Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht im Brief des Apostels Paulus an die Philipper im ersten Kapitel. Paulus schreibt aus dem Gefängnis:
Ich lasse euch wissen, wie es um mich steht. Dass ich meine Fesseln für Christus trage, ist im ganzen Gerichtsgebäude und bei allen offenbar geworden, und die meisten Brüder im Herrn haben durch meine Gefangenschaft Zuversicht gewonnen und sind umso kühner geworden, das Wort von Christus zu predigen ohne Scheu. Einige zwar predigen Christus aus Neid und Streitsucht, einige aber auch aus guter Absicht: diese aus Liebe, denn sie wissen, dass ich zur Verteidigung des Evangeliums hier im Gefängnis liege; jene verkündigen Christus aus Eigennutz und nicht lauter, denn sie möchten mir Trübsal bereiten in meiner Gefangenschaft. Was tut´s aber? Wenn nur Christus verkündigt wird auf jede Weise, es geschehe zum Vorwand oder in Wahrheit, so freue ich mich darüber. Aber ich werde mich auch weiterhin freuen; denn ich weiß, dass mir dieses zum Heil ausgehen wird durch euer Gebet und durch den beistand des Geistes Jesu Christi, wie ich denn sehnlich warte und hoffe, dass ich in keinem Stück zuschanden werde, sondern frei und offen, wie allezeit so auch jetzt, Christus verherrlicht werde an meinem Leibe, es sei durch Leben oder durch Tod. Denn Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn.
Soweit der Predigttext.
Ein Mann war sehr viel gereist. Er hatte viele Bücher darüber geschrieben. Über Länder und Städte, über Kulturen und Landschaften. Leser entdeckten durch seine Bücher eine Welt, die sie selbst nie bereisen konnten. Seinen Reisebeschreibungen folgten sie mit gespannter Stille, erlebten mit, wie er die Länder erlebte. Nach seinem Vortrag fragte einer: Und wo sind Sie am liebsten? Lange schwieg er. Die Menschen dachten: in Alaska? In Australien? Im Urwald? Auf dem Meer? Endlich antwortete er: Am liebsten bin ich unterwegs. Warum ist er am liebsten unterwegs? Flüchtet er vor sich selbst? Flüchtet er vor anderem? Warum diese rastlosen Reisen? Eine Sucht? Warum hetzte er immer weiter, weiter, weiter? (Nach I. Bährend)
Viele von uns sind ständig unterwegs – auch wenn sie nicht verreisen. Sie werden innerlich gehetzt. Von einer Sache zur anderen. Sie tun und tun, großes wie kleines, ununterbrochen laufen und laufen, denken und denken sie. Auch wenn uns keine Aufgaben und Pflichten hetzen: Viele lassen sich von den Medien hetzen: Informationen aufsaugen und aufsaugen, von einer Fernsehsendung zur nächsten, von einer Frauenzeitschrift zur Nächsten, man mag nicht zur Ruhe kommen, man kann nicht zur Ruhe kommen – und hat von all dem doch nichts. Paulus war auch ein Mann, der reiste und reiste und reiste, der an alles Mögliche dachte, an die Gemeinden in Korinth in Rom, in Ephesus, in Thessalonich und Philippi. Sein Reisen und sein vieles Tun waren weder eine Sucht noch eine Flucht: Er hatte seinen Auftrag: Jesus Christus zu verkündigen – und er hatte seinen Ankerpunkt, seinen Ruhepunkt in Jesus Christus.
Eine Frau schrieb Bücher um Bücher. Sie sah sich als Mund Jesu Christi. Menschen waren berührt, wurden zum Nachdenken angeregt, wurden durch ihren Glauben herausgefordert. Doch ihr neustes Buch wurde angefeindet, wurde verrissen. Da fragte sie sich: Warum schreibe ich eigentlich? Da will man den Menschen etwas Gutes tun – und dann so was? Ich habe keine Lust mehr. Ich geh in meinen Garten, Pflege die Blumen und das Gemüse, die Bäume und die Kräuter. Nein, das tue ich mir nicht noch mal an. Und auf einmal wurde ihr deutlich: Ich wollte der Mund Jesu sein – und nun merke ich an meiner Schwermut, dass ich Bücher schrieb, um selbst Ansehen zu gewinnen. Wir Menschen fallen in Depressionen, wenn unser Lebensziel angegriffen wird. Und was ist unser Lebensziel? Meistens wissen wir es nicht deutlich, aber es steckt tief in uns drin. Und wenn es angegriffen wird, wir in Depressionen verfallen, dann wissen wir, was unser mehr oder weniger heimliches Lebensziel war. Ist es die Gesundheit und Leistungsfähigkeit? Ist es die Schönheit, die Jugend? Ist es mein Hobby? Wenn ich gestört werde, meine Lieblingssendung zu sehen oder mein Lieblings-PC-Spiel zu spielen – und ich dann ärgerlich, sauer, aggressiv oder depressiv reagiere – dann zeigt sich darin mein tiefstes Lebensziel. Oder will ich einfach nur Spaß haben, in den Tag hinein leben? Dann werde ich ärgerlich, sobald eine Pflicht ruft oder eine Pflicht nicht schnell von der Hand geht. Und was war das Lebensziel des Apostels Paulus? Jesus Christus. Jesus Christus allein. Und darum kann er sagen: Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn.
Paulus und Jesus. Wie kam es dazu, dass Jesus sein Ruhe- und Ankerplatz wurde. Wie kam es dazu, dass er in Todesgefahr sagen konnte: Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn?
Paulus verfolgte Christen. Da hieß er noch Saulus. Er konnte Christen und auch Christus nicht leiden. Sie störten seinen Glauben. Christus brachte Unruhe in sein Leben und in das Leben seiner Gesinnungsgenossen. Dieser Jesus muss mit seinen Christen ausgelöscht werden. So dachte er und verhaftete sie, entführte sie, bedrohte und folterte sie möglicherweise auch. Er hatte Erfolg. Und darum wurde er nach Damaskus geschickt, um auch dort den Christen nachzustellen. Doch auf dem Weg nach Damaskus änderte sich sein Leben von Grund auf. Ein helles, grelles Licht kam über ihn, er fiel zu Boden und hörte eine Stimme: „Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ Er fragte: „Herr, wer bist du?“ Dann hörte er: „Ich bin Jesus, den du verfolgst.“ Paulus war erblindet – und in dieser Zeit hatte er Zeit nachzudenken. Und ein ganz anderer Paulus kam heraus. Es war wie eine Verpuppung der Raupe: Sein altes Leben, in dem er Christen verfolgte – dann die Verpuppung in seiner Blindheit – dann sein neues Leben als Christ. Ab diesem Zeitpunkt zählte für ihn nur eines: Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn.
Sein Leben war verankert in Jesus Christus. Es kreiste nur um ihn. Und darum konnte er so gelassen im Gefängnis leben, darum konnte er so gelassen Anfeindungen ertragen, darum konnte er reisen, denken und denken – doch gleichzeitig ungehetzt sein Leben leben. Jesus Christus war sein Lebensziel, darum konnte er alle Störungen leicht ertragen, weil er wusste: Ich bin in der Hand meines Herrn Jesus Christus, er ist mein Leben.
Als Jesus Christus in sein Leben trat, kam er an einen Wendepunkt. Er hätte weitermachen können wie bisher trotz dieses massiven Eingreifens Jesu. Er hätte einfach weitermachen können. Und was wäre dann aus seinem Leben geworden? Auch uns redet Jesus Christus an. Es kann auch in unserem Leben zu Wendepunkten kommen und es ist zu Wendepunkten gekommen. Wie redet Jesus Christus uns an? Wir wissen das vielfach. Nicht unbedingt so spektakulär wie den Apostel, aber auch wir haben Zeiten der Verpuppung. Es mag wie bei Paulus die Krankheit sein, aber meistens sind diese Zeiten doch einfach nur Zeiten der Unzufriedenheit, Zeiten, in denen alles misslingt, Zeiten, in denen wir erkennen: Das kann es doch nicht gewesen sein. In diesen Zeiten können wir zweierlei machen: Weitermachen wie bisher – oder weitermachen mit Jesus Christus.
Wie kann so ein Wendepunkt aussehen? Dem Paulus wurde von Jesus Christus eine Zeit der Verpuppung verordnet: er wurde blind, in ihm vollzog sich eine schmerzhafte Verwandlung – aber er war eingehüllt in die Liebe Jesu Christi. Unsere Zeiten der Verpuppung können anders aussehen: Wir suchen uns täglich einen Platz, setzen uns hin und richten die Gedanken ganz auf Jesus Christus aus.
Lied: 396,1 (Jesu, meine Freude)
Und wenn wir sie ganz auf ihn gerichtet haben, durchleuchten wir unser Leben ganz mit ihm: Was gefällt mir nicht – gefällt es Jesus auch nicht? Was gefällt mir – gefällt es Jesus auch? Und alles ohne Hektik, ohne Aufruhr – sondern in der Hand des Herrn Jesus Christus. Das kann schmerzhaft sein – aber auch wir werden, wie Paulus in seiner Verpuppungszeit umhüllt sein von der Liebe Jesu Christi. Und dann schließen wir wieder ein Gebet an, in dem wir all das, was uns negativ und positiv aufgefallen ist, in seine Hand legen.
Lied: 390,2 (Erneure mich o ewigs Licht)
Und solche Zeiten der Verpuppung sind damit nicht beendet. Sie können lange dauern, uns mag es scheinen: unendlich lang dauern. Ungeduldig können wir versuchen, die Verpuppungszeit abzukürzen. Doch dann stören wir in uns das keimende Leben mit Jesus Christus. Wir überfordern uns selbst. Irgendwann – die Zeit ist bei jedem anders – können wir dann voller Freude, eins mit Jesus Christus sein und sagen: Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn.
Und wie sieht es nach dem Wendepunkt aus? Was bedeutet es, wenn Jesus Christus mein Leben ist? Es muss nicht ein Leben sein, in dem ich nicht mehr in den alten Gefängnissen meines Lebens lebe – aber in ihnen lebe ich mit Jesus Christus. Er lässt neues Licht hinein und befreit mich in allen Zwängen. Es muss nicht ein Leben sein, in dem ich wie Paulus eine neue Aufgabe bekomme – aber meine Aufgaben tue ich mit Jesus Christus. Es muss nicht ein Leben in Gesundheit, in Schönheit, in Anerkennung sein – sondern allein ein Leben in Jesus Christus. All das, was mir wichtig gewesen ist, wird nicht bedeutungslos – aber es wird umhüllt von dem Leben in Jesus Christus. Ich habe noch immer meine Macken jeglicher Art – aber das muss nicht mehr stören, das bin ich, das ist mein Leben als einmaliger Mensch. Jesus Christus will mich verändern und mich gebrauchen. Glaube ist immer auch öffentlich, weil er Konsequenzen hat fürs ganze Leben. Alles Schwere ist nicht weg – aber Jesus Christus hilft tragen. Alles Schwere ist nicht weg, im Gegenteil, es kann – wie bei Paulus erst unsäglich schwer werden – aber das Leben wird nicht allein gelebt. Es zählt dann nur noch eins: Christus ist mein Leben. Das Zusammenleben mit den Mitmenschen, mit den Liebsten kann schwer sein – doch ich lege auch dieses Schwere in die Hände Jesu, lege meine Liebsten in seine Hände. Ich kann abgeben, ich bin frei, weil Jesus Christus sie und mich trägt.
Gebe Gott, dass wir unsere Wendepunkte dazu verwenden, ihm näher zu kommen, dass wir ihn in der Zeit unserer Verpuppung an uns arbeiten lassen, dass auch wir sagen können: Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn.