Spannend ist, dass die vorgeschlagene Textauswahl 1-14 das Wesentliche übergeht – die von Johannes angeschlossene Rede über die Beziehung zwischen Gott und Jesus – die Einheit von Vater und Sohn. Wenn dieser Teil weggelassen wird, verhalten wir uns da nicht wie die Gegner Jesu, die nicht erkennen können, worum es wirklich geht?
Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht im Johannesevangelium im 5. Kapitel, die Verse 1-16. Ich lese aber bis Vers 18.
Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen; in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte. Es war aber dort ein Mensch, der war seit achtunddreißig Jahren krank. Als Jesus ihn liegen sah und vernahm, dass er schon so lange krank war, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm deine Matte und geh hin! Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm seine Matte und ging hin. Es war aber Sabbat an diesem Tag. Da sprachen die Behörden zu dem, der geheilt worden war: Heute ist Sabbat, es ist dir nicht erlaubt, deine Matte zu tragen. Er aber antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm deine Matte und geh hin! Sie fragten ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm deine Matte und geh hin? Der aber geheilt worden war, wusste nicht, wer es war; denn Jesus war fortgegangen, da so viel Volk an dem Ort war. Danach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm: Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre. Der Mensch ging hin und berichtete den Behörden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe. Darum verfolgten sie Jesus, weil er dies am Sabbat getan hatte. Jesus aber antwortete ihnen: Mein Vater wirkt bis auf diesen Tag, und ich wirke auch. Darum trachteten die jüdischen Behörden noch mehr danach, ihn zu töten, weil er nicht allein den Sabbat brach, sondern auch sagte, Gott sei sein Vater, und machte sich selbst Gott gleich.
Soweit der Predigttext.
Ich möchte nur kurz auf das Thema Wunder eingehen: Jesus konnte Wunder tun. Seine Wunder sind zu unterscheiden von den Erzählungen über die Wunder. Aber jedes Wunder berichtet von einer besonderen Situation. Zum Beispiel unser Wunder: Wir finden eine genaue Orts- und Zeitangabe, der Geheilte wird in besonderer eigenartiger Weise dargestellt: Er war so phlegmatisch geworden, dass ihm irgendwie alles egal zu sein schien. Er war einfach nur apathisch, tat, was man ihm sagte: Nimm deine Matte und geh – und er ging. Sonst nichts. Wie paralysiert, er war weiterhin wie gelähmt – körperlich geheilt, aber im Kopf gelähmt. Dafür waren eben die Gegner von Jesus nicht ruhig.
Im 19. Jahrhundert hat man jedes Wunder abgelehnt und versucht, es rational zu erklären – aber in der Gegenwart rechnen auch Kritiker damit, dass Jesus besondere Fähigkeiten hatte, Menschen zu helfen. Es gibt die verschiedensten Versuche, das zu verstehen. Allerdings wissen wir: Der Verstand versteht nicht alles. Und so müssen wir uns auf das einlassen, was hinter diesem und jedem anderen Wunder erkennbar ist.
Was ist erkennbar? Gottes Liebe zu den Menschen in Jesus Christus wird zeichenhaft an den Wundertaten deutlich. Bis heute erfahren Menschen in dem, was wir Wunder nennen, die Nähe Gottes. Andere erfahren die Nähe Gottes darin, dass sie leiden. Das ist schön an dem Film The Chosen, die Erwählten, deutlich. The Chosen ist eine weitgehend sehr gelungene Filmreihe über Jesus. In dieser wird Jakobus, der Jünger Jesu, als körperbehindert dargestellt. Jesus gibt auch Jakobus die Kraft, Menschen zu heilen – aber Jakobus selbst wird nicht geheilt. Und das macht ihm zu schaffen. Die Antwort, die dem Jakobus gegeben werden kann: Deine Behinderung gehört zu dir. Sie macht dich zu dem Menschen, der du bist. Du bist ein Zeichen für andere, dass du mit deiner Behinderung wertvoll bist vor Gott. Du bist mein Jünger, ich, Jesus Christus, liebe dich wie die anderen. Nicht Gesundheit macht dich wertvoll, nicht Stärke, sondern: du gehörst zu mir.
Der Geheilte unseres Textes – er kapiert im Grunde nichts, begnügt sich mit seiner Heilung, anstatt tiefer zu fragen. Und so fragen wir häufig in unserem Leben auch nicht tiefer:
Mir ist Gutes passiert – sagen wir dann:
Danke, Gott!?
Oder nehmen wir es einfach als Zufall hin?
Mir ist Übles passiert – dann klagen wir:
Warum mir?
Wir klagen herum, wälzen die Gedanken, anstatt zu fragen:
Gott, was willst Du, dass ich tun soll?
Der Geheilte unseres Predigttextes hat im Grunde nichts verstanden – wir haben im Grunde nichts verstanden, wenn wir an vordergründigem Stehenbleiben – wenn wir Gott übersehen. Die Besonderheit dieses Wundertextes besteht nun darin, dass das Wunder die Gegner Jesu herausfordert. Sie verstehen nicht, wie einer es wagen kann, gegen das Gesetz zu verstoßen. Sie sind vor dem Kopf gestoßen, im Hirn wie gelähmt. Und in der Diskussion sagt ihnen Jesus, wer er ist. Er und Gott sind eine Einheit. Wie Gott handelt, so handelt Jesus, wie Jesus handelt, so handelt Gott. Hier wird die Grundlage unseres christlichen Glaubens ausgesprochen. Das Wunder wird zum Sprungbrett genommen – um in den Glauben hineinzuspringen.
In dieser Wundergeschichte geht es somit nicht um den Geheilten, es geht auch nicht um mich. Es geht um Jesus Christus, um den, der einem furchtbar Kranken nur sagen musste – und das wird vielfach wiederholt – : Nimm deine Matte und geh heim. Nichts weiter. Keine magischen oder rationalen Handlungen. Einfach nur das simple Wort: Nimm deine Matte und geh heim. Wer ist dieser, der nur simple, einfache Wörter spricht und Gewaltiges geschieht?
In den Religionsgesprächen der Gegenwart kann man sich wunderbar auf Gott einigen. Dann sagen manche: Der Gott der Muslime ist auch unser Gott. Oder der höchste Gott der Hindus, Brahman, ist auch unser Gott. Oder: Das Buddhaprinzip ist im Grunde auch unser Gott. Jesus Christus aber stört unserer modernen philosophischen Sicht, nach der wir irgendeine allkosmischwirksame Macht postulieren. Wir machen uns ein Bild von Gott – und dann passen alle Götter in das Bild hinein. Damit lähmen wir uns selbst – wir können nicht zu Gott kommen.
Aber da stört dann jemand. Wie er immer störte. Er störte seine Gegner damals, er stört im Gespräch der Religionen: Jesus Christus. Wer ist Jesus Christus? Für die einen ist er ein Prophet, für andere ist er ein kosmisches Prinzip, für andere ein guter Mensch, für wieder andere ein Störenfried, für andere ist er unwichtig, irrelevant. Aber auf jeden Fall heißt es im Chor: Christen haben Unrecht, wenn sie ihn eng mit Gott verbinden. Vor allem: „Gott gibt es nicht!“
So wird heutzutage hin und her spekuliert, gedröhnt, gerufen, diskutiert. Den Christen wird vorgeworfen, ein falsches Bild von Jesus Christus zu verkünden. Dieser Jesus Christus stört – er stört bis heute. Und darum wird er verspottet, werden Christen vielfach verfolgt und verspottet. Aber gerade am Spott erkennen wir, an der Verfolgung von Christen erkennen wir, dass Jesus Christus etwas Besonderes ist, denn er stört, verärgert, verunsichert, wirft unsere Gottesbilder, Gottesvorstellungen über den Haufen. In allen Religionen lieben wir unsere Vorstellungen von Gott und den Göttern. Gott selbst wird nicht gerne gesehen unter den Menschen – darum wurde ja auch Jesus Christus hingerichtet. Am Kreuz erlitt er einen schändlichen Tod. Auf Innerweltliches, auf Ungöttliches können sich die Menschen schnell einigen. Aber wenn Gott von außen in die Welt einbricht, dann herrscht massive Ablehnung.
Jesus Christus. Wer ist er?
Nehmen wir einen Baum. Wir sehen ihn. Wir beschreiben ihn: Stamm, Blätter. Unsichtbar: die Wurzeln. Aber: Was passiert alles in diesem Baum! Welche Arbeit leisten die Wurzeln! Nahrungsmittel werden mit 1000en Liter Wasser durch den Stamm in das Blätterdach gepumpt! Was leistet jeder einzelne noch so kleine Zweig, was jedes einzelne Blatt! Was passiert in der Photosynthese. Darüber hinaus: Wem bietet der Baum alles Nahrung, Lebensraum. Kann man das alles mit wenigen Worten beschreiben? Natürlich nicht.
Können wir beschreiben, wer der Sohn Gottes ist?
Oder nehmen wir ein Haus. Was sehen wir? Wände, Fenster, Dach. Aber was ist alles darin? Möbel, Geschirr, Kleidung, Nahrung – alles, was Menschen benötigen. Und erst recht: die Bewohner, die Menschen. Wie will man das mit wenigen Wörtern beschreiben? Das geht nicht. Wie will man mit wenigen Wörtern beschreiben, wer dieser Mensch Jesus ist, wie will man beschreiben, wer dieser Gottessohn Jesus Christus ist?
Können wir beschreiben, wer der Sohn Gottes ist?
Menschen, die mit Jesus gelebt haben, versuchen es, die Jünger von Jesus, die ihn gekannt haben, versuchten es, ihn zu beschreiben. Wir finden die Antworten in der Bibel. Immer wieder neu wird umschrieben, mit neuen Wörtern wird versucht darzustellen, wer dieser Jesus Christus ist. Wir haben 2000 Jahre Kirchengeschichte hinter uns. Und damit viele, viele Versuche zu beschreiben, wer Jesus Christus ist. Woran liegt das, dass er nicht so einfach zu fassen ist? Wenn wir schon die Schöpfung, also den Baum, wenn wir schon Menschengeschaffenes wie das Haus kaum umfassend beschreiben können – wie will jeder Einzelne das beschreiben, was Jesus Christus im Leben für uns ist? Er hat Wunder getan, gewiss – aber er ist selbst das allergrößte Wunder.
In Jesus Christus wird die Liebe Gottes für uns sichtbar.
Er ist unsere Stärke, wenn wir schwach werden.
Er ist unser sicherer Anker, wenn wir auf dem Meer des Lebens ohne Richtung treiben.
Er ist das Leben selbst – unser Leben –, wenn alles vom Schatten des Todes bedroht scheint.
Er ist unsere Freiheit, wenn wir uns in den Fesseln unserer eigenen Begrenzungen verstricken.
Er vergibt uns unsere Schuld – die Schuld, die wir an anderen, an uns selbst und an Gott auf uns laden.
Er ist unsere Hoffnung, wenn kein Licht mehr am Ende des Tunnels zu sehen ist –
denn er geht mit uns, Schritt für Schritt.
Wie soll man das beschreiben, was man erfahren, erleben muss? Keiner kann beschreiben, was das Wunder selbst verursachte, wie es geschehen ist, dass dem Kranken am Teich Bethesda passierte. Darum klammern sich die Gegner an sowas Unwichtigem fest wie: Er hat seine Matte am Sabbat getragen, am Feiertag. Sie kapieren nicht. Sie sind Hirn-gelähmt für das Eigentliche. Wir Menschen klammern uns an Unwesentlichem fest. Wir fragen dies und das, kann Jesus Wunder tun? – und sehen nicht das Eigentliche.
In Jesus Christus sehen wir Gott auch an uns handeln. Aber das wollen und können wir nicht sehen, weil wir es nicht verstehen wollen bzw. nicht verstehen können.
Darum gilt:
Wer Gottes Wort hören will,
Muss bereit sein,
sich verändern zu lassen,
sich leiten zu lassen von Gottes Geist.
Gott, hilf mir, bereit zu sein.
Gott, hilf mir, mich Dir zu öffnen.
Gott, hilf mir zu bitten: Hilf mir.
*
Ein Teil der Predigt in liturgische Form transformiert:
A: In Jesus Christus leuchtet uns die Liebe Gottes auf.
B: Er ist unsere Stärke in der Schwachheit, unsere Zuflucht in der Not.
A: Er ist der feste Anker in den Stürmen des Lebens,
B: wenn die Wellen toben, Abgründe sich auftun, unser Herz verzweifelt, unsere Seele verzagt.
A: Er ist das Leben selbst – Licht im Schatten des Todes,
B: die Quelle unseres Lichts, das niemals erlischt, wenn wir ihn in unser Leben hereinlassen.
A: Er ist unsere Freiheit. Wenn wir uns in schlimmen Situationen gefesselt haben,
B: ist er der, der die Netze zerreißt, in denen wir uns verstrickt haben.
A: Er vergibt uns unsere Schuld – die Schuld, die wir an Menschen, an uns selbst und an Gott getan haben.
B: Er hebt uns auf, wenn wir fallen, und richtet uns auf, wenn unsere Seele ermüdet und ermattet.
A:
Er gibt uns nicht auf, darum gehen wir mit ihm in unsere Zukunft.
B:
Er gibt uns nicht auf, darum geben wir nicht auf und gehen mit ihm in unseren Alltag.
A: Er ist die Hoffnung, wenn kein Licht mehr am Ende des Tunnels scheint.
B: Denn er geht mit uns – durch die Dunkelheit und durch das Licht, bis wir heimkehren in den Frieden Gottes, hin zu ihm, der uns empfängt mit den Worten: Mein Kind, schön, dass du da bist.
Amen