Gedanken eines Esels während der Flucht
Ich bin ein Esel.
Ich habe einen großen Kopf.
Ich kann viel nachdenken.
Finde aber keine Lösungen.
Während ich das Jesuskind und seine Mutter Maria getragen habe,
auf der Flucht von Bethlehem nach Ägypten,
dachte ich viel nach und irgendwie kam ich darauf:
Nicht die Lösungen von schweren Gedanken sind wichtig.
Ich wurde von Gottes Liebe, Gottes Kraft getragen.
Das weiß ich: Das ist wichtig.
Allein das.
Ich nehme Euch ein wenig mit, mit meinen Gedanken.
Gottes Zeit und Ort
Das Jesuskind ist doch eigentlich am falschen Ort zur falschen Zeit geboren worden. Da war das mit Herodes. Warum musste gerade ein grausamer Herrscher herrschen? Da war das mit der Volkszählung. Warum musste das Kind gerade geboren werden, als eine Volkszählung die Maria und den Josef auf die Straße getrieben hatte? Warum mussten die Herbergen alle voll sein? Gott, warum hast Du Jesus gerade zu dieser Zeit, an diesem Ort zur Welt kommen lassen? Warum bist Du gerade zu dieser Zeit zur Welt gekommen? Warum gerade bei diesen Eltern, einer armen unverheirateten jungen Frau, einem armen verwirrten jungen Mann?
Ich hörte, wie einer der Weisen zu einem anderen Weisen sagte: Das ist ja alles, wie die Propheten Gottes gesagt haben! Aber warum? Ich zerbreche mir meinen großen Eselskopf auf dem Weg, auf der Flucht nach Ägypten. Irgendwie bestimmt Gott, nicht mein Nachdenken, wann die richtige Zeit ist, der richtige Ort, wer die richtigen Menschen sind.
Dann bekam ich einen Geistesblitz, den ich aber nicht verstehe: Was ist, wenn Gott dem Herodes ein Angebot gemacht hat? Herodes: Du kannst dich ändern. Du kannst ein menschlicher Mensch werden! Was ist, wenn Gott ein Angebot an die Menschen dieser schlimmen Zeit gemacht hat: Ihr könnt euch ändern, ihr könnt Menschen des Friedens werden, wie die Engel gesungen haben!
Gott hat mir Esel ein Angebot gemacht: Ich darf ihm dienen, indem ich sein Kind, ihn selbst trage. So macht Gott zu allen Zeiten den Menschen ein Angebot: Du kannst dich ändern. Du kannst Gottes Willen tun. Du kannst zu Gott kommen. Auch und gerade in schlimmen Zeiten. Oh, Gott, werde ich Esel dem, was Du mir anbietest, gerecht?
Menschen fügen anderen Leiden zu
Ich habe gehört, dass der König Herodes Kinder hat umbringen lassen. Ich weiß nicht, ob ich das glauben soll. Herodes ist ein grausamer Herrscher, zuzutrauen ist es ihm. Aber warum gibt es so schlimme Menschen, die anderen Leiden zufügen?
Und warum müssen sich Maria und Josef mit ihrem gerade eben geborenen Säugling auf diesen langen und gefährlichen Weg machen? Warum lässt Gott das zu? Erst die Engel, dann die Hirten, dann die Weisen – es war alles wunderbar! – und nun: So schnell mussten sie ihre paar Habseligkeiten zusammenraffen und heimlich losziehen? Mich haben sie geweckt – ich konnte mich nicht einmal verabschieden – mitten in der Nacht!
Warum schützt Gott seinen Sohn Jesus nicht, warum schützt er sich selbst nicht, er könnte es doch tun? Er hätte Herodes in den Arm fallen können, sterben lassen, lähmen – aber nein: Gott lässt den bösen Herodes freie Hand? Herodes weiß ganz genau, dass man andere nicht töten darf. Gott hat ihm doch die 10 Gebote gegeben – und dennoch ist er so grausam und hört nicht auf Gott. Nicht Gott ist verantwortlich für das böse Tun von Menschen. Der Mensch selbst ist verantwortlich, wenn er Böses tut.
Schon immer leben die Starken auf Kosten der Schwachen. Ich Esel kann viele Klagelieder darüber singen mit meiner schrecklichen Stimme. Starke, Mächtige spielen sich auf als Gott, als Herrscher über Leben und Tod. Selbst uns Eseln gegenüber: Was werden wir geschlagen, misshandelt, traktiert! Dadurch lassen sie nicht allein Menschen und Tiere leiden, sie verhöhnen, sie verspotten auch Gott. Sie bekämpfen Gott, indem sie sich gegen Gottes Gebote verhalten, indem sie sogar Gott selbst töten wollen. Menschen werden geopfert wegen Weltanschauungen, Ideologien, wegen Träume von einer besseren Zukunft. Ich, Mensch, bin der Größte, denken sie. Meine Gruppe ist die Größte, schreien sie mit schlimmerer Stimme als ich sie habe. Wir fallen über alle her, die schwächer, ärmer, unschuldiger sind. Unschuldig wie die ermordeten Kinder. Sie zwingen andere zur Flucht, sie zwingen sie unter Stiefel der Grausamkeit, sie würgen sie mit eiserner Faust. Sie vertreiben Gott aus ihren Herzen, aus der Gemeinschaft der Menschen. Gott ist ein Misshandelter, Gott ist ein Bekämpfter, ein Ausgestoßener, Gott ist ein Erniedrigter, den sie nicht ernst nehmen. Gott, du bist ja wie wir, wie gequälter Mensch, wie geschlagenes Tier!
Gott, ich bin nur ein Esel mit einem großen Kopf – aber ich verstehe das alles nicht. Ich darf dein Kind, Gott, dich selbst, tragen. Im Herzen darf ich dich tragen. In meinen Gedanken darf ich dich tragen. In all dem Leiden darf ich ahnen, ja, darf ich wissen, du hast Gutes mit den Menschen vor, Gutes mit deiner Schöpfung. Du bist mir eine Last, aber mit dir in mir und auf meinen Rücken fällt alles leichter. Es ist wie ein Wunder, dass du mich für diese Anstrengung ausgewählt hast. Mit dir bin ich nicht mehr darüber traurig, dass viele Menschen so bösartig sind. Wir gehen alle mit diesem Kindchen, diesem Jesus, dem kleinen Retter auf eine neue Zukunft zu. Wir haben eine Hoffnung, verirren uns nicht in der Finsternis, das ist wunderschön. Wir schauen auf die guten Menschen, wir schauen auf das Licht, in das wir gehen. Auch wenn alles irgendwie beim Alten ist – Du machst im Herzen alles neu, die Seele wird leicht, weil uns dein Geist füllt.
Freiheit
Wir ziehen nach Ägypten, habe ich von Josef gehört, als er das der Maria gesagt hat. Ägypten. Ich habe mal einen Rabbi gehört, der gesagt hat, dass das Volk Israel in Ägypten versklavt war. Gott hat es dann durch Moses in die Freiheit gerufen. Und nun? Nun wird das uralte Land der Sklaverei zu einem Land der Rettung. Wir flüchten vor den grausamen Menschen nach Ägypten. Werden die Menschen uns aufnehmen?
Ich weiß nicht warum, aber ich muss an die drei weisen Männer denken. Auch sie sind gereist. Sie sind nicht geflohen wie wir, sie sind gereist mit einer großen Hoffnung. Ihre Hoffnung bestand darin, den zu sehen, den sie als Retter erwarteten. Ob sie geahnt haben, dass der kleine Retter, den sie verehrten, fliehen muss? Sie sind in Freiheit aufgebrochen. Sie sahen einen Stern und zogen ihm voller Erwartung nach. Der kleine Retter, den ich auf dem Rücken trage, wurde gezwungen aufzubrechen. Er hatte keine Freiheit. Die drei Weisen hatten die Freiheit, dem Herrscher Herodes zu widerstehen. Sie haben ihm nicht gehorcht, sie haben ihn einfach missachtet. Warum? Warum waren sie so mutig? Sie haben den Herrscher missachtet, weil sie Gott kennen gelernt haben. Sie haben Gott kennen gelernt und damit sind sie freie Menschen geworden. Sie müssen nicht vor Herrschern kuschen, weil sie Gott folgen.
Das Licht Gottes, das Licht des kleinen Retters, das Licht und die Botschaft der Engel befreit sie. Sie spiegeln die Freiheit Gottes.
So spiegeln also auch wir vier: ich, der Esel, der kleine Retter, Jesus, Maria und Josef die Freiheit Gottes. Wir sind zwar auf der Flucht, aber wir gehen unter Gottes Segen, wir sind zwar auf ungewissem Weg, aber unser Ziel ist Gott, denn er kennt unseren Lebensweg. Manchmal habe ich auch Angst vor Räubern, die mich klauen wollen, aber dann schaue ich auf den kleinen Retter und werde ruhig. Manchmal habe ich auch Angst vor Verletzungen, aber dann werde ich sorglos, weil der kleine Retter bei mir ist, und trabe meinen Lebensweg weiter. Wir sind voller Hektik aufgebrochen, aber ich trage den Sohn Gottes, Gott selbst auf meinem Rücken, in meinem Herzen und so werde ich ganz ruhig. Und so ist alles irgendwie anders, gelöster, freudiger, freier. Es ist zum Teil furchtbar anstrengend auf dem Weg, aber es tut gut, zu wissen, dass Gott da ist. Ich bin eigentlich ein schwacher Esel – lebe aus der Kraft, die Gott mir schenkt. Gibt es eigentlich Größeres? Schwach zu sein und aus Gottes Kraft zu leben? Ängstlich zu sein und in Gott geborgen zu sein? Mein Leben ist voll durcheinander. Aber im Vertrauen auf Gott, der in meinem Herzen ist, weiß ich, dass Gott es in seinen Händen hält.
Schluss
Das alles dachte ich mit meinem großen Kopf, der nicht so richtig denken kann, auf dem Weg nach Ägypten. Nun sind wir einige Jahre hier. Inzwischen ist Herodes gestorben und Maria, Josef und das inzwischen schon größer gewordene Jesus-Kind werden fröhlich zurückwandern. Voller Erwartung nach ihrem Heimatort, nach Nazareth.
Ich bin ein Esel.
Ich habe einen großen Kopf.
Ich kann viel nachdenken.
Finde aber keine Lösungen.
Während ich das Jesuskind und seine Mutter Maria getragen habe,
auf der Flucht von Bethlehem nach Ägypten,
dachte ich viel nach und irgendwie kam ich darauf:
Nicht die Lösungen von schweren Gedanken sind wichtig.
Ich wurde von Gottes Liebe, Gottes Kraft getragen.
Das weiß ich: Das ist wichtig.
Allein das.
Und so gehe ich weiter meinen Weg
in und durch mein eseliges Leben.
Mit Gott, mit dem kleinen Retter im Herzen.