Epheser 2,17-22: Ich – Gottes fremder Hausgenosse

Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht im Brief an die Epheser im 2. Kapitel, die Verse 17-22:

Und Christus ist gekommen und hat im Evangelium Frieden verkündigt euch,
die ihr fern wart, und Frieden denen, die nahe waren.
Denn durch ihn haben wir alle beide in einem Geist den Zugang zum Vater.
So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge,
sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen,
erbaut auf dem Grund der Apostel und Propheten,
da Jesus Christus der Eckstein ist,
auf welchem der ganze Bau ineinandergefügt wächst zu einem Tempel in dem Herrn.
Durch ihn werdet ihr miterbaut zu einer Wohnung Gottes im Geist.

Soweit der Predigttext.

Der Text ist schön eingängig. Er malt zwei Bilder vor unsere Augen. Das eine Bild spricht davon, dass Fremde Zugang haben zum Vater, also zu Gott. Das zweite Bild spricht davon, dass die Glaubenden nicht einzeln herumliegende Steine sind, sondern Steine im Heiligen Haus Gottes. Dieser Text gilt den ersten Christen, die Heiden gewesen waren. Sie sind durch Jesus Christus von ihren Göttern abgekommen und zum jüdischen Gott, zum wahren Gott, gekommen: Zum Vater. Dieser Text hat also mit uns nichts zu tun, er galt Heiden. Wir sind inzwischen in die christliche Kultur hineingeboren und hineinerzogen worden. Wir haben häufig auch einen bestimmten Platz in der christlichen Gemeinde. Wir tun in ihr dies und jenes, wir sind nicht mehr fremd. Die Situation, die der Text anspricht, ist also vergangen. Wir waren nie Heiden, sind schon immer Christen gewesen.

Doch hören wir den ersten Teil des Textes noch einmal:

Christus ist gekommen und hat im Evangelium Frieden verkündigt euch,
die ihr fern wart, und Frieden denen, die nahe waren.
Denn durch ihn haben wir alle beide in einem Geist den Zugang zum Vater.
So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge,
sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen.

Auf einmal sind wir uns nicht mehr so sicher: Gilt der Text nicht doch auch uns? In ihm heißt es: Wir haben Zugang zum Vater! Durch Jesus Christus sind wir zu Gott gekommen! Ich bin zwar Christ, doch habe ich Zugang zu Gott, zu Gott, dem Vater Jesu Christi? Bin ich ihm nicht mehr fremd – ist er mir nicht mehr fremd? Kenne ich ihn wie ein Familienmitglied, wie sein Hausgenosse? Und wir rufen aus: O Gott! Wer bist Du! Ich kenne Dich nicht – ich habe zwar von Dir gehört, aber – wer bist Du? Ich fühle mich nicht zu Hause bei Dir, sondern einsam. Jeder große, sogar kleine Schicksalsschlag bringt mich von Dir, Gott, weg, treibt mich aus Deinem Haus!

Dieser Text macht mich einsam, weil er sagt, ich sei Hausgenosse, Familienmitglied in Gottes Haus – und doch weiß ich: Nein, ich habe ihn nie gesehen, nie gehört, ich fühle mich fremd. Wir wollen verzweifeln. Hier wird jubelnd etwas ausgesprochen, eine Gewissheit herausgesprudelt, die ich so gar nicht verstehe! Was heißt das: Christus hat im Evangelium Frieden verkündigt – und durch ihn haben wir Zugang zu Gott?

Wir feiern gleich das Abendmahl. Im Abendmahl haben wir durch Jesus Christus Zugang zu Gott. Wir sind am Tisch des Herrn – und das ist das, worum es im Evangelium, in der frohen Botschaft geht: Jesus Christus nimmt uns an die Hand und wir folgen seiner Einladung. Und aufeinmal sehen wir uns mitten unter Brüdern und Schwestern, die gemeinsam mit mir am Tisch des Herrn stehen. Gemeinsam nehmen wir das Mahl der Kinder Gottes ein. Und so ist das mit Jesus Christus immer. Stillschweigend nimmt er uns an die Hand und zeigt uns: Was hast Du denn nur, ich bin Dir doch nah! Wir weinen, hadern, zweifeln, fühlen uns einsam, ängstigen uns – und auf einmal steht er neben uns und nimmt uns hinein in seinen Trost. Wenn wir Menschen weinen, dann weinen wir häufig noch nach, auch wenn das Herz schon längst leichter geworden ist. Dieses unser Weinen ist noch ein Nachschluchzen – weil wir schon längst von Jesus Christus umfangen sind. Unsere Einsamkeit, die wir fühlen, ist nur noch ein Rest – denn wir haben schon längst Zugang zum Vater bekommen. Unsere Ängstlichkeit ist nur noch ein Nachzittern – denn wir sind schon bei ihm und von ihm umfangen. Natürlich können wir uns ihm auch entziehen; wir können wieder in die Traurigkeit, in die Einsamkeit und Angst hinausgehen. Aber sein Wort, das wir im Wochenspruch gehört haben, gilt: Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken, ich will euch stärken, trösten, will euch, wie unser Predigttext es nennt: Frieden geben. Der Zugang zu Gott ist da, wir stehen schon längst vor ihm, bei ihm, wir sind seine Kinder, seine Hausgenossen.

Ist das nicht zu rosig dargestellt? Gaukeln diese Worte nicht was falsches vor? Ist das nicht alles eine Weichzeichnung des Glaubens?

Ein Mensch hatte einen wunderschönen Garten. Doch er hatte keine Zeit. Er raste durch den Garten, tat schnell dies und das Notwendigste, eilte wieder heraus, hetzte, während er im Garten war schon in Gedanken wieder in die folgenden Stunden, Tage, Wochen. Er bermerkte gar nicht das vielfältige Duften der Blumen und Gräser. Er sah nicht die bunte Vielfalt, das Rot, das Gelb, Blau und Grün. Die vielen Mischungen der Farben. Er hörte nicht das Singen der Vögel, das Summen der Insekten. Er spürte nicht den Wind in seinen Haaren, die Sonne auf seiner Haut. Er hetzte nur, eilte, raste. Den Garten nahm er gar nicht wahr. Was sagen wir diesem Menschen?: Mensch, lass doch mal! Setz dich hin und lausche auf das Zwitschern und Summen! Achte auf den Wind in deinen Haaren, rieche den Duft des Gartens. Setz dich mal ruhig hin und tanke auf!

So ist es auch mit uns: Wir leben schon längst im Haus Gottes. Wir leben schon längst in der Gegenwart Jesu Christi – doch wir bekommen das gar nicht mehr mit. Wir sind in Gedanken so mit diesem und jenem beschäftigt, dass wir Christus in uns, neben uns gar nicht mehr wahrnehmen. Wir sind so sehr mit uns selbst beschäftigt, dass wir an ihm vorüberrasen. Seine Wärme kann nicht in unser Herz hineinkommen, sein Licht kann unsere Gedanken nicht mehr durchdringen, seine Worte hören wir gar nicht mehr in ihrer Tiefe – wenn wir überhaupt noch etwas von ihm hören. Sein Friede streift uns nicht einmal mehr. Kurz: Wir sind Menschen in der Gegenwart Gottes und Jesu Christi – nehmen ihn aber nicht mehr wahr. Und so gilt auch uns: Setz dich einfach mal hin und versuche ganz für Gott dazusein, mit ihm zu reden – auch mit ihm zu schimpfen, sein Wort zu hören, mit Herzen und Gedanken, mit der Seele. Schau mit deinem Wesen mal allein auf ihn. Er ist da, in Dir, um Dich herum. Erst dann, wenn wir wissen, dass er in uns und um uns ist, dann können wir auch mit ihm richtig streiten, können wir zu ihm unsere Klagen schleudern. Erst dann, wenn ich mich auf ihn einlasse, sehe ich, wie er reagiert. Wenn ich seine Nähe nicht wahrnehme, meine ich, ich schreie in die Leere Welt hinaus. Setz dich einfach mal hin und versuche ganz für Gott dazusein, sein Wort zu hören, mit Herzen und Gedanken, mit der Seele. Schau mit deinem Wesen mal allein auf ihn. Er ist da, in Dir, um Dich herum. Und wenn wir es auch nicht fühlen sollten, weil wir immer noch so sehr mit uns selbst beschäftigt sind, dann können wir es uns einfach zusagen lassen: Durch Jesus Christus hast Du schon längst Zugang zu Gott dem Vater, Du bist sein Kind, Du stehst in seinem Licht, in seiner Gemeinschaft, in seiner Nähe. So ist es.

Aber wir stehen nicht allein vor Gott – und davon berichtet das zweite Bild unseres Textes. Wir sind mit anderen Bausteine, die auf dem Grund der Propheten und Apostel gebaut werden, und Christus ist der wichtigste Stein dieses Heiligen Gebäudes. Und auch hier wollen wir wieder protestieren: Wir sind ein Stein dieses Heiligen Gebäudes? Ohne uns wäre an dieser Stelle eine Lücke? Oh Gott! Ich? Wer sind wir, dass Du uns so ansiehst? Wir sind doch ein Niemand in Deinem Gebäude. Wir gehen unseren Tagesgeschäften nach, wir denken nicht an Dich – und Du siehst uns dennoch als ein Stein an in Deinem Heiligen Gebäude? Bin ich wirklich wichtig? Brauchst Du mich als Stein?

Wir sind lebendige Steine Gottes. Wenn ich von mir selbst annehme, ich sei nicht wichtig, dann liegt es daran, dass ich nicht das tue, was ich für den Bau Gottes einsetzen kann. Gibt es denn einen Menschen, der solange er bei Bewusstsein ist, nichts einsetzen kann? Jede und jeder kann sich einsetzen. Durch jede Gabe, die wir haben. Vom Tischdecken bis zum Reden. Gemeindebriefverteilen ist genauso wichtig wie Gemeindebrief schreiben. Kindern vom Glauben zu erzählen und Rechnungen prüfen ist genauso wichtig wie im Chor singen und die Kirche sauberzumachen. Wir brauchen alle einander. Was nutzt es, einen Gemeindebrief zu schreiben, wenn es keinen Verteiler gibt? Was nutzt es, ein paar Seiten zu verteilen, wenn niemand darauf geschrieben hat? Wenn wir unsere Gaben nicht einsetzen können, dann bitten wir doch Gott, dass er uns zeigen möge, wie wir sie einsetzen können. Und wenn uns alles schwerfällt, weil unser Körper und Geist müde und erschöpft ist, dann bitten wir Gott, er möge uns die Gabe des Betens für andere schenken. Menschen im Gebet in Gottes Licht zu stellen, sie im Gebet zu begleiten: Was gibt es Wichtigeres? Beten verändert unsere Welt genauso wie tätiges Eingreifen. Wir können für andere beten, wir können uns einsetzen, indem wir die Liebe Jesu Christi im Alltag leben.

Wir sind also alle lebendige Steine im Heiligen Gebäude Gottes. Gott baut nicht ohne uns an seinem Bau – wenn wir nur wollen. Ob wir zuwenig von uns denken oder zuviel, eines bleibt: Das Fundament sind die Apostel und Propheten – der wichtigste Stein ist Jesus Christus. Daran kommt keiner vorbei. Und jeder, der Zugang hat zum Vater, will auch daran nicht vorbei kommen, weil er weiß: Allein durch Jesus Christus sind wir und Gott einander nah, stehen wir in seiner Liebe, in seinem Licht, in seiner Geborgenheit. Allein durch ihn haben wir Frieden.