Matthäus 9,9-13: „Die da!“

Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht im 9. Kapitel des Matthäusevangeliums, den Versen 9-13:

 Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm.

Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern.

Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?

Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.

Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): »Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.« Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.

 Soweit der Predigttext.

In diesem Text kommt ein Grundübel von uns Menschen in den Blick: „Die da“. „Die da“ sind nicht so wie wir. „Die da“ – mit denen wollen wir nichts zu tun haben. „Die da“ – das sind böse Menschen, wir sind die guten Menschen. „Die da“ – schau sie dir mal an! Wenn es „Die da“ nicht gäbe, dann wäre die Welt besser, das Leben schöner. Und diese „Die da“ begegnen auch in unserem Predigttext: „Die da“, das sind die Sünder. „Die da“, das sind diejenigen, die nicht zu unserem Volk gehören. „Die da“ sind die Unreinen. Und diese Abgrenzungen ziehen sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch. Und auch in unserer Geschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nationen und dann auch durch die Geschichte Deutschlands ist ertönt es: „Die da“ – die Juden. „Die da“, die vermeintlichen Diebe, die Zigeuner, vor denen man alles verstecken muss. „Die da“ die Sonderlinge und Behinderten. „Die da“ vom anderen Dorf.

Sich von anderen Menschen abzugrenzen, ist keine Besonderheit unserer Tradition – dass wir uns ja nichts darauf einbilden, denn man kann sich auch darauf etwas einbilden, dass man zu den schlimmsten aller Menschen gehört – nein, das gehört zu uns Menschen dazu. Doch in unserem Land hat die Ablehnung von „Die da“, von Juden, Behinderten, politischen Gegnern und vielen, vielen anderen zu einer der größten Katastrophen der Menschheit geführt. Und auch wenn der Kommunismus zu noch größeren Katastrophen weltweit geführt hat, so haben wir auch hier nicht auf „Die da“ zu zeigen, sondern müssen uns ansehen: Sind die „Die da“ unseres Volkes noch immer die „Die da“? Grenzen wir uns noch immer von den Menschen ab? Sind an die Stelle alter „Die da“ neue „Die da“ getreten? Grenzen wir uns inzwischen von anderen Menschen und Menschengruppen ab?

Wir hören auch in unserem Predigttext von den „Die da“: Mit den Zöllnern, den Sünderinnen, also den Prostituierten, mit denen, die mit den Heiden zusammenarbeiten – mit all denen hat der Fromme des Volkes Jesu nichts zu tun – er will mit ihnen nichts zu tun haben. Und man hält Abstand zu diesen Menschen, man zeigt seine Verachtung, man tuschelt über sie, man übergeht sie, wo man nur kann. Menschen grenzen andere aus – und wollen mit ihnen nichts zu tun haben. Warum nicht? Wenn eine Gruppe andere Menschen ausgrenzt und ich mit Menschen dieser Gruppe Kontakt habe, dann laufe ich Gefahr, auch ausgegrenzt zu werden. Das ist auch das grausame Prinzip des Mobbings: Lieber ich mache mit den Starken mit, wenn sie über ein Opfer herfallen, als dass ich hinterher selbst zum Opfer werde. Wir Menschen sind Herdentiere. Wie auf dem Hühnerhof Hühner über Außenseiterhühner herfallen, sie hacken und beiseiteschieben, so sind wir Menschen nicht anders als diese Hühner. Es herrscht ein großes Geschrei und Anpassen. Täglich. Beobachten wir einmal unser tägliches Umfeld, unseren täglichen Hühnerhof: zu Hause, am Arbeitsplatz, in den Gruppen, im Fernsehen.

Aber Jesus möchte andere Menschen haben. Wir sollen nicht wie alle Herdentiere, auch nicht wie Hühner übereinander herfallen. Doch er lässt die Leute erst einmal schwätzen, was sie schwätzen mögen. Sollen sie doch tuscheln über ihn: Was? Der geht zu diesen da? Was? Das kann doch nicht sein, dass er mit diesen da gemeinsame Sache macht! Jesus macht sich als einzelner der Frommen auf, durchbricht dieses Gruppendenken, und bekommt sofort die Folgen zu spüren: Was hast du mit diesen da zu schaffen? Komm wieder zu uns in die Gruppe! Wie reagiert Jesus? Er sagt schlicht und ergreifend: Diese Menschen benötigen mich. Doch dabei belässt er es nicht: Er greift die Menschen seiner Gruppe an, indem er sie auffordert, genau so zu handeln: Sie benötigen mich – und euch. Gott will eure Barmherzigkeit! Jesus fordert nicht allein dazu auf, wie Gott barmherzig zu sein, sondern sagt ihnen sogar: Ich, Jesus, ich bin nicht allein auf meinem Weg zu diesen Menschen, die ihr ablehnt, sondern Gott ist auf meiner Seite. Gott will, dass diese Grenzen zwischen ihnen und euch durchbrochen werden! Jesus sieht sich zwar von diesen frommen Menschen verlassen – aber er weiß: Er ist nicht allein. Das hat die Frommen der damaligen Zeit empören müssen: Er nimmt für seine Außenseiterrolle Gott in Anspruch? Gott soll auf seiner Seite sein und nicht auf unsrer?

Und was geschieht nun, wenn er die Frommen zurechtweist – was denken dann die Sünder? Nun freuen sich die Sünder, dass Jesus diese Frommen in die Schranken gewiesen hat. Für die Sünder sind die Frommen die „Die da“. „Die da“ stoßen uns aus! „Die da“ essen nicht mit uns, „Die da“ mögen uns nicht, „Die da“ fühlen sich als etwas Besseres! – Jesus, klasse, wie du „Die da“ fertig gemacht hast!

Hat Jesus das? Hat Jesus die Frommen seines Volkes fertig gemacht?

Ich muss sagen, ich habe den folgenden Satz erst verstanden, als ich über die Predigt nachgedacht habe. Und ich hatte schon vorher viel über diesen Satz nachgedacht:

Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.
Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.

Die Menschen aus der Gruppe, aus der er kommt, die Gruppe der Frommen, sie werden nicht zu den neuen „Die da“! Ich hatte bislang immer gedacht, Jesus meine das ironisch, wenn er von den Gegnern als Gesunde und Gerechte spricht. Nein, er meint das nicht ironisch. Er will nur nicht schon wieder anfangen, dass nun die Frommen und Gerechten zu den „Die da“ der Sünder werden, zu den Menschen werden, die man verachten kann, auf die man herabsehen und bekämpfen kann. Die Sünder bekommen keinen Grund, nun auf die Frommen herabzusehen und sich nun ihrerseits als etwas Besseres zu fühlen.

Das macht auch unsere Gesellschaft krank: Wir sehen, dass Gruppen andere Gruppen ausgrenzen – und nun stellen sich andere auf die Seite dieser ausgegrenzten Gruppen und grenzen wiederum die anderen aus. Wir treiben Spaltpilze überall hin. Wo wir Menschen sind, bilden wir Gruppen, grenzen uns ab, fühlen uns als die Besseren, Klügeren, Schöneren, Nationaleren, Tugendhafteren. Jesus sagt: Nein! Ein solches Verhalten ist nicht Gottes Wille! Gottes Wille ist es, dass Ihr barmherzig miteinander umgeht!

Gleichzeitig ist Jesus nicht so naiv, wie gute Menschen heute häufig naiv sind. Jesus ist keiner, der sagt: Geh nur nett mit den Menschen um, dann werden sie alle nett zu dir sein. Jesus lebte in einer gewalttätigen Gesellschaft. Die Sünder sind Sünder, die Kranken sind Kranke. Sein Ziel ist es nicht zu sagen: Lieber Sünder, bleib so wie du bist, du bist schon ganz in Ordnung so. Er sagt nicht: Lieber Mensch, der du dich vollkommen asozial verhältst, mach es weiter so, du bist von Gott geliebt und also: alles ok. Was auch immer du denkst, lieber Sünder, komm in meine Arme. Nein! Jesus will, dass die Menschen, die sich sozial daneben benehmen, den Weg Gottes einschlagen. Solange sie nicht den Weg Gottes einschlagen – und zwar alle zusammen, so lange wird es nichts mit der guten Gesellschaft. Solange die Sünder sich nicht ändern und die abgrenzenden Frommen sich nicht ändern, wird es nichts. Mit rosaroter Brille und zuckersüßem Menschenbild hat das ganz und gar nichts zu tun. Jedem wird gesagt, was an seinem Verhalten übel ist. Den einen wie den anderen. Jesus redet mit den Frommen Tacheles wie mit den Übeltätern. Von Jesus stammt der Satz: Seid klug wie die Schlangen, seid ohne Falsch wie die Tauben. Klugheit gehört zu allem sozialen Miteinander dazu. Man muss die Fehler aller Gruppen benennen und darf nicht eine andere Gruppe zur heiligen Gruppe erklären, wenn sie genauso viel – nur anderen Dreck – am Stecken hat.

Und so hat die christliche Kirche sieben Tugenden aus ihrer heidnischen Tradition aufgenommen und weiter entwickelt, Tugenden, Maßstäbe, an die sich jeder zu halten hat, damit eine Gesellschaft gelingt. Aus der griechischen Tradition hat die Kirche aufgenommen:

Gerechtigkeit,
Weisheit,
Tapferkeit,
Mäßigung,

sie hat diese Traditionen weiter geführt mit den drei weiteren Tugenden, Maßstäben:

Glaube,
Liebe,
Hoffnung.

Mit diesen Tugenden haben wir einen Maßstab an der Hand, mit dem wir allem widerstehen können. Wenn einer „Die da“ sagt, wenn er sagt: „Die da“ haben nichts mit uns zu tun, die sind böse – steckt hinter dieser Aussage wirklich Gerechtigkeit, Liebe, Tapferkeit? Oder haben solche Aussagen nicht eher Hochmut, Angst, Lieblosigkeit zum Ursprung?

Einer der ganz großen Christen in der Zeit des Nationalsozialismus war Dietrich Bonhoeffer. Der Pfarrer Dietrich Bonhoeffer war im Widerstand gegen den Nationalsozialismus tätig, indem er Informationen ins Ausland brachte und vom Ausland Informationen ins Land. Das war Landesverrat – und dennoch hat er das gemacht, weil die Gesetze des nationalsozialistischen Staates Unrecht waren. Es ist Unrecht zu sagen: Die Juden da – sind alles Übel und müssen beseitigt werden. Es ist Unrecht zu sagen: Die da haben nicht meine politische Meinung – die müssen beseitigt werden, damit wir eine neue Welt errichten können. Es ist Unrecht zu sagen: Die Behinderten da müssen beseitigt werden, damit unsere Gesellschaft rein wird. Ein Christ, so Bonhoeffer, hat dem Staat gegenüber Widerstand zu leisten, wenn er Unrechtsgesetze macht. Ein Christ hat dem Rad in die Speichen zu fallen, wenn es beginnt, andere Menschen zu überrollen. Das ist nicht nur das Recht der Christen, Unmenschlichkeiten zu benennen, es ist die Pflicht der Christen im Namen Gottes Unrecht Unrecht zu nennen. Es ist die Pflicht von uns Christen, nicht bei diesem üblen Spiel der Ideologen welcher Farbe auch immer mit zu machen: „Die da“! „Die da“ sind die Bösen, die Schlimmen… wir sind die Guten… Christen haben die Pflicht, so gut sie es können, im Staat den Willen Gottes anzumahnen, sie haben die Pflicht, in ihrem Umfeld die sieben Tugenden umzusetzen: Gerechtigkeit, Weisheit, Tapferkeit, Mäßigung, Glaube, Liebe, Hoffnung.

Und diese umzusetzen bedeutet: Nicht bei dem Spiel „Die da“ mitzumachen. Es bedeutet, allen Gruppen den Willen Gottes zu sagen und alle aufzufordern: Kehrt um von eurem bösen, vom gottlosen Weg. Und das klug.

Dietrich Bonhoeffer wurde umgebracht – der Weg, Gottes Willen zum Wohl der Menschen und der Gesellschaft umzusetzen, ist nicht leicht, weil man dadurch selbst unter die Räder geraten kann. Darum gedenken wir der Opfer des Nationalsozialismus, damit sie nicht vergessen werden, aber auch, damit wir heute Menschen, die Opfer einer Gesellschaft werden, im Namen Gottes beistehen und Grenzen zwischen Gruppen überwinden. Ob die Mehrheit, ob die Lautstarken einer Gesellschaft das für richtig halten oder nicht.