdigt an. Aber Gott nicht. Gott hat eine ganz andere Perspektive. Der Prophet sieht mit den Augen Gottes: Dieser Mensch, den Menschen entwürdigt haben, der hat die Würde Gottes! Menschen erniedrigen den anderen Menschen – aber Gott macht ihn groß. Menschen wollten diesen allerverachtetsten Knecht Gottes vernichten, zerstören, vergessen – aber Gott hat einen Plan mit ihm.

Gott macht uns deutlich: Wenn ihr einen Menschen entwürdigt, entwürdigt ihr nicht nur diesen Menschen, ihr entwürdigt nur euch selbst! Ihr verhaltet euch gottlos – und weil ihr euch gottlos verhaltet, darum verhaltet ihr euch auch unsozial, unmenschlich. Als Menschen seid ihr Menschenfeinde.

Wir müssen niemanden wirklich schlagen oder verprügeln, um unmenschlich zu sein, um ihn zu entwürdigen. Wir können es auch mit Blicken, mit erniedrigenden Blicken. Wir können es mit einem einzigen Wort, mit erniedrigendem Wort. Wir können es sogar durch eine Körperwendung: Nichtbeachtung, Naserümpfen, Gesicht verziehen. Wir können es, indem wir den anderen listig zwingen, gegen seinen Willen zu handeln. Wir müssen dem Menschen nicht einmal selbst zeigen, wie sehr wir ihn erniedrigen – das tun schon diejenigen, mit denen wir verächtlich über den anderen gesprochen haben. Wir Menschen können meisterhaft andere erniedrigen und beschämen. Und dass wir sie entwürdigen – das merken wir oft nicht einmal. Weil wir so unsensibel, unempfindlich sind – und je mehr wir andere erniedrigen, desto tiefer sinken wir selbst in dem Sumpf, in den wir den anderen hineinstoßen wollten.

Wir Menschen sind im Sumpf, in den wir uns selbst hineinmanövriert haben. Und aus dem Sumpf rufen manche nicht nach Hilfe, sondern rufen Gott zu: Wir benötigen keinen Jesus Christus, der für uns entwürdigt wird, der für uns stirbt, der uns durch seinen Tod die Würde zurückgibt, wir brauchen kein Opferlamm! Wir kommen selbst klar mit unserem Leben. Heroisch, heldenhaft wollen wir unsere Schuld tragen!

Doch was wir Menschen alles so denken und meinen… – wissen wir wirklich, was nötig ist, um uns in unseren tiefsten Tiefen zu heilen? Wir wissen im Grunde so wenig – und glauben, Gottes Handeln mit einem Wisch vom Tisch wischen zu können? Wir glauben es tun zu können, weil wir stolz sind, weil wir uns groß und stark und über andere erhaben fühlen. Wer gibt schon gerne zu, dass er schuldig geworden ist, dass er Dreck am Stecken hat und eigentlich nicht so groß ist, wie er tut, nicht so stark und tapfer – sondern sich innerlich jämmerlich fühlt?

Doch nach außen hin sagen wir mit unserer großartigen Gesellschaft: Wir haben unser Leben in der Hand, wir bestimmen, mit wem wir leben wollen, wir bestimmen, wer leben darf, wir bestimmen, wann wir aus dem Leben gehen, wir bestimmen, wie unser Leben auszusehen hat. Und dann muss nur das nächste Zipperlein kommen – und schon fühlen wir uns erniedrigt, gebeutelt, ausgeliefert. Wie sehr kann uns ein kleiner Zahn aus dem normalen Leben kippen! Und unsere Seele? Sie erhebt sich, sie fühlt ihre Würde in sich selbst – und dann der nächste kleine dunkle Schub – und schon sehen wir alles verschwommen, wegschwimmen, dunkel und trüb. Der kleine Zahn, der dunkle Schub – wir werden durch sie entwürdigt. Wir fühlen uns durch Krankheit entwürdigt, entwürdigt durch einen Virus, den wir nicht in den Griff kriegen, durch Kränkung, durch Lachen, Spott – und wir werden unendlich entwürdigt durch Demenz und Tod. Und dieses Gefühl der Entwürdigung kann uns keiner nehmen. Und die furchtbar entwürdigende Angst begleitet uns auch in unseren guten, stolzen, vor Kraft strotzenden Zeiten. Denn wir merken, wie sehr wir von der Liebe, der Vergebung, der Freundlichkeit anderer abhängig sind. Es ist nicht unser Stolz, der uns rettet.

Wie sehr entwürdigen wir uns jedoch auch selbst dadurch, dass wir uns entwürdigen lassen. Wir machen uns klein – weil andere uns klein machen. Wir machen uns klein, weil wir unser schlechtes Gewissen über uns bestimmen lassen. Wir sind Schuld – ja, wir sind an allem Schuld: daran, dass wir einsam sind, dass es mit dem Partner nicht klappt, dass die Enkel uns nicht besuchen, dass es mir schlecht geht und ich deprimiert bin. Wir machen uns klein, kleiner, am kleinsten. Unsere Angst drückt uns runter, macht uns klein und immer kleiner. Bis wir selbst denken, wir seien nur ein Pünktchen, ein unwertes Nichts.

Doch wir überspielen all das, wir tanzen – wie es heißt – munter oder deprimiert über dem Abgrund, wir lachen, wenn uns zu weinen zumute ist, wir dröhnen uns zu mit allen möglichen Drogen – bis hin zum rosa seichten Fernsehspiel. Wir schieben unsere Schuld, alles, was uns kränkt und entwürdigt auf andere. Und da wollen wir Menschen Gott sagen, was für uns gut ist?

Für uns ist es gut, dass Gott in Jesus Christus in unsere Niedrigkeit und Erniedrigungen gekommen ist. Er hat Einsamkeit, Spott, Angst, Dunkelheit, Verstoßung, Folter – alle denkbaren Entwürdigungen erduldet. Und weil er mitten in unsere Entwürdigungen kam – dürfen wir wissen: Er hat uns unsere Würde zurückgegeben.

Das Geheimnis, das Mysterium seines Todes können wir in seiner Tiefe gar nicht erfassen, wir können es nur staunend und anbetend betrachten. Wir können es dankbar annehmen und sagen: Sein Tod ist meine Rettung!

Tod entwürdigt uns? Nicht mehr. Denn wir gehören dem auferstandenen Jesus Christus und werden mit ihm leben, ewig leben.

Spott entwürdigt uns? Nicht mehr. Denn wir schauen auf ihn und sehen sein liebendes Antlitz.

Schwäche und Krankheit entwürdigen uns? Nicht mehr. Denn er hat sie ertragen, er ist bei uns, will uns Kraft und Mut geben, er geht mit uns und stützt uns, wenn wir schwach sind. Und er fängt uns auf, wenn wir uns nicht mehr halten können.

Demenz entwürdigt uns? Nein, nicht doch, Christus trägt uns durch all das hindurch, durch alles, durch das wir uns an Menschen ausgeliefert wissen.

Ein falsches Wort, ein schlechtes Lächeln, ein Gerücht entwürdigen uns? Nein. Denn wir haben unsere Würde durch Gott in Jesus Christus.

Unsere Schuld und unser schlechtes Gewissen entwürdigen uns? Nein. Gott hat uns die Schuld genommen, er hat uns vergeben, wir sind frei! Und weil Gott uns die Schuld genommen hat, muss ich meine Schuld nicht auf andere abwälzen. Darum kann uns auch das schlechte Gewissen nicht mehr knechten: Ihm gebe ich alles zurück, was ich wirklich schlecht gemacht habe – und lasse es bei ihm auch liegen! Wir sind frei – durch Jesus Christus!

Unsere Angst entwürdigt uns? Nein. Mit ihr bergen wir uns in Jesus Christus. Erschreckt stammeln wir: Meine Angst ist Dein, Gott, zieh mich heraus aus dem Sumpf der Angst, birg mich in dein Licht, dein Licht des Lebens.

Unser alter Hochmut entwürdigt, der meint, ohne Gottes Handeln und gegen den Mitmenschen auszukommen? Ja. Der entwürdigt uns, weil wir uns damit selbst entwürdigen. Aber selbst in der Selbstentwürdigung werden wir durch jedes Kreuz, das wir sehen, aufgerufen: Du hast Würde durch Jesus Christus bekommen. Lebe sie, indem du andere groß machst!

Und wenn Menschen das Kreuz aus der Öffentlichkeit verbannen wollen – so mahnt doch die Natur, so erinnern die kreuzförmigen Blütenblätter, erinnert das Kreuz des Südens – das Sternbild –, das Fensterkreuz, die Straßenkreuzung – sie alle sagen uns immer wieder: Du musst dich nicht entwürdigen lassen und selbst entwürdigen: Das Leiden und Sterben unseres Herrn Jesus Christus gibt dir die Würde zurück! Gott adelt dich, durch ihn wirst du groß – durch ihn bist du groß.

Gott macht uns Menschen, die wir uns klitzeklein fühlen in Zeit und Ewigkeit, Gott macht uns groß! So groß, dass er all unser Leiden auf sich genommen hat, um bei uns zu sein in unseren dunkelsten Stunden. Jesus war in der dunkelsten Stunde einsam, in der Stunde der Folter, der Verurteilung, des Sterbens war er einsam und entwürdigt. Warum hat er das alles auf sich genommen? Damit er in unseren dunkelsten Stunden bei uns sein kann – damit wir nicht mehr einsam sind und entwürdigt. Er hat es auf sich genommen, damit wir uns auch nicht mehr durch dunkle Stunden entwürdigen lassen, denn er ist bei uns. Wir haben unsere Würde nicht aus uns selbst, dazu entwürdigen wir uns zu sehr immer und immer wieder. Wir haben sie allein von Gott in Jesus Christus.

Er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Amen.

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Vater unser im Himmel
Geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe,
wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich
und die Kraft und die Herrlichkeit
in Ewigkeit. Amen.

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Das Geheimnis, das Mysterium deines Todes, Herr Jesus Christus,
können wir in seiner Tiefe gar nicht erfassen.
Wir können Dich nur staunend und anbetend betrachten.
Wir können Dein Tun nur dankbar annehmen und sagen:
Dein Tod ist meine Rettung!

Weil deine Liebe zu uns so unendlich groß ist, stellen wir uns unter deinen Segen:

Gott, segne uns und behüte uns. Gott, lass dein Angesicht leuchten über uns und sei uns gnädig. Gott, erhebe dein Angesicht auf uns und schenke uns Frieden. Amen.