2. Mose 19: Gott hat Israel erwählt

Der für den heutigen Israelsonntag vorgeschlagene Predigttext steht im 2. Buch Mose im 19. Kapitel, die Verse 1-6:

Am ersten Tag des dritten Monats nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, genau auf den Tag, kamen sie in die Wüste Sinai.
Denn sie waren ausgezogen von Refidim und kamen in die Wüste Sinai und lagerten sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge.
Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der Herr rief ihm vom Berge zu und sprach:
So sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen:
Ihr habt gesehen, was ich mit den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht.
Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein.
Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst.

Soweit der Predigttext.

Dieser Gott des Volkes Israel, unser Gott, ist ein ganz anderer Gott, als ihn die Völker kennen, ganz anders als die Götter. Er befreit Menschen aus der Knechtschaft; er führt sie nicht sofort in das gelobte Land, sondern zuerst in die Wüste. Er lässt sie dort jedoch nicht allein, sondern spricht mit ihnen. So ruft er Mose auf den Berg zu sich – und in der Wüste, dem Ort der Einsamkeit, dem Ort der Verlassenheit schließt er mit den Menschen seinen Bund. Und er führt Menschen nicht aus Grausamkeit in die Wüste. Wir würden fragen: Warum führt Gott uns erst durch die Wüste? Warum führt er uns ins Leiden? Warum lässt er uns hungern und dürsten und schwitzen? Warum lässt er uns schreien? Die Wüste, so hat das Volk Israel gelernt – und lernen damit auch wir, ist der Ort, an dem wir Menschen Gott begegnen können. Gott zeigt sich nicht in der Fülle, sondern in der Einsamkeit. Gott zeigt sich nicht am Ort des Wohlergehens, sondern im Leiden. Und hier, an diesem Ort, will er mit uns sprechen. Wir sehen diese Orte als Orte an, in denen Gott fern ist, doch gerade hier ist Gott vernehmbar. An diesem Ort fordert er Mose auf, zu ihm zu kommen. Mose hätte dagegen viele Einwände vorbringen können. Gott, du forderst mich auf, in dieser Wüstenei und dem Ort der Einsamkeit und des Leidens zu dir zu kommen? Komm du zuerst zu mir! Und häufig hören wir auch das Flehen von Menschen dieses Volkes: Gott, komm zu mir! Doch Gott fordert Mose auf, zu ihm zu kommen. Und der große Mose, einer der größten Menschen, die auf dieser Erde gelebt haben – auch wenn viele es bestreiten, dass es ihn gegeben haben soll – , geht zu Gott. Er ist groß, weil er demütig ist vor Gott. Und so liegt es auch an uns an unseren Orten der Einsamkeit und des Leidens den Ruf Gottes zu hören: Komm zu mir! Unser eigenes beten und rufen hören wir immer laut – doch auch Gott ruft: Komm! Und Mose geht. Und was hört er da? Gott hat dieses Volk getragen, in der Sklaverei, aus der Sklaverei hinein in die Wüste. Er hat diesem Volk in seinem Leiden geholfen. Er war da, er war nah. Gott muss es uns sagen, weil wir selbst nur auf uns zu sehen gelernt haben, auf unsere Taten – und was Gott tut, das sehen wir nicht. Gott sagt dem Menschen: Ich war da und habe dich getragen und trage dich noch in deiner Lebenswüste – und in deiner Lebenswüste trage ich dich zu mir. Und hier, in dieser Lebenswüste bietet Gott Menschen seinen Bund an. Nicht im Land der Hülle und Fülle. Nicht im Land des Wohlergehens und der Reichtümer. Sondern im Land der Mühe und der Not. Im Land des Leidens und der Einsamkeit sagt Gott den Menschen: Ihr soll mein Eigentum sein vor allen Völkern, ihr sollt ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Hier sagt Gott das den Menschen? Hier, wo kein anderes Volk in Sicht ist, wo man selbst nicht weiß, ob man die Wüste überlebt? Hier verheißt Gott, man werde ein Volk vor allen Völkern sein? Priester des Volkes Israel sind reine Menschen. Sie mussten viele Reinheitswaschungen vollziehen – und das hier in der Wüste? Der Schweiß ist die Waschung, der Sandstaub ist das Wasser. Hier im Leiden mit seinen Unannehmlichkeiten, Schweiß und Staub, sollen wir reine Priester sein, heiliges Volk sein? Gott geht mit seinen Verheißungen eigenartige Wege. In seiner Wüste hat dieses Volk den Bund Gottes angenommen.

Viele Menschen können es nicht ertragen, dass Gott sich ein Volk erwählt hat – bis heute. Moslems können das aus religiösen Gründen nicht akzeptieren, und Palästinenser nicht aus politischen Gründen. Sogenannte moderne Menschen können das nicht akzeptieren, weil es keinen Gott gibt – und wenn es keinen gibt, dann kann er auch niemanden erwählen; und wenn Gott kein Volk erwählt hat, es aber von Erwählung spricht, dann ist es hochmütig und selbstgefällig, so der Vorwurf. Oder wenn Gott, wie man es heute überall hören kann, eine Macht ist, die alles gleichermaßen durchwirkt, dann wird auch dieser Gott sich kein Volk besonders erwählen. Psychologen können das nur als eine Selbsterhebung bezeichnen, wenn ein Volk sagt, Gott habe es erwählt. Unsere deutschen Vorfahren konnten es aus rassischen Gründen nicht verstehen – und man muss sich schämen, zu gestehen – dass auch Christen immer wieder die Erwählung Israels durch Gott abgelehnt und diese Tatsache bekämpft haben. Gerade Christen hätten es besser wissen müssen: Sie kannten Jesus, sie kannten Paulus – ja, sie kannten auch Johannes. Jesus, Paulus, Johannes und wie andere neutestamentliche Autoren auch heißen, oder ganz zu schweigen von den Propheten: Sie alle werben um das Volk Gottes. Sie bekennen, dass Gott dieses Volk liebt, dass er sich um es bemüht.

Doch warum geht uns das überhaupt etwas an? Sollen wir das Volk Israel nicht Volk Israel sein lassen? Sollen wir Juden nicht Juden sein lassen und unsere eigenen Glaubenswege gehen? Das geht nicht – weil der Gott, der das Volk Israel erwählt hat, auch unser Gott ist. Alles, was dieser Gott getan hat und tut, das geht uns an. Es geht uns an – und möchte uns dazu führen, diesen unseren Gott zu loben, ihm die Ehre zu geben. Diese Frage geht uns auch darum an, weil wir als Heiden von Gott diesem Volk hinzugeführt worden sind. Wir sind hineingenommen in die Familie Gottes. Wir, so beschreiben es der Brief des Paulus an die Kolosser und die Epheser, waren fremd gewesen, doch nun sind wir Hausgenossen Gottes geworden – eben mit diesem Volk, das Gott sich erwählt hat. Wir leben mit diesem Volk unter einem Dach, dem Dach Gottes. Auch darum geht uns das Volk etwas an. Außerdem: Wieviel können wir von diesem Volk lernen? Wir hören die Ermahnungen der Propheten – und die gelten auch uns heute! Die Psalmen, in denen Menschen sich über ihren und unseren Gott freuen, sich bei ihm beklagen – wie sehr können sie uns helfen, mit unserem Gott reden zu lernen. Und das in Angst, in Not, in Freude und Zweifel. Wir erfahren aber auch, was geschieht, wenn Menschen sich von Gott lösen. Welch soziale Katastrophen über die Menschen hereinbrechen. Wieviel Angst Menschen anderen zufügen, Leid und Not, wenn sie meinen, sie könnten selbst bestimmen, wie das Leben gestaltet werden soll. Wir erfahren auch, dass Gott nicht ein ferner Gott ist, sondern dass er in der Geschichte handelt. Und so können geschichtliche Ereignisse uns nur erschrecken – doch sobald wir wieder auf Gott blicken, sehen wir: Er ist der Schöpfer dieser Welt, er ist der Erhalter und Herr. Er allein. Und von Anfang an musste das Volk mit Menschen leben, die sagten: schaut, hier ist euer Gott, schaut, da ist er – das Volk wurde verführt von allemöglichen vermeintlichen Götter und Gottheiten – das war immer der Beginn von Katastrophen. Auch heute, wenn das Volk den Verführungen nachgibt, wenn wir ihnen nachgeben.

Gott hat sein Volk erwählt. Das sehen wir an Jesus Christus. Durch ihn haben auch wir ehemaligen Heiden die Alttestamentlichen Schriften, und ihre ganzen Reichtümer. Woher sollen wir wissen, dass Gott sich den Menschen liebend zuwendet, wenn wir es nicht schon im Alten Testament hören würden? Und weil wir es in diesem Werk hören, können wir auch an Jesus Christus die Liebe Gottes erkennen. Er trägt die Menschen seines Volkes auf Adlersfittichen, auf Flügel des Adlers. Er schließt einen Bund mit dem Volk – und mit dem Bundesschluss hängt zusammen: Er fordert von uns Menschen auch Rechenschaft. Menschen müssen sich verantworten, ob sie sich für Gott entschieden haben oder gegen ihn. Sie müssen sich verantworten, wenn sie freiwillig gottlose Wege gehen. Gott zwingt sie nicht – auch nicht zum Heil der Menschen. Und das hat sich auch durch Jesus nicht geändert. Gott zwingt niemanden, doch zieht er zur Verantwortung. Und dass er ganze Völker zur Verantwortung zieht, wenn sie seinem Volk Leid antun, haben nicht nur unsere Vorfahren erleben müssen.

Gott hat sein Volk erwählt, er trägt es, er schließt einen Bund mit diesem seinen geliebten Volk. Und das hat sich auch durch Jesus nicht geändert. Und kann auch nicht geändert werden, da Gott an seinem Wort festhält. Was hat sich durch Jesus Christus geändert? Wir wissen, dass die zuvorkommende Liebe Gottes, die sich seinem Volk zugewendet hat, sich auch den Menschen aus den Völkern zugewendet hat. Wir erfahren von ihm, dass diese zuvorkommende Liebe Gottes größer ist als die fordernde Liebe. Gott sagt nicht, tue das, dann liebe ich dich, sondern: Ich liebe dich so sehr – kommst du zu mir? Und das gilt auch für sein Volk, durch die wechselhafte Geschichte hindurch. Sobald sich das Volk von Gott abgewandt hat, hat Gott dem Volk seine Freiheit gelassen, auch von ihm wegzugehen, sich anderen auszuliefern, zerstört zu werden – wie zu Herzen gehend hören wir es zum Beispiel beim Propheten Hosea!, oder im Buch des Propheten Jeremia. Welch eine zornige Trauer Gottes, die von seiner Liebe bestimmt ist, wird immer wieder laut. Wir sind unserem Gott nicht gleichgültig, auch wenn er uns gleichgültig ist. Und so ist auch diese tragische, traurige Geschichte Gottes mit seinem Volk, die in unserem Predigttext schon angeklungen ist, für uns bis heute ein wichtiges Wort: Wir können lieben, angesteckt von Gottes Liebe – wir können aber auch unsere Wege ins Verderben gehen. Dass Gott liebt, das zeigt nicht erst Jesus. Auch das alttestamentliche Gottesvolk wusste: Gottes Zuwendung war zuerst da, dann das Tun. Aber wie der Mensch halt so ist: Wir wollen Handfestes. Wir wollen uns selbst beweisen. Wir wollen uns beweisen, was für tolle Menschen wir sind – und spannen Gott in diese Selbstbespiegelung ein. In Jesus hat Gott seinem Volk wieder die richtige Reihenfolge vorgegeben: Erst die Liebe, dann das Wirken aus der Liebe Gottes. Nicht umgekehrt. Und darüber sind Menschen des Volkes, wie Paulus, Matthäus und andere so glücklich gewesen, dass sie darüber nicht schweigen konnten. Und dieses Glück erreichte auch die Menschen aus den Völkern – also bis heute kommt es zu uns und zu Menschen auf der ganzen Welt. Gott sandte Jesus in Welt, und ruft: Komm zu mir! Und viele Menschen auf der ganzen Erde leben in und aus der Liebe Gottes.

Und so gilt uns auch sein Wort, das er vor ca. 2500 Jahren seinem Volk gesagt hat: Ihr habt mich nicht zuerst geliebt, sondern ich euch (Dtn 7,7). Nehmen wir das ernst, können wir durch Jesus Christus in das Volk hinein genommen, ein Volk von Priestern sein, das heißt ein Volk, das zu Gott Zugang hat, wir können in Jesus Christus im Volk Israel ein heiliges Volk sein, also ein Volk, das ganz zu Gott gehört. Und das auch in unserer Lebenswüste. Was für eine Wüste, in der Gott uns sagt: Ich habe euch auf Adlersflügeln getragen und euch zu mir gebracht. Eine Lebenswüste, die nicht von Einsamkeit und Leid bestimmt wird, sondern von Gottes Liebe.