Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht im Römerbrief im 14. Kapitel, die Verse 10-13. Der Apostel Paulus schreibt an die Gemeinde in Rom:
Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden. Denn es steht geschrieben: »So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.« So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben. Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.
Soweit der Predigttext.
Er ist ganz einfach zu verstehen: Richte nicht die Menschen, mit denen du in der Gemeinde zusammenlebst. Wer richten will, soll daran denken, dass er sich vor Gott rechtfertigen muss. Statt andere zu richten, soll man darauf achten, dass man seinerseits dem anderen keinen Grund zur Klage bietet.
Aber, wie wir Menschen so sind, kommen ganz schnell die großen „Aber“.
Lieber Apostel Paulus: … aber ich muss doch urteilen! … aber ich muss doch beurteilen!
Was würde Paulus darauf antworten? Du meinst, man müsse urteilen und beurteilen? Klar! Stimmt, das mache ich in meinen Briefen ja auch – und zwar nicht zu knapp! Aber worum es mir geht, ist die Überheblichkeit, die Rechthaberei, mit der so etwas vielfach geschieht. Man will sich über den anderen stellen, sich profilieren! Ich bin der Mittelpunkt der Welt! Ich habe Recht! Das sind die Fehler, liebe Schwestern und Brüder, die wir begehen!
Wer den anderen richtet, ihn verurteilt, der spielt sich als Richter auf, obgleich er dazu nicht legitimiert wurde. Gott ist Richter – ihr seid es nicht. Ihr steht alle auf der gleichen Stufe. Jede Meinung ist gleich viel Wert. Wenn man das weiß, dann diskutiert man ganz anders miteinander. Dann beurteilt man einander ganz anders, geht sorgfältiger miteinander um, nicht überheblich, nicht vom hohen Ross herab, sondern, wie man heute so schön sagt: auf Augenhöhe.
Das ist es doch, was euch fuchst, liebe Brüder und Schwestern, ihr könnt den anderen nicht zwingen, das zu tun, was ihr für richtig haltet. Manche fühlen sich sogar angegriffen, wenn andere anderer Meinung sind – und noch schlimmer: anderer Meinung bleiben!
Lieber Apostel Paulus: „Einspruch!“, rufen wir! Wir müssen uns durchsetzen – wir müssen für die gute Sache kämpfen, und dann muss man schon mal Druck ausüben, muss man schon mal den anderen austricksen. Hier auf der Erde muss man auf der Seite der Guten, auf der Seite der hellen Menschen schon mal verbalen Zwang und Meinungszwang anwenden, denn sonst wird die Welt nie besser! Und an einen Richterstuhl Gottes glaubt doch eh keiner mehr.
Ich denke, unser Apostel Paulus hätte angesichts dieser Worte damals herzlich gelacht: Wir müssen die Welt besser machen, indem wir andere unterdrücken und zwingen?
Aber leider würde er in unserer Zeit darüber nicht mehr lachen, denn das hat gerade das 20. Jahrhundert als Jahrhundert der großen Ideologien gezeigt: Wie viele Tote, Erniedrigte, Gefolterte, Vertriebene, Benachteiligte haben Nationalsozialisten, Kommunisten, Faschisten und Kapitalisten weltweit hinterlassen. Alles im Namen dessen, was man als gut in der Welt ansah. Man wollte die Welt zum Guten verändern, indem man andere zwingt, sich seiner Meinung und seinem Verhalten anzuschließen. Und das beobachten wir auch in der Gegenwart nur nicht im Namen einer großen Ideologie, aber es steckt noch immer in unseren Köpfen: Du musst den anderen besiegen, ihn zwingen, damit die Welt besser wird!
Warum denken wir Menschen das? Weil wir etwas vergessen, das unsere großen Christen alle wussten: Die Welt wird nicht besser, wenn wir andere zwingen. Wir stehen alle auf einer Stufe. Wir sind fehlbare Geschöpfe Gottes, wir sind in der Gemeinde Schwestern und Brüder – da steht keiner über den anderen. Und jeder, der sich aufspielt, muss schlicht und ergreifend wissen:
Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden. Denn es steht geschrieben: »So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.« So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.
Das zu wissen, das stellt uns wieder auf den Boden der nüchternen Tatsache. Das nimmt den Druck von uns, sodass wir nicht denken müssen: Mit mir steht und fällt das Wohl der Welt.
Aber wird Gott richten?
In allen Religionen haben wir eine Ahnung davon, dass es die ausgleichende Gerechtigkeit gibt. Diese Vorstellung sieht hier und da ein wenig anders aus, aber dass am Ende der Zeiten die Menschen Rechenschaft ablegen müssen, das wissen alle. Das Wissen hat Gott uns allen in die Herzen gelegt, ob wir nun an Gott, den Jesus und wir Vater nennen, glauben oder nicht.
Wir haben diesen Gedanken heute jedoch weitgehend abgeschafft. Warum? Weil wir modern sind. Weil viele nicht mehr an Gott glauben, meinen sie, alles selbst in die Hände nehmen zu müssen. Das Wohl der Welt liegt in des Menschen Hand. Und gerade darum, weil wir das meinen, können wir auch so unbarmherzig mit den Andersdenkenden umgehen. Weil wir das meinen, haben wir die Hölle abgeschafft und bereiten anderen das Leben zur Hölle. Weil Gott nicht mehr als Richter geglaubt wird, richten wir selber. Diese Umgangsweisen stehen in nichts dem nach, was die Extrem-Religiösen tun, wie die Islamisten heute, die meinen, sie müssten das durchsetzen, was ihres Allah Sache ist. Die einen sind religiös brutal: Mach das, was unser Gott will, sonst vernichten wir dich – die anderen sind säkular brutal: Mach das, was wir zum Guten wollen, sonst vernichten wir dich. Dieses Menschen und Gott verachtende Denken hat auch Teile der Kirche ergriffen.
Wir stehen jedoch alle auf einer Ebene. Alle. Und eben wir alle stehen unter Gott, der uns zur Verantwortung ziehen wird. Wer an Gott glaubt, dass er die Welt erschaffen hat und sie erhält, der glaubt auch daran, dass er die Menschen, seine Geschöpfe zur Verantwortung ziehen wird – und eben jeden, auch den, der sich um der vermeintlich besseren Sache willen über den anderen erhebt.
Wir Christen wissen all das. Darum können wir andere und uns auch wunderbar durchschauen. Wir sehen unsere Überheblichkeit wie die der anderen. Wir sehen unsere Unmenschlichkeit, unsere Versuche, andere zu erniedrigen, wie die Versuche der anderen. Wir erkennen, dass wir gegen Gottes Willen Gerüchte streuen, dass wir uns aufplustern bis zum Geht nicht mehr und nicht von guten Taten, sondern durch das Aufplustern gute Gefühle bekommen. Und weil wir das mit Hilfe auch unseres Predigttextes durchschauen, können wir einen ganz anderen Ton anklingen lassen.
Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.
Das nennt man heutzutage „Empathie“ – sich in den anderen hineinfühlen können, nicht um ihn zu ärgern, sondern im Gegenteil, um zu wissen, was ihn ärgert – und das zu vermeiden. Dass wir uns in ihm hineinfühlen können, dass wir wissen, was den anderen erfreut, um ihm dann die Freude zu machen, das lernen wir durch den Apostel. Wir können in der Christenheit wunderbar anders miteinander umgehen, nicht so rigoros, wir können anderen Freiheiten lassen, gelassen sein, wir können, trotz Auseinandersetzungen in der Sache, munter miteinander umgehen, freundlich, vergebend, dankbar. Auch wenn man ganz unterschiedliche Ansichten hat, kann man miteinander beten, singen, Abendmahl feiern. Das ist keine Heuchelei, sondern das hängt mit unserem christlichen Glauben zusammen, der unsere Herzen und Sinne befreien kann. Wir müssen uns nicht groß machen und aufplustern – denn Gott hat uns in Jesus Christus schon ganz groß gemacht. So groß, dass wir nicht mehr auf unsere Größe pochen müssen, sondern anderen beistehen können.
Einer dieser Gründe, warum wir das wissen und uns anders verhalten können, finden wir in dem Bibeltext, der unserem Predigttext unmittelbar vorangeht:
Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.
Wir gehören alle, über alle Auseinandersetzungen hinweg, einem Herrn. Und dieser Herr ist Jesus Christus. Dass wir alle auf einer Stufe stehen, dass keiner höher steht als der andere, dass wir alle unter Jesus Christus stehen, das sehen wir auch am Abendmahl, das wir gleich miteinander feiern werden und das die Christen weltweit feiern. Wir alle haben Vergebung durch Jesus Christus sehr nötig, denn wir richten, plustern uns auf und schwätzen herum – und wir bekommen dennoch die Vergebung. Wir alle haben es sehr nötig, durch ihn gestärkt zu werden, damit wir unser Alltags-Leben in seinem Sinne menschlich leben können. Wer gestärkt wird und durch Jesus Christus groß gemacht wurde, der kann gelassen sein, wenn andere einen erniedrigen, aber auch dann, wenn man sich selbst als klein und mickrig ansieht.