Gott, zu wenig! Mehr! (Matthäus 11) ☼

Der Für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht im Matthäusevangelium, im  11. Kapitel. Allen Texten des 11. Kapitels geht es um die Fragen: Ist Jesus wirklich der, den Gott den Menschen gesandt hat? Der Predigttext lautet:

Als Jesus diese Gebote an seine zwölf Jünger beendet hatte, ging er von dort weiter, um in ihren Städten zu lehren und zu predigen. Als aber Johannes im Gefängnis von den Werken Christi hörte, sandte er seine Jünger und ließ Jesus fragen: Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten? Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Geht hin und sagt Johannes wieder, was ihr hört und seht: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt;  und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert. 

Soweit der Predigttext.

Wäre ich Gott, würde ich zuerst einmal die Welt in Ordnung bringen. Zunächst würde ich der Gewalt, den Kriegen, den Misshandlungen ein Ende bereiten. Denken wir Menschen so, wird erst einmal der Militärhaushalt erhöht. Denn wie wollen wir sonst das Blutvergießen zwischen  den Völkern und Stämmen beenden?

Wäre ich Gott, würde ich die Erziehung in meine Hand nehmen. Denn die Menschen sollen  ja besser werden. Ich würde gehorsame und fleißige Kinder heranziehen. Und durch Propaganda in den Medien würde ich auch die Erwachsenen so erziehen, dass sie einander, vor allem mir, keinen Ärger bereiten. Auch in Schulen und Volkshochschulen muss Nächstenliebe und Sanftmütigkeit gelehrt werden. 

Wäre ich Gott, würde ich die Gene ändern, und Menschen folgsam und fröhlich machen.

Das wäre in etwa auch das, was Johannes mit einem großen Teil seiner Tradition erwartete: Gott kommt mit den himmlischen Heerscharen, die römische Besatzungsmacht wird aus dem Land  geworfen, mit ihr werden die Ungesetzlichen des eigenen Volkes vertrieben. Menschen lernen das Gesetz. Die Völker der Erde kommen herbei nach Israel, friedlich, freundlich, wohlgesonnen. Das erwartet Johannes. Und weil Jesus so ganz anders ist, als er erwartet hatte, schickt er seine Jünger: Er will es  wissen:

Ist Jesus nun der machtvolle Gesandte Gottes oder ist er es nicht?

Bist du der, den Gott gesandt hat, oder bist du es nicht, Jesus?

Und was antwortet Jesus auf die zweifelnden Fragen? Blinde sehen – und wir rufen im Sinne des Johannes: Schon recht, aber diese eins zwei Blinden, die du heilst – das ist zu wenig! Jesus sagt: Lahme gehen und Aussätzige werden rein – wir sind entsetzt, enttäuscht! Du bist  doch der Herr der Welt! Heile alle! Alles andere ist zu wenig! Taube hören und Tote stehen auf – wir schreien: Nein, das genügt nicht, was ändert das an der Welt! Schau sie an, die Kranken um uns herum, schau mich an! Das ist zu wenig! Armen wird das Evangelium gepredigt – das kann´s doch wirklich nicht sein! Das entspricht  doch nicht unserem Bild von Dir! Das ist wirklich zu wenig! 

Fahre drein in die Kirche und die Kirchenleitungen wie ein Blitz und zeige, wer der Herr im Hause ist!

Fahre drein und ändere die Ungerechtigkeiten in diesem Land, in dieser Welt bis in die hintersten Ecken der Erde!

Fahre drein, zerstöre die Arroganz der Macht und die wirren Pläne der Mächtigen!

Fahre drein in die gleichgültigen und gewissenlosen Herzen!

Alles andere ist zu wenig, zu wenig, zu wenig! 

Jesus sagt: Selig ist, wer sich nicht ärgert an mir.

Bist du es, der da kommen soll? Wer bist du, an dem wir uns nicht ärgern sollen?

Wir schauen auf den Menschen aus Nazareth. Er hat liebend gewirkt, er hat sich Menschen zugewandt. Von den Worten, die er gesprochen hat, wurden Menschen ergriffen, weil er Gottes Willen ausgesprochen hat. Einzelne Körper und Seelen gesundeten durch ihn. Es hat Gott gefallen, auf diese Weise zu wirken – zu wirken bis in unsere Gegenwart.

Wir schauen auf das Kind in der Krippe. Es liegt da, still, quietscht und strampelt, schreit, wie tausend, Millionen andere Kinder auch. Es hat Gott gefallen, in diesem Kind zu wirken. Bis  in unsere Gegenwart.

Wir schauen weiter. Die Stimme, die Armen das Evangelium verkündigte, verstummte. Die Kraft Gottes, die Menschen heilte, starb, grausam hingerichtet.

Wir schauen auf den Gekreuzigten. Gekreuzigt von der Besatzungsmacht, gefoltert und gequält, wie Millionen Menschen vor und nach ihm. Es hat Gott gefallen, in diesem Gekreuzigten zu wirken. Bis in unsere Gegenwart hinein.     

Wir schauen auf den Auferstandenen, von Klugen belächelt, von Klügeren interpretiert –  doch von niemandem kapiert. Es hat Gott gefallen, auf diese Weise zu wirken. Auch Jesus greift mit seinen Heilungsaussagen Erwartungen seiner Tradition auf, wie Johannes es macht.

Doch das weltumspannende machtvolle, gewalttätige Handeln Gottes ist nicht nur uns Kindern der Actionfilme beeindruckender. Diese paar Lichtlein des göttlichen Wirkens Jesu mögen zwar zunächst beeindrucken – aber sie entsprechen nicht unseren Erwartungen. Wir erwarten mit Johannes und vielen, vielen vor und nach ihm, dass Gott die Welt auf den Kopf stellt. Und so wurde Jesus trotz seiner Wunder von vielen seiner Zeitgenossen abgelehnt, weil er ihren Erwartungen nicht entsprochen hat. Jesus reagiert darauf mit einem Gebet: 

Ich preise dich, Vater. Herr des Himmels und der Erde, weil du dies den Weisen und Klugen  verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart. Ja, Vater, denn so hat es dir gefallen.

Indem wir diese Worte hören, erkennen wir, wie sehr Gott menschliche Vorstellungen mit  diesem seinem Handeln auf den Kopf stellt: in dem Kind, dem liebenden Menschen aus Nazareth, dem Gekreuzigten, den Auferweckten. Und so dürfen wir uns sehen, wie wir sind. Wir müssen uns auch Gott gegenüber nicht als Mächtige, Kluge, Starke, Gesunde gebärden. Wir können uns als die sehen, die wir in Wirklichkeit sind: als die Unmündigen, die Kindlichen, die Schwachen. Als die, die traurig sind über das, was uns betrifft, die wir häufig dem Verzweifeln nahe sind angesichts dessen, was wir von der Welt sehen. Wir müssen nicht  mit Wunsch- und Machtphantasien auftrumpfen, und unsere Kräfte in solchen Phantasien verpuffen lassen. Wir können gelassen auf Jesus sehen, seine Worte hören, und dann erkennen: Gott geht andere Wege, Wege, die uns freien Menschen angemessener sind. Es gibt bei ihm keine Diktatur der Menschlichkeit, keine Tyrannei der Weltretter.

Weil Jesus als Kind in der Krippe lag, wird die Weitsicht auf den Kopf gestellt: Offen und frei wie ein Kind, können wir anderen Menschen begegnen, furchtlos, fröhlich und bestimmt – und das machtvoll wie ein Kind in der Kraft Gottes.

Weil Jesus Christus am Kreuz gestorben ist, können wir aufstehen, wenn wir gefallen sind. Wenn wir versagt haben, können wir wieder das Haupt erheben, er hat uns von den Fesseln unserer Vergangenheit befreit. Befreit können wir in die Zukunft blicken und das in der Kraft Gottes. Auch wenn andere an uns versagt haben, sind wir frei, sie durch Vergebung zu  befreien.   

Weil Jesus Christus auferstanden ist, müssen wir den Tod nicht fürchten. Wir müssen nicht fürchten, als Wurm oder Mensch wieder auf die Erde oder sonst wo ins Leben zu gelangen, wir dürfen den erwarten, den wir schon kennen: Jesus Christus.

Weil er als Mensch unter Menschen wirkte, können wir in der Kraft Gottes hingehen und ebenso wirken: in Liebe, herausfordernd, gegen Ungerechtigkeiten im Alltag, wo auch immer. So stellt Gott die Welt auf den Kopf – und das auch durch uns.

Durch uns? Wie Gott es gefallen hat, auf diese Weise in Jesus Christus zu wirken, hat es Gott gefallen, uns Menschen zu rufen, schwach wie wir sind, kindlich, naiv, machtlos. Als solche hat er uns herausgerufen zu seiner Arbeit in dieser Welt. Gott hat es gefallen, uns in den Spuren seines Sohnes wirken zu lassen. Und wie Jesu Kräfte durch die Übel der Welt herausgefordert wurden, durch Krankheit, Tod, Armut, Verlorenheit, so fordern diese Übel auch unsere Kräfte heraus. Wer sich dazu körperlich zu schwach weiß, bete; wer dazu zu müde, zu resigniert ist, schaue auf die Kraft, die Gott schenkt. Wer Lieblosigkeit in sich  spürt, lasse sich die Liebe schenken. Wer nicht weiß, was zu tun ist, inhaliere diesen Predigttext. Wie auch immer wir uns einschätzen, uns gilt der sogenannte Heilandsruf, mit dem  Matthäus dieses Kapitel schließt:

Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, spricht Jesus, ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. 

Wir wünschen uns mehr und denken, das sei zu wenig – und können selbst diesem Ruf nicht  nachkommen? Dabei ist der Sprecher des Heilandsrufes so nah, so nah, dass wir jetzt seinen  Ruf hören können. Versagend und aufstehend gehen wir diesem gewiesenen Ziel entgegen. Zweifelnd und erwartungsvoll hörend, sind wir an seine Hand genommen. Müde und erneuert in der Kraft Gottes, krank an uns selbst und gesundet leben wir in der Zuversicht auf den, der uns unseren Weg gewiesen hat.

Und weil Gott es gefallen hat, uns zu rufen, gehen wir befreit in Jesu Spuren, die durch den  Predigttext vorgezeichnet sind. Die Welt wird anders, weil wir durch ihn anders geworden sind. 

Matthäus beantwortet also die eingangs gestellt Frage: Jesus ist der, den Gott gesandt hat. Doch handelt er ganz anders, als Johannes und weitere Zeitgenossen erwartet hatten. Er wendet sich den Menschen nicht mit Gewalt zu, sondern heilend, aufrichtend, und er nimmt  uns in dieses sein Tun am Menschen hinein.