Markus 2,23-28: Christen sind freie Menschen

Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht im Markusevangelium im 2. Kapitel:

Und es begab sich, dass Jesus am Sabbat durch ein Kornfeld ging; und seine Jünger fingen an, Ähren auszuraufen, um das Korn zu essen. Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Siehe, deine Jünger tun am Sabbat etwas, das nicht Recht ist.

Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen was David tat, als er Not hatte, als ihm und den Seinen hungerte? Wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit Abjathars, des Hohenpriesters, und aß die Schaubrote, die niemand durfte essen, außer die Priester, und er gab sie auch denen, die bei ihm waren?  Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht, und nicht der Mensch um des Sabbat willen. So ist des Menschen Sohn ein HERR auch des Sabbats.

Soweit der Predigttext.

Was mich an dieser Geschichte erst einmal fasziniert, ist, dass die Jünger Jesu ziemlich locker mit dem Gesetz umgegangen sind. Sie waren ja auch Juden – aber sind am Sabbat durch das Feld spaziert und haben sich Körner aus den Ähren gezupft, um sie zu zerkauen. Solche lockeren Menschen gibt es überall. Als wir vor einigen Jahren in Ägypten waren, besuchten wir eine altehrwürdige Moschee. Wir mussten alle Schlappen anziehen – und die Reiseleiterin erklärte uns alles. Da kam eine Gruppe Frauen über den Hof. Unsere Reiseleiterin rief zu ihnen hinüber: Zieht Schuhe an die Füße! Die Frauen antworteten: Wir kommen vom Land und verstehen nichts von solchen Dingen. Diese Antwort hatte die Reiseleiterin ziemlich empört. Überall gibt es Menschen, die fünfe grade sein lassen, die nicht päpstlicher sind als der Papst. Diese Menschen machen Religion menschlich. Und Jesus? Jesus ist nicht nur so leger, geht nicht nur so unbedacht mit dem Gesetz um – nach dem Motto: Ich komme aus Nazareth und verstehe nichts vom Sabbat – sondern bei ihm ist die Menschlichkeit zum Prinzip geworden. Er verteidigt nicht allein seine Jünger mit einem alttestamentlichen Zitat – sondern hat auch – in den Augen seiner Widersacher die Frechheit oder die blasphemische, gotteslästerliche Arroganz, zu sagen:

Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht, und nicht der Mensch um des Sabbat willen.

Und er steigert das auch noch:

So ist des Menschen Sohn ein HERR auch des Sabbats.

Freilich ist dieser Satz so empörend, dass selbst Bibelwissenschaftler meinen, dieser letzte Satz sei erst nachträglich von der Gemeinde hinzugefügt worden, Jesus habe nicht ein solch aggressives Selbstbewusstsein gehabt. Jesus hebt diese Gesetzesübertretung auf eine theologische Höhe, in denen es allen schwindlig geworden sein dürfte und heute noch schwindlig wird.

Was ist daran so außergewöhnlich? Nicht mehr das alttestamentliche Gebot und die daran angeschlossenen Traditionen, die von Gott hergeleitet wurden, zählen. Was zählt ist: der Mensch. Alles Religiöse, alle religiösen Sitten und Bräuche, alle religiösen Traditionen sind um des Menschen willen da! Der Mensch ist nicht Sklave solcher gesetzlicher Traditionen, sondern die Traditionen dienen dem Menschen. Und für die damaligen Menschen klingt das noch schlimmer: Der Sabbat ist nicht um Gottes Willen da – sondern Gott hat ihn um des Menschen Willen geschaffen. Wird damit Gott nicht von seinem Thron gestoßen? Wird Gott nicht dem Menschen untergeordnet? Kann dann der Mensch nicht tun und lassen, was er will?

Woher hat Jesus die Freiheit, so zu reden?  Jesus kannte die Schöpfungsgeschichte, die wir auch heute noch lesen. Und dort findet er diese Freiheit: Gott sagte, nachdem er den Menschen erschaffen hatte, zu dem Menschen: Von diesen beiden Bäumen darfst du nicht essen. Das bedeutet: Von Anfang an hat Gott den Menschen vor Alternativen gestellt – und das bedeutet Freiheit. Ohne Alternativen gibt es keine Entscheidungsfreiheit – und ohne Entscheidungsfreiheit gibt es keine Möglichkeit, Verantwortung zu tragen. Freiheit hat immer etwas mit Verantwortung zu tun. Wenn man frei ist, alles zu tun und zu lassen was man will, dann verheddert man sich in der Freiheit, und ist unfrei. Freiheit und Verantwortung zu tragen, das sind zwei Seiten einer Medaille. Und dieses Gottesprinzip, das wir in der Schöpfungsgeschichte finden, das finden wir bei Jesus wieder: Der Mensch ist frei, also trägt er Verantwortung. Der gesetzliche Mensch, derjenige, der nur tut, was das Gesetz vorschreibt, der trägt keine Verantwortung, sondern ist Sklave des Gesetzes. Doch der freie Mensch ist Herr über das Gesetz, ist Herr über den Sabbat – aber er trägt damit auch Verantwortung.

Es gibt ein Jesuswort, das erst nachträglich in das Neue Testament eingefügt worden ist:

Jesus sah einen Mann am Sabbat arbeiten. Da sagte er zu ihm: „Mensch, wenn du weißt, was du tust, bist du selig; wenn du nicht weißt, was du tust, bist du ein Übertreter der Gesetzes.“ (Lk 6,5D)

Dieses Wort vertieft das Gesagte noch einmal: Freiheit und Verantwortung hängen eng zusammen.

Doch was ist der Maßstab dafür, richtig zu handeln? Und dieser Maßstab wird uns im zweiten Teil dieses scharfen Satzes gesagt. Im Predigttext heißt es:

So ist des Menschen Sohn ein HERR auch des Sabbats.

Christlicher Glaube empfängt seinen Maßstab für freies Handeln und Verantwortung zu tragen von eben diesem Menschensohn – also von Jesus Christus. Wie die Jünger mit seiner Einwilligung am Sabbat Körner gefuttert haben, so ist auch das Leben der Christen von eben Jesus Christus abhängig, nach ihm richten wir uns aus. Er ist unser Maßstab. Das hat mit unserer Verantwortung, mit unserer Freiheit zu tun – und das hat massive Konsequenzen. Christen sind Menschen, die sich, wenn möglich, nach den allgemeinen gesellschaftlichen Vorgaben richten. Aber es gibt immer auch Situationen, in denen sie sagen müssen: „Nein, da mache ich als Christ nicht mit, da machen wir als Christen nicht mit.“ Wenn die Freiheit genommen wird und damit auch die Verantwortlichkeit des Einzelnen, können Christen sehr unangenehme Menschen werden. Denn sie rufen der Menge der Menschen, sogar Unrechtsstaaten ein großes „Nein!“ entgegen. Natürlich gibt es immer Christen, die mit allem möglichen Weltanschauungen laufen und allen möglichen Gesetzen und allen Hirngespinsten nachlaufen und allen möglichen Zeitgeistströmungen, wie man so schön sagt, in den Hintern kriechen – aber es gibt immer auch Christen die sagen: „Nein!“

Und dieses „Nein!“ riefen ein paar Christen in der Zeit des Nationalsozialismus den vielen Hitlerfans – den Deutschen Christen – zu. Dieses „Nein!“ rufen Christen bis in die Gegenwart den kommunistischen Systemen in China, in Kuba, in Nordkorea zu – und müssen extrem leiden. Dieses „Nein!“ rufen sie den islamischen Systemen zu – und müssen ebenfalls extrem leiden, und dieses „Nein!“ werden wir auch als Christen in Europa und Amerika immer wieder den Systemen zurufen müssen – denn wir sind nicht Sklaven und Diener irgendwelcher Weltanschauungen und Ungerechtigkeiten, sondern wir gehören Jesus Christus, der sich gegen alle Unmenschlichkeiten wendet.

Dieses „Nein!“ das in der Zeit des Nationalsozialismus Menschen der Bekennenden Kirche den Nationalsozialisten und ihren Folgern zugerufen haben, bekam einen konzentrierten Ausdruck in der Barmer Theologischen Erklärung, von der wir hoffentlich im nächsten Jahr mehr hören werden, denn sie jährt sich zum 80. Mal. Die Barmer Theologische Erklärung weist auf diesen Kern unseres christlichen Glaubens hin. Sie sagt nicht nur: Wir machen nicht mit! Sie sagt auch, warum Christen nicht zu jedem und allem „Ja“ und „Amen“ sagen, nicht sagen dürfen!

Und das sagt uns schon die These I.

Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.

Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.

Soweit die erste These. Jesus Christus ist unser Maßstab. Der Menschensohn ist Herr über den Sabbat. Nicht wir sagen dies und jenes, weil wir es so gut oder richtig finden. Der Maßstab ist Jesus Christus. Und damit Jesus Christus Maßstab sein kann, müssen wir natürlich wie die Jünger und alle anderen, die sich von Jesus angesprochen und angezogen fühlen, in engem Kontakt zu ihm stehen – eben nachfolgen. Wir müssen das Neue Testament äußerst sorgfältig und regelmäßig lesen. Ja, wir wollen – wie Maria die Worte der Hirten – die Worte des Neuen Testaments in unseren Herzen bewegen. Wir werden äußerst sensibel für das, was Gott uns sagen will – und für das, was wir im Namen Gottes sagen – in unserem Umfeld, in unserer Gesellschaft sagen sollen. Eben als die in und durch Jesus Christus freien Menschen und somit als diejenigen, die Verantwortung tragen. Und so kann es auch vorkommen, dass Christen auch in die Kirche hinein den Spaltpilz treiben müssen, weil sie eben nicht alles mitmachen, was sich die jeweilige Zeit so unter richtigem Verhalten vorstellt. Dazu gehört freilich Klugheit, waches Beobachten der Gesellschaft und der Welt.

Dazu gehören Klugheit und waches Beobachten, denn Träumereien helfen nicht weiter – Träumereien von einem Leben der Menschlichkeit sind nicht unbedingt hilfreich, weil sie die Realitäten übersehen. Denn was vordergründig als menschlich erscheint – kann hinterrücks Unmenschlichkeit mit sich bringen. Aber als Freie und als solche, die in der Nachfolge Jesu Christi wachsam Verantwortung tragen, kontinuierlich das sagen und tun, was wir im Namen Gottes sagen und tun müssen – das ist unser Auftrag.

Freie Menschen nehmen anderen Menschen nicht die Freiheit. Freie Menschen versuchen nicht, durch Gesetzlichkeit andere Menschen davon abzuhalten, für ihr Leben verantwortlich zu sein. Wenn Gott den Menschen Freiheit schenkt – bis dahin, dass wir es nicht mehr kapieren und sagen: Gott, hau doch mal endlich auf den Tisch, bis der letzte kapiert, was dein Wille ist! – Wenn Gott den Menschen also so viel Freiheit lässt – wie können wir anderen die Freiheit nehmen? Gott schenkt Freiheit – und damit übergibt er auch uns Verantwortung, in seinem Namen „Nein!“ zu rufen, wenn es nötig ist. Er lässt uns mit dem Propheten Micha rufen: Es ist dir gesagt Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott. Wir tragen Verantwortung für ein menschliches Verhalten – und dafür, anderen mit unserem menschlichen Verhalten eine Alternative aufzuzeigen.