Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht im Johannesevangelium im 15. Kapitel, in den Versen 9-15 – ich lese ihn gleich so vor, dass er wie ein Gespräch mit Jesus wirkt.
Wir finden die Worte des Predigttextes in den Abschiedsreden Jesu, wie sie das Johannesevangelium wiedergibt. Jesus wird in wenigen Stunden hingerichtet werden und in diesen sagt er seinen Jüngern noch einmal, was ihm ganz besonders am Herzen liegt. Das sagt Jesus nicht nur seinen zwölf Jüngern. Das Johannesevangelium zeigt: Jesus sagt diese Worte seinen Jüngern zu allen Zeiten. Wir sitzen da und lauschen mit den zwölf Jüngern den Worten Jesu. Jesus sagt:
Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch.
Bleibt in meiner Liebe.
Wir fragen:
Wie bleiben wir denn in deiner Liebe?
Jesus antwortet:
Wenn ihr meine Gebote haltet, bleibt ihr in meiner Liebe.
Tut das so, wie ich meines Vaters Gebote halte und bleibe in seiner Liebe.
Wir fragen:
Warum sagst du uns das?
Jesus antwortet:
Ich sage euch das, damit meine Freude in euch bleibe.
Und eure Freude vollkommen werde.
Wir fragen:
Und was ist dein Gebot?
Jesus antwortet:
Das ist mein Gebot, dass ihr untereinander liebt, wie ich euch liebe.
Wir fragen:
Liebst du uns denn?
Jesus antwortet:
Niemand hat größere Liebe als der, der sein Leben für seine Freunde hingibt.
Wir fragen:
Wer sind denn deine Freunde?
Jesus sagt:
Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete.
Ich nenne euch nicht Knechte, denn ein Knecht weiß nicht, was sein Herr tut.
Euch aber habe ich gesagt, dass ihr Freunde seid,
denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch weitergegeben.
Soweit der Predigttext.
Das sind Jesu letzte Worte an seine Jünger. Sie kommen von Herzen und gehen ins Herz. Es sind Worte, die an die Menschen gerichtet sind, die ihm besonders nahestehen. Die er liebt, die er sich auserwählt hat. Er liebt sie und hat sie auserwählt, weil er mit ihnen Großes vorhat.
Überlegen Sie bitte einmal eine Minute lang, was die Grundlage Ihres Lebens ist, die Grundmelodie, das, was das gesamte Leben in seinen Höhen und Tiefen bestimmt.
…
Jesus spricht die soeben vorgelesenen Worte, bevor er hingerichtet wurde. Bevor seine Jünger durch eine dunkle, schwere Zeit gehen müssen.
Wir gehen in die Zeit, in der wir der Toten gedenken, wir leben in der Zeit, in der das Sterben überall in den Bäumen und Blumen seine Spuren hinterlässt. Es ist November: Allerseelen, Allerheiligen, Totensonntag, Ewigkeitssonntag – und wie wir die Tage alle nennen. Es ist häufig ein trüber Monat, es gibt nur wenig Sonnentage und Nebel legt sich bleiern über alles drüber. Menschen werden aggressiver, lauter oder ziehen sich verletzt in sich zurück. Würden wir in dieser Zeit von Freude sprechen? Wären das auch unsere letzten Worte, wenn wir wüssten, wir gehen einem gewaltsamen Tod entgegen, oder überhaupt dem Tod?
Jesus spricht von Freude. Wir merken die leichte Schwermut hinter den Worten, die ich soeben vorgelesen habe – aber Jesus spricht von Freude, weil sein ganzes Leben von der Melodie der Freude über Gott getragen worden ist.
Freude finden wir bei einem Menschen, der die Menschen geliebt hat, wie sonst keiner. Wie kann das sein, dass ein Mensch, der Menschen liebt und all das Elend ansieht, das sie verschuldet und unverschuldet trifft, von Freude spricht? Wie kann sein Leben von der Melodie der Freude durchzogen sein?
Jesus liebt die Menschen – und er sieht sie ihre Krankheiten leiden. Jesus liebt die Menschen – und er sieht sie unter den vielen Ungerechtigkeiten leiden. Gegen die Krankheit versucht er anzugehen, indem er Menschen heilt, er wurde der bekannteste aller Ärzte, aller Heiler. Er heilte nicht nach erlernten Methoden – er konnte heilen, weil er sich in Liebe mit den Menschen verbunden hat. Selbst gegen den Tod nimmt er seinen Kampf auf – aus Liebe zu uns Menschen. Gegen die Ungerechtigkeit streitet er mit Worten, mit Worten, die bis heute den Menschen aufrichten und Ungerechte, Lieblose, Menschen, die nur an sich selbst denken, ins Unrecht stellen. Er liebt den Menschen so sehr, dass er sein Leben hingibt, weil er im Menschen ein Grundleiden: die Schuld. Kaum etwas kann den Menschen so sehr quälen wie die Schuld, die er auf sich geladen hat. Kaum etwas kann den Menschen so sehr an andere Fesseln, wie die Schuld, die andere an ihm begangen haben. Wenn andere mir etwas angetan haben – und ich noch lange, lange daran knabbere – dann ist mein Sinn nicht mehr frei, er ist vom anderen, vom Schuldigen, gefesselt worden. All diese großen Leiden des Menschen führten Jesus dazu, dass er sein Leben hingegeben hat – sein Leben für seine Freunde. Doch das nicht aus Missmut – sondern aus Liebe, getragen von der Grundmelodie: Freude.
Was ist das für eine Freude?
Ich möchte Ihnen sechs Töne der Grundmelodie Freude nennen:
Wir hören den ersten Ton
Die Freude, die Jesus bestimmt, ist Gott. Er nennt Gott „Vater“. Nicht „höchstes Wesen“, nicht „Gott über alles“, nicht „Herr“ und „König“, sondern: „Vater“. Wer Gott mit „Vater“ anredet, steht ihm besonders nah.
Und das hat er uns weitergegeben: Wir dürfen Gott als „Vater“ anreden, weil wir durch Jesus Christus Gott besonders nahe stehen. Es ist ein Vorrecht derer, die zu Jesus Christus gehören, dass sie sich Gott nicht unterwerfen müssen wie Sklaven. Er sieht uns als seine Freunde an, die ihn mit „Vater“ anreden dürfen. Weil Gott so freundlich ist, weil er uns so nah kommen lässt, verstehen wir ihn nicht, wenn es in unserem Leben dunkel wird. Keiner lebte so aus Gott wie Jesus Christus, doch er musste den gewaltsamen Tod erleiden. Dennoch spricht er von Freude. Aber das schließt nicht aus, dass er in Gethsemane auch klagte. Wer Gott nahe steht darf ihm auch klagen: „Ich verstehe deine Wege nicht!“ Doch die Grundmelodie der Freude lebt tief im Innern weiter und spricht: „Doch du weißt den Weg für mich.“
Wir hören den zweiten Ton
Die Freude, die Jesus bestimmt, ist, das zu tun, was Gott will. Wir verbinden das Wörtchen Gebot immer gleich mit Verbot, mit Krampf. Das würde Jesus ablehnen. Das Gebot Gottes zu tun, ist lebensnotwendig. Für Menschen, die aus Gott leben, ist es so einfach wie das Atmen. Wer aus Gott heraus lebt, wie Jesus es getan hat, der tut das, was Gott will – und überlegt nicht lange, ob nun etwas verboten ist oder nicht. Und das gibt uns Jesus weiter: Wer Gott „Vater“ nennt, wer Gott nahe steht, der tut das, was Gott möchte.
Stimmt das? Natürlich nicht ganz. Auch das ist ein Vorrecht derer, die zu Gott gehören: Wir leben davon, dass wir wissen dürfen: Gott vergibt uns unsere Schuld. Auch daraus lebt die Melodie unserer Freude.
Wir hören den dritten Ton:
Die Freude, die Jesus bestimmt, ist die Liebe. Nicht die Liebesschnulze, das süßliche Gesäusel, sondern die Liebe, Gott, schlechthin. Die Liebe, die die Welt erschaffen hat, die Liebe, die sie erhält und bestimmt. Es ist die Liebe, die darin tätig wird, dass sie sich ein Volk erwählt hat und aus diesem Volk Jesus Christus kommen ließ, damit Menschen den Weg zu Gott finden. Es ist die Liebe, die den Menschen nicht allein lässt, sondern ihm Wegweisung gibt. Wir können immer wieder beobachten: Unter Menschen gibt es Unterwerfung oder Hauen und Stechen. Das möchte Gott nicht. Er will, dass Menschen in Liebe miteinander umgehen. Und die Menschen, die er sich erwählt hat, tun das auch.
Auch hier wissen wir: Sie tun das auch, wenn es gut geht. Nirgends gibt es so hartes Ringen wie unter Geschwistern. Es ist ein Geschrei und Gebalge, dass sich der Himmel erbarmen möge. Was sagt Jesus Christus streng und traurig dazu? Liebt einander, vergebt einander. Ihr könnt euch auch gemeinsam aus die Familie Gottes hinausprügeln. Vielleicht fühlt ihr euch überlegen bei all der Prügelei. Gottes Wille ist es nicht, wenn ihr euch verletzt und in die Einsamkeit hinausprügelt. Kehrt um! Beide! Gott will euren Neuanfang.
Wir hören den vierten Ton
Der Grund der Freude, die Jesus bestimmt, sind auch seine Jünger, seine Freunde. Sie sind Teil einer besonderen Gemeinschaft, einer Familie, die nicht durch zufällige Geburten zusammengeführt worden sind. Gott ist der Vater der Familie, Gott holt Menschen zu dieser Familie. Gott möchte, dass seine Familie eine besondere Familie ist. Eine Familie, die so lebt, wie er es haben möchte. Und wie lebt sie so, wie Gott es haben möchte? Indem sie einander lieben. Immer neue Menschen führt Gott herzu – und sie alle leben in großer Liebe zueinander.
Es gibt ein Bild von Barlach: In der Versuchung Jesu werden diesem alle Kreuze gezeigt, die seine Jünger in seinem Namen errichten. Jesus kennt seine Jünger. Er gibt uns nicht auf. Leben wir aus der Freude Jesu und nicht daraus, andere – wie auch immer: mit bösen Worten, mit Missachtung, mit Geiz, aus Selbstsucht – hinzurichten. Bleibt in meiner Liebe, damit meine Freude in euch bleibt.
Wir hören den fünften Ton
Die Freude, die Jesus bestimmt, sind seine Jünger, die bei ihm bleiben, trotz Gefahren, trotz Spott: Gott zwingt die Menschen nicht in diese Familie. Das hören wir aus dem Wörtchen „Wenn“: Wenn ihr meine Gebote haltet, dann bleibt ihr in meiner Liebe. Es ist also keine stille Freude, die nur leise vor sich hinglimmt. Es handelt sich um eine Freude, die auffällt, die nach Außen nicht zu verbergen ist. Wer sich in dunkler Zeit über das Licht Gottes im Herzen freut, muss sich nicht wundern, wenn Dunkelmänner die Freude klauen möchten. Wer von der Grundmelodie der Freude über Gott getragen wird, der muss sich nicht wundern, wenn viele Misstöne von allen Seiten in sein Leben hineingeschrillt werden. Es ist dann nicht leicht, Gottes Weg zu gehen. Manche gehen aus Angst vor dem Widerstand der Menschen ins Finstere, manche singen nicht mehr im Herzen, weil sie sich anpassen. Lassen wir Gott selbst unsere Stärke unser Lied sein. Bitten wir ihn darum. Denn der Wind, der seinen Kindern auch in diesem Land entgegenweht, wird schärfer.
Wir hören den sechsten Ton
Jesus hat auch schon die kommenden Generationen im Blick – also uns. Und diese Freude gibt er an uns weiter. Und wenn wir anderen Menschen nicht die Liebe verweigern, ihnen helfen wo wir können, ihnen vergeben, sie annehmen – aber auch ermahnen – all das in Jesu Namen, da leben wir auch in dieser Grundmelodie der Freude. Nicht nur dann, wenn es uns gut geht, sondern auch dann, wenn der Alltag seine dunklen Seiten zeigt.
Das sage ich euch, damit meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde.
Amen.