Der für den heutigen Tag vorgeschlagene Predigttext steht im Matthäusevangelium im 27. Kapitel.
Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte, gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und als er’s schmeckte, wollte er nicht trinken.
Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum.
Und sie saßen da und bewachten ihn.
Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König.
Und da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken.
Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz! Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Ist er der König von Israel, so steige er nun vom Kreuz herab. Dann wollen wir an ihn glauben. Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn. Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren.
Und von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde.
Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia.
Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken.
Die andern aber sprachen: Halt, lass sehen, ob Elia komme und ihm helfe!
Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.
Soweit der Predigttext.
Mein Gott. Mein Gott. Warum hast du mich verlassen! Gotteinsamkeit überwältigt Jesus. Menschen haben ihn verlassen, seine liebsten Menschen, die mit ihm durch dick und dünn gegangen waren haben ihn verlassen. Gott hat ihn verlassen. Gotteinsamkeit. In diesem Schrei: Warum, Gott!? wird der Schrei des Menschen laut, den er ruft, seit er an Gott glaubt. Gott verlässt ihn. Der allmächtige Gott lässt ihn allein. Gerade dann, wenn er Gott ganz besonders benötigt, in Zeiten der Krankheit, des Hungers, des Krieges, der Lieblosigkeit, der Verfolgung, des Sterbens – gerade dann fühlt er diese Gotteinsamkeit über ihn wie ein Tsunami hinweg rollen. Jesus nimmt diesen Gebetsschrei auf – und seit Jesus ist der Schrei des Menschen: „Warum, Gott?“ ein Echo, dieses Rufes Jesu. Wie ein Magnet zieht dieser Schrei Jesu unsere menschliche Gotteinsamkeit an sich, erträgt sie und stirbt in ihr.
Dieser Ruf ist ein ganz besonderer Ruf, ein Ruf, der unsere ganze menschliche Not ausspricht. Er spricht sie aber in einer ganz besonderen Weise aus. Denn in diesem Ruf verabschiedet sich der Mensch nicht von Gott. Er sagt nicht: Gott, du hast mich verlassen, darum verlasse ich dich. Er geht nicht stillschweigend von Gott weg, enttäuscht, verbittert, müde, trotzig. Nein, er weiß: Gott, du bist! Gott, ich kenne dich! Ich weiß, dass es dich gibt! – Gott, aber ich verstehe dich nicht. Es ist eine Gotteinsamkeit die spürt, ahnt, dass Gott in dieser Einsamkeit anwesend ist. Wenn Gott nicht da wäre, wenn er nicht hören könnte, wenn er die Seele nicht halten würde, dann würden wir Menschen Gott in dieser Gotteinsamkeit ja nicht anreden! Ja, Gott muss doch da sein, aber: Warum tut er nichts? Warum wendet er nicht die schlimme Situation? warum tröstet er nicht? Und seit Jesus diesen Gottesruf ausgeschrien hat – wissen wir, dass Gott wirklich da ist, doch unerklärlicher Weise nicht eingreift – noch nicht eingreift. Wir wissen, dass Menschen die Gotteinsamkeit ertragen, aushalten müssen. Seit Jesus wissen wir es, weil Gott seinen Sohn dann aus dem Tod herausgeholt hat, auferweckt hat. Wenn uns diese Gotteinsamkeit packt, dann können wir das wissen, dass Gott in irgendeiner Form da ist, weil er auch bei Jesus anwesend war – aber wir wissen es gleichzeitig nicht, denn wir spüren ihn nicht: Warum, mein Gott, hast du mich verlassen?
Diese Erfahrung, dass Gott in dem Leid und in dem Leidenden gegenwärtig ist, ist ein großes Geheimnis, ein Mysterium unseres Glaubens. Es ist das Geheimnis, das Mysterium unseres Glaubens schlechthin. Götter haben nichts mit dem Leiden zu tun. Die alten griechischen Götter fliehen das Leid. Mohammed konnte nicht verstehen, dass Gott in Jesus Christus am Kreuz leidet, darum sagt er, dass Jesus gar nicht am Kreuz gestorben sei. Bis in unsere Zeit hinein, in der wir doch in dem Kreuzestod Jesu Christi unseren Gott erkennen können, verstehen wir nicht, dass Gott wirklich in diesem Leiden anwesend ist. Warum nicht? Wir wollen den allmächtigen Gott. Wir klammern uns an den Gott fest, der alle Welten lenkt, dem die Welt, das Leben, das All zu verdanken ist, der den großen Kreislauf der Natur, das Werden und Vergehen in seiner Hand hält. Dieser Gott ist es, den wir uns in unserem Denken vorstellen. An diesen Gott wollen wir glauben. Und das bis in alle Einzelheiten unseres Lebens hinein.
Ein Junge in der vierten Klasse sagte einmal vollkommen überzeugt: Es gibt keinen Gott. Auf meine Frage hin, wie er darauf komme, sagte er: Ich habe vor unserem Fußballturnier ganz fest und oft gebetet, dass Gott uns siegen lassen soll – und dann wurden wir nur dritte von vier Mannschaften. Gott kann es nicht geben. Er hat Recht, der Kleine. Er hat ja so Recht, weil er denkt, wie wir Erwachsene denken. Der ganze Atheismus hat hierin seine Wurzeln: Gott erhört Gebete nicht, Gott lässt uns in unseren Nöten allein, Gott ist nicht allmächtig und wenn er nicht allmächtig ist, dann gibt es ihn nicht. So denken wir. Und weil wir so denken, verstehen wir – obwohl wir Christen sind – das Geheimnis, das Mysterium unseres Glaubens nicht.
Warum, Gott, hast du mich verlassen? Gerade Menschen, die an die Liebe unseres Gottes glauben, die verstehen nicht, die verstehen Gott einfach nicht. Aber sie richten ihre Frage an Gott: Warum hast du mich verlassen, Gott?
Diese Gottesfinsternis durchzieht unsere gesamte Kirchengeschichte. Die großartigsten Menschen wurden von ihr ergriffen. Paulus schreibt: Der Engel des Satans schlägt mich unaufhörlich – wir vermuten, dass dahinter eine Krankheit steht – unaufhörlich habe ich gebetet, dass diese Not von mir genommen werde. Paulus versteht das alles einfach nicht. Warum lässt Gott das zu? Bis der Herr Jesus Christus ihm gesagt hat: Paulus, meine Kraft ist im Schwachen mächtig! Hierin fand Paulus seinen Gottesfrieden. Franz von Assisi – er hat sich den Menschen zugewendet, er hat alles aufgegeben, was er hatte. Doch er war verzweifelt – je mehr er sich den Menschen zugewendet hatte, desto größer wurde seine Gotteinsamkeit – verzweifelt war er, bis sich Gott ihm in seinem Leben eingezeichnet hat, sich ihm zu erkennen gegeben hat im Schmerz. Hierin fand er seinen Gottesfrieden. Martin Luthers Kämpfe sind fast sprichwörtlich geworden: Gott ist ungerecht, Gott straft, wer kann denn diesen grausamen Gott verstehen? In seinen schweren Kämpfen gegen Gott lernte er auf den gekreuzigten Jesus Christus schauen – und fand ihn. Hier. Im Gekreuzigten. Er fand seinen Gottesfrieden darin, dass er sagte: Wir können Gott in seiner Liebe nur im gekreuzigten Jesus Christus finden. Alles andere führt uns in die Gotteinsamkeit. Mutter Teresa. Diese Frau, die für tausende von Menschen Licht Gottes wurde, versank immer stärker in dieser Gotteinsamkeit. Gott, du bist in diesen Menschen – aber ich finde dich nicht. Gott verdunkelte sich in ihr, in ihr wurde es finster, äußerst finster. Im liebevollen Handeln an den verstoßenen Menschen fand sie ihren Gottesfrieden – aber immer durchdrungen von der großen Gotteinsamkeit. Die Gotteinsamkeit ist das Schlimmste, was ein Mensch in seiner Seele spüren kann. Sie verliert ihren Halt, ihre Kraft, sie ist nur noch eine leere Hülle – so empfinden Menschen in ihrer ganzen Gotteinsamkeit, in der Gottverlassenheit diese Situation. Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Seit Jesus diese Gotteinsamkeit durchlitten hat, in ihr gestorben ist – ahnen, ja wissen wir: Auch dann, wenn wir selbst von dieser Gotteinsamkeit gebeutelt werden, wenn wir uns von Menschen und Gott verlassen fühlen, dann dürfen wir wissen, dann dürfen wir es uns sagen, dann dürfen wir es uns sagen lassen: Gott ist da. Gott hält dich in seiner Hand, auch wenn du ihn nicht erfährst, nicht hörst, nicht siehst – und im Abendmahl nicht schmeckst. Gott ist da – in dem auferweckten Jesus Christus. Weil Gott diesen in Gotteinsamkeit gestorbenen Jesus Christus auferweckt hat, darum wissen wir ganz sicher – und zwar nur darum wissen wir, dass unser Ruf nicht im Leeren verhallt, dass der Ruf nicht ins dunkle All hinausschreit und von niemandem gehört wird oder in uns selbst verklingt. Die Auferweckung Jesu, die wir an Ostern feiern werden, verspricht mehr als das Leben nach dem Tod: Sie ist die Gewissheit, dass all unsere Zweifel, alle Gottverlassenheit und Gotteinsamkeit in Gott selbst geborgen sind.
Doch warum müssen Menschen durch diese Gotteinsamkeit hindurchgehen? Warum muss jeder für sich diesen schweren Kampf kämpfen? Der eine früher, der andere später? Die eine schlimmer, die andere leichter? Der eine einmal, die andere häufig. Warum müssen wir das? Jeder und jede, die solche Zeit der Gotteinsamkeit und Gottverlassenheit durchgekämpft, durchlitten hat, weiß: Ich bin Gott in Jesus Christus näher gekommen. Der harte Kampf, der Kampf, der uns zerstören kann, der führt uns in die Arme unseres Herrn Jesus Christus, führt uns – wenn wir nicht aufgeben – in die Auferweckung durch Gott – nicht erst später, sondern jetzt. Es ist ein Kampf um Gott. Unsere Liebe zu Gott wird größer. Sein Wort wird uns wichtiger. Ihm zu dienen wird unser Alles. Darum: Nicht aufgeben! Vielleicht hilft uns dieses wunderbare Gedicht von Justus Delbrück weiter, der unter den Nationalsozialisten und Kommunisten inhaftiert war, und es geschrieben hat:
In den Tiefen, die kein Trost erreicht,
laß doch deine Treue mich erreichen.
In den Nächten, wo der Glaube weicht,
laß nicht deine Gnade von mir weichen.
Auf dem Weg, den keiner mit mir geht,
wenn zum Beten die Gedanken schwinden,
wenn mich kalt die Finsternis umweht,
wollest du in meiner Not mich finden.
Wenn die Seele wie ein irres Licht
flackert zwischen Werden und Vergehen,
wenn es mir an Trost und Rat gebricht,
wollest du an meiner Seite stehen.
Wenn ich deine Hand nicht fassen kann,
nimm die meine du in deine Hände,
nimm dich meiner Seele gnädig an,
führe mich zu einem guten Ende.
Vielleicht hilft das Gedicht weiter. Was weiter hilft, ist: Auf Jesus Christus schauen, der für uns am Kreuz gestorben ist, der für uns das äußerste Leiden auf sich genommen hat. Derjenige, der die Liebe Gottes wie kein anderer gelebt und gelehrt hat – geht darum durch eine schlimmere Gotteinsamkeit und Gottverlassenheit als wir es je könnten. In ihm trägt Gott selbst unsere Gotteinsamkeit. Wenn wir das mit allen Fasern unseres Lebens und unserer Seele wahrnehmen – dürfen wir uns trotz aller Weltgeworfenheit und Gotteinsamkeit bewahrt wissen.