Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht im 1 Buch Mose im 4. Kapitel:
Und Adam erkannte seine Frau Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des HERRN. Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann. Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist’s nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde als Dämon vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. Kain aber sprach zu dem HERRN: Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir’s gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet. Aber der HERR sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der HERR machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände. So ging Kain hinweg von dem Angesicht des HERRN und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.
Soweit der Predigttext.
Wir Menschen gehen ganz unterschiedlich an solche uralten Texte, deren Entstehungszeit wir nicht mehr erkennen können, heran. Die einen sagen: Was für ein interessanter Text! Die anderen sagen: Der Text ist ja kaum mehr zu verstehen. Adam und Eva haben nun zwei Söhne – wie können sich die Menschen dann vermehren? Oder sie fragen: Ist Gott nicht ungerecht, dass er einfach ohne Sinn und Verstand das Opfer von Abel anerkannt und das von Kain abgelehnt hat – ist Gott letztendlich nicht Schuld am Mord? Oder wir fragen: Wer sollte Kain ermorden, wenn es nur noch Adam und Eva auf der Welt gibt? So können wir natürlich auch an diese alten Texte herangehen: Voller Fragen, voller Skepsis, randvoll gefüllt mit Kritik, besserwisserisch und nörgelig.
Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen. Die Geschichte, wie ich heute Morgen aufgestanden bin. Ich wachte auf, öffnete mit Mühe meine Augenlider. Dann schaute ich auf den Wecker und sah die roten Zahlen. Ich merkte, dass ich auf dem Rücken lag, es war in der Nacht etwas kühl gewesen. Nun deckte ich die Bettdecke auf, die Bettdecke war leicht, dem Sommer angemessen, hatte eine etwas beige Farbe. Zuerst setzte ich meinen linken Fuß auf den Boden, der mit einem Teppichläufer belegt ist, dann nahm ich meinen rechten Fuß…
Nun werden Sie denken: Junge, komm aufs Wesentliche! Was soll das Gelaber! Genau das ist es, was diese Geschichten ausmacht: Sie erzählen nur das Wesentlichste. Sie sprechen nicht viel drum herum, sie sagen nicht dies und das, was für das Eigentliche überhaupt nicht wichtig ist. Sie konzentrieren sich auf das, was sie erzählerisch darstellen wollen:
Und was ist an dieser Geschichte wichtig?
1. Wir haben es mit dem ersten Mord der Weltgeschichte zu tun und der Mord geschah aus Neid, aus Eifersucht.
2. Wenn man ein gutes, freies Gewissen hat, wenn man fromm ist, es im Sinne Gottes recht macht, dann verfinstert das Herz nicht.
3. Auch der Mörder wird von Gott mit einem Zeichen geschützt, damit er nicht ermordet wird.
4. Du bist für deinen Bruder mitverantwortlich.
Ihr merkt, was für große Themen dieser Text mit wenigen Worten umreißt. Und das haben wir in vielen Texten, die wir als Mythos bezeichnen: Menschen versuchen ihre Welt, das, was sie erleben, mit Geschichten zu erklären, in Geschichten zu klären. Warum gibt es Mord? Aus Neid, aus Eifersucht. Neid und Eifersucht – das heißt: Macht – sind die treibenden Kräfte hinter Mord. Die Geschichten wollen auch die Erfahrungen, die Menschen mit Gott im Leben gemacht haben, weitergeben und die Hörer im Sinne Gottes belehren. Hiermit wollen sie zum Beispiel sagen: Wenn ein Mensch zum Mörder geworden ist, vertreibe ihn aus deiner Umgebung, aber töte ihn nicht – denn damals gab es ja insgesamt wenig Menschen auf der Erde und so etwas wie Gefängnisse kannte man noch nicht.
Weil dieser Text so viele schwergewichtige Themen hat, möchte ich die Predigt auf ein Thema konzentrieren und diesen Textabschnitt lese ich noch einmal vor:
Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist’s nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde als Dämon vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.
Wie wunderbar wird hier der Mensch gezeichnet, mit welch einem psychologischen Feingefühl! Der Blick wird finster, das Herz wird dunkel, Menschen blicken nicht mehr offen und hell auf, sie blicken anderen nicht mehr frei und fröhlich ins Gesicht. Wenn der Blick finster wird, das Herz dunkel, dann ist der Mensch gefährdet, gefährdet für andere Mächte, die ihn in die Fänge bekommen wollen. Diese Mächte sorgen für böse Worte, sorgen für geballte Fäuste, sorgen für Zusammenrottungen, Selbstzerstörung, Gewalt. Die Sünde lauert vor der Tür, wie ein Löwe, wie ein tollwütiger Hund, wie ein schlimmer Mensch. Man muss diesen bösartigen Tieren und Menschen nicht die Tür öffnen, wir Menschen sind dazu geschaffen worden, diese Mächte zu beherrschen, sie draußen zu lassen – doch wehe, wenn wir sie in uns hineinkommen lassen. Sie kommen ja nicht als Schoßhündchen ins Herz, in Gedanken, in den Blick, sodass wir sie beherrschen könnten, nein, wir sind es, die ihnen unterworfen sind, die wir von ihnen beherrscht werden.
Wir kennen das alle. Wie es immer wieder vor uns lauert. Wenn ein Mensch oder Ereignisse uns seelisch, körperlich verletzt haben – in uns herrscht Aufruhr; ja, selbst wenn ein Mensch, mit dem wir es zu tun haben, den falschen Ton trifft – in uns gärt es. Die Gedanken werden gewälzt, wir steigern uns in einen Zorn hinein – und wir können nur sagen: Gut, dass der jeweilige Mensch dann nicht in unserer Nähe ist.
Und dieses Gefühl betrifft ja nicht nur uns Einzelmenschen, sondern Menschengruppen. Auch mit den besten Zielen fallen sie übereinander her. Wenn die Bösen ausgerottet sind, dann wird die Welt gut, sagt und denkt man dann. Um die Bösen auszurotten, muss man ein Hassgefühl entwickeln, damit man sie guten Gewissens bekämpfen kann. Von Martin Luther King, dem großen Kämpfer gegen die Ungerechtigkeit der Rassentrennung wird der Satz überliefert:
Lasst euch von niemandem so tief hinabziehen, dass ihr ihn hasst.
Warum sollen wir denn nicht einen anderen Menschen hassen? Dass darum nicht, weil der Hass, der Zorn, der Neid, die Eifersucht uns selbst zu beherrschen beginnen. Sie sind es, die unsere Herzen zerfressen, unsere Gedanken bestimmen, sie sind es, die uns im Grunde kaputt machen – wir sind deren erstes Opfer. Auch dann, wenn wir für eine gute Sache kämpfen – Hass, Zorn, Neid, Eifersucht darf uns nicht beherrschen, weil dann die Sache nie gut werden kann. Neid, Eifersucht, Hass, Zorn konzentrieren sich bekanntlich ja auch nicht auf den Grund des Zornes, sondern bestimmen das gesamte Leben. Es wird nörgelig, undankbar, pessimistisch, das ganze Leben ist irgendwie in eine dunkle Farbe getaucht – das heißt: Wir selbst leiden mehr unter dem Bösen, das uns bestimmt, als die anderen, denen unsere bösen Gedanken gelten. Wir selbst sind angefressen, madig, schlimm.
Nun mögen wir einwenden: Aber ich kann ja nichts gegen böse Gedanken, gegen dunkle Gefühlserregungen tun! Das stimmt. Wir können nichts dagegen tun, dass unsere Gedanken ärgerlich werden, wenn uns jemand negativ kommt, dass wir zornig, aggressiv und stinkig werden. Martin Luther, also unser Wittenberger Martin Luther, der hat gesagt:
Man kann nicht verhindern, dass die Vögel um den Kopf fliegen, man kann aber verhindern, dass sie in den Haaren nisten.
Man kann verhindern, dass diese negativen Erfahrungen unsere Herzen verfinstern, die Gedanken dunkel machen. Man kann verhindern, dass der Neid, die Eifersucht, der Zorn, beginnen uns zu beherrschen und uns zu ihren Sklaven machen. Im Grunde unseres Herzens wollen wir doch frohe, dankbare Menschen werden, Menschen, die anderen helfen, ihr Leben gut zu bewältigen, die ohne Neid, ohne Geiz, ohne Eifersucht offenherzig auf den anderen zugehen. Jeder, der Jesus Christus nachfolgt, hat ein Leben im Blick, in dem die Liebe zu dem anderen Menschen immer stärker werden möchte. Sie will den anderen Menschen stärken, ihn stützen, ihn umgeben mit Schutz. Sie will anderen zum Segen werden – und dazu gehört es eben, dass man den bösen Gedanken keinen Raum lässt. Dass man ihnen, wenn sie kommen, sagt: Gut, dass ihr gekommen seid – nun aber könnt ihr wieder gehen, ich lege euch in Gottes Hand, er kann sie in Liebeskraft verwandeln. Wir brauchen Gott, um uns vor bösen Gedanken zu schützen. Denn manchmal sind solche Gedanken für uns Menschen nicht so leicht zu beherrschen. Gott hat zwar zu Kain gesagt:
die Sünde lauert vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.
Aber wir wissen selbst, dass sie manchmal stärker sind als wir – und darum wird der Satz eingeleitet:
Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben.
Allein mit Gottes Hilfe können wir diese machtvollen negativen und dummen Gedanken überwinden, wenn wir sie fromm, das heißt: wenn wir sie Gott in die Hände legen und sie aber auch dort liegen lassen, damit Gott sie in uns in Liebeskräfte verwandeln kann.
Und so hat unser heutiger uralter Predigttext, an dem wir besserwisserisch, nörgelig und kritisch herangehen können, uns auch Wesentliches zu sagen – er ist eben Gottes Wort für uns.