Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht im Buch Hiob, im 14. Kapitel:
»Wie vergänglich ist der Mensch! Wie kurz sind seine Jahre! Wie mühsam ist sein Leben! Er blüht auf wie eine Blume – und verwelkt; er verschwindet wie ein Schatten – und fort ist er! Und doch verlierst du, Gott, ihn nicht aus den Augen und stellst ihn vor dein Gericht! Du musst doch wissen, dass aus Unreinheit nichts Reines entsteht. Wie sollte da ein Mensch vollkommen sein? Alle sind mit Schuld beladen! Die Jahre eines jeden Menschen sind gezählt; die Dauer seines Lebens hast du festgelegt. Du hast ihm eine Grenze gesetzt, die er nicht überschreiten kann. So schau jetzt weg von ihm, damit er Ruhe hat und seines Lebens noch froh wird, wie ein Arbeiter am Feierabend!
Für einen Baum gibt es immer noch Hoffnung, selbst wenn man ihn gefällt hat; aus dem Stumpf wachsen wieder frische Triebe nach. Auch wenn seine Wurzeln im Erdreich absterben und der Stumpf langsam im Boden vertrocknet, erwacht er doch zu neuem Leben, sobald er Wasser bekommt. Neue Triebe schießen empor wie bei einer jungen Pflanze. Aber wenn ein Mensch gestorben ist, dann ist er dahin. Er hat sein Leben ausgehaucht. Wo ist er nun? Wie Wasser, das aus einem See ausläuft, und wie ein Flussbett, das vertrocknet, so ist der Mensch, wenn er stirbt: Er legt sich nieder und steht nie wieder auf. Ja, die Toten werden niemals erwachen, solange der Himmel besteht! Nie wieder werden sie aus ihrem Schlaf erweckt!
O Gott, versteck mich doch bei den Toten! Schließ mich für eine Weile dort ein, bis dein Zorn verflogen ist! Aber setz dir eine Frist und denk dann wieder an mich! –
Meinst du, ein Mensch wird wieder lebendig, wenn er gestorben ist? – Dann könnte ich trotz meiner Qualen auf bessere Zeiten hoffen wie ein Zwangsarbeiter, der die Tage bis zu seiner Entlassung zählt.
Denn dann wirst du mich rufen, und ich werde dir antworten. Du wirst dich nach mir sehnen, weil du selbst mich geschaffen hast.
Meine Wege siehst du auch dann noch, aber meine Sünden hältst du mir nicht mehr vor.
Was immer ich begangen habe, verschließt du wie in einem Beutel, meine Schuld löschst du für immer aus.
Doch selbst Berge stürzen und zerfallen, Felsen rutschen zu Tal. Wasser zermahlt die Steine zu Sand, und Sturzbäche reißen den Erdboden fort. Genauso zerstörst du jede Hoffnung des Menschen.
Du überwältigst ihn, zwingst ihn zu Boden; mit entstelltem Gesicht liegt er da und stirbt. Du schickst ihn fort – er kommt nie wieder.
Soweit der Predigttext.
Hiob… – ein sonderbares Buch. Gott und Satan wetten um Hiob. Gott sagt: Hiob bleibt mir auch dann treu, wenn er leiden muss, und der Satan sagt: Hiob bleibt dir nur treu, weil es ihm gut geht. Im Hiobbuch selbst wird nur Gott angesprochen. Der Satan spielt keine Rolle mehr. Der Volksglauben wird damit abgelehnt: Leiden kommt nicht vom Satan – leiden hat direkt mit Gott zu tun. Aber nun im Einzelnen:
Hiob… – ihm ging es wunderbar, ihm ging es gut – er war glücklich mit sich selbst und Gott. Gott war ihm ein Garant des Glücks, Gott bestätigte ihn durch seinen Erfolg, Gott und Hiobs Wohlergehen waren im Grunde eins. Bis, ja bis Gott ihn allein ließ, so dachte Hiob, bis der Satan wegen einer üblen Wette zuschlug und Hiob leiden musste. Sein Weltbild zerbrach, seine Sicherheit zerbrach, seine Freude und sein Gottvertrauen verflogen wie ein Rauch im Abendhimmel.
Seine Freunde wollen ihn trösten – aber Hiob lässt sich nicht trösten, will sich nicht trösten lassen, kann sich nicht trösten lassen. Die Freunde geben sich alle Mühe, aber Hiob in seinem Schmerz weist alle Bemühungen von sich. Ja, wir Menschen, wenn wir leiden, dann können andere Menschen versuchen zu helfen, aber letztlich müssen wir es mit uns selbst ausmachen, denn keiner kann das Leben eines anderen führen, keiner kann wirklich fühlen, spüren, was der andere in seinem Leid und seinem Schmerz durchmacht. Wir können es immer nur ahnen, weil wir auch unseren eigenen Schmerz, unser eigenes Leiden als Maßstab haben.
Und so macht Hiob seinen Freunden heftige Vorwürfe. Sie verstehen nichts, so sein Vorwurf, und ihre Hilfsversuche sind nichts als Angriffe auf ihn, die sein Leiden verschlimmern. Keiner versteht. Auch Gott versteht nicht. Von allen Facetten aus umkreist Hiob Gott und kann nur den grausamen Gott erkennen, einen Gott, der mit Menschen spielt wie eine Katze mit dem Vogel, mit der Maus spielt. Hiob denkt, wie wir denken, wenn uns etwas nicht passt. Die Gedanken kreisen herum. Von hier nach da, von da nach hier – und indem sie herumkreisen, werden sie immer zorniger, bitterer, verbittert. Blinde Wut kann sich in uns breit machen, dunkle, schwarze Kräfte zersetzen unsere Freude, unser Lachen, unser klares Denken.
In unserem Predigttext umkreist Hiob Gott als Richter.
Hiob kann nur den Richtergott sehen, er sieht in seinem Leiden nur den unmenschlichen, den vernichtenden, den zornigen Gott. Einen Gott, der den Menschen richtet, obgleich der Mensch nicht anders sein kann als Mensch, weil er ja nicht Gott ist. Nur Gott ist perfekt, vollkommen, rein. Der Mensch als Mensch kann es gar nicht sein. Das ist es, was Hiob in seinem Leiden sieht. Gott, die Katze, die immer wieder zuschlägt. Und Hiob? Hiob spielt sich selbst zum Richter auf. Er wirft Gott vor, ein bösartiger Richter zu sein – und wird selbst zu einem solchen Richter. Aber so sind wir Menschen. Was wir anderen vorwerfen, das sind und machen wir oft selbst.
In diesem Text hören wir aber auch etwas anderes, Hiob versucht so ein bisschen Gott zu verteidigen. Wie durch eine Nebelwand kommt zaghaft ein wenig Licht zu Hiob. Hiob ahnt, was Gott in seiner Menschlichkeit, in seiner Zuwendung zum Menschen bereiten wird: Sündenvergebung, Leben. Aber er kann es nicht begreifen, die Situation, in der er lebt, der große, große Schmerz nimmt ihm die Hoffnung.
Wie durch die trübe Nebelwand sieht er jedoch einen leichten Lichtschein. Er ahnt, dass Gott irgendwie ganz anders ist. Der Geist Gottes dringt in Hiobs Geist ein, ganz klein wenig dringt er durch das Leiden hindurch – er schenkt durch den Leidensnebel hindurch Ahnung, dass Gott ganz anders ist, als Hiob fühlt, als es ihm sein Schmerz diktiert. Hiob ahnt: Gott ist derjenige, der sich nach seinem Geschöpf sehnt, weil er es liebt. Gott sehnt sich nach Hiob, Gott kann Leben schenken, er kann Schuld vergeben. In seinem Zorn über Gott, in seinem Reden gegen Gott, ahnt Hiob etwas. Er ahnt, dass er Unrecht haben könnte, dass Gott ganz anders ist, als er es Gott in seinem Zorn an dem Kopf knallt. Durch die Nebelwand hindurch dringt ein diffuses Licht – und dann verfällt Hiob wieder in sein altes, zorniges, abrechnendes Muster. Leiden, Schmerzen, Not – führen dazu, dass wir ungerecht sind gegenüber Gott, aber Gott erträgt uns Menschen, denn er weiß, dass wir nicht Gott sind. Wir sind nicht vollkommen. Weder dann, wenn wir nur so vor Gutsein und Stärke strotzen, noch wenn wir in unserem Schmerz ganz klein werden. Gott, der Schöpfer weiß das, er liebt uns, sein Geschöpf.
Wie geht es dann mit Hiob weiter? Hiob klagt und klagt und zerpflückt Gott – bis am Ende des Buches Gott selbst zu sprechen beginnt. Dann erkennt Hiob, dass er sich geirrt hat, denn er hatte von Gott nur von Hörensagen gehört, aber er hatte Gott selbst nicht kennen gelernt. Erst, nachdem er Gott kennen gelernt hat, Gott als wahren Gott erkannt hat, wird unser Hiob ruhig, gibt er Gott recht. Und es gibt ein Happy End: Gott gibt Hiob recht und belohnt ihn. Gott belohnt den, der ihn massiv beschimpft und mit Dreck beworfen hat. Darin wird dann auch die Liebe Gottes zu seinem Geschöpf deutlich, der sich auch von blindwütigem Schimpfen nicht von seiner Liebe lässt.
Wir haben im Predigttext gesehen, dass Hiob durch die Nebelwand des Schmerzes und des Leides ein Licht ahnt. Er ahnt, dass hinter der Trübnis, der Dunkelheit ein Licht leuchtet, aber Hiob kann es noch nicht begreifen. An einer anderen Stelle im Hiobbuch haben wir dasselbe Muster: Hiob ruft Gott gegen Gott an. Er ruft: Ich weiß aber, dass mein Löser, mein Befreier, mein Erlöser lebt! Dieser Löser – er ahnt den Menschen Gottes, der ihn befreien wird. Er ahnt das Licht, aber er dringt noch nicht zu dem Licht hindurch.
Wir Christen sehen an dieser Stelle weiter, auch wenn wir selbst immer wieder in die Klagen des Hiob zurückfallen können, weil uns Leiden, Schmerz und Not überwältigen. Gottes Liebe wird sichtbar in Jesus Christus. Er ist Mensch geworden, er ist der Löser, der Erlöser, den Hiob erahnte. Jesus Christus hat das Leiden von Menschen bekämpft, er hat das Leiden von uns verstanden, erlebt, durchlitten, wurde abgelehnt, gemobbt, gefoltert, von der Menge der Menschen und den Mächtigen entblößt und am Kreuz ausgestellt, ermordet. Menschen tobten sich an ihm aus. Sein Leiden, Gottes Leiden war immens. Durch dieses Leiden hat Gott uns unsere Schuld genommen. Stellvertretend für uns hat Jesus dieses Leiden auf sich genommen, die Schuld wird uns vergeben. Hiob hat das Licht hinter der finsteren Nebelwand geahnt – aber er hat es nicht wirklich sehen können. Wer kann sowas auch schon ahnen, dass Gott selbst Mensch wird, um seinem gequälten Geschöpf nahe zu sein?
Aber es blieb nicht beim Leiden von Jesus: Jesus Christus hat dem Tod die Macht genommen. Er ist gestorben und von Gott auferweckt worden. Auch das hat Hiob als Lichtschimmer durch die Nebelwand hindurch ahnen können, aber gesehen hat er nicht. Ein Wunder, ein Wunder, ein Wunder, das Gott seinem Geschöpf bereitet. Aber wer kann das auch schon ahnen? Selbst wir, die wir davon hören, die wir von Jesus Christus wissen – wir stehen kopflos davor und verstehen nicht. Wir verstehen nicht das große Wunder, das Gott uns bereitet hat. Er durchdringt uns mit seiner Liebe, er vergibt uns unsere Sünden, befreit uns von Schuld, er holt uns aus dem Tod. Wer versteht das schon? Nicht nur Leiden lässt uns fragen: Warum, Gott, warum muss ich leiden, gerade ich? Sondern auch das große Wunder Gottes lässt uns fragen: Warum, Gott, wendest du dich deinem Geschöpf so wunderbar zu? Warum lässt du uns nicht einfach allein, warum wendest Du dich nicht von uns ab, unermesslicher Gott? Und so antworten wir mit dem Lied (42,3): Wenn ich dies Wunder fassen will, so steht mein Geist vor Ehrfurcht still, er betet an und er ermisst, dass Gottes Lieb unendlich ist.
Und so wird Hiob eine Art ahnender Prophet, so wird das Hiobbuch zu einer Art ahnendem prophetischem Buch.
Wir in unserem Leid mögen Gott alles Mögliche an den Kopf werfen, wir mögen ihn verlassen, wir mögen ihn beschimpfen, wir mögen ihn mobben – wir tun Gott Unrecht. Aber Gott in seiner Liebe zu uns, seinem Geschöpf, lässt nicht nach. Er vergibt uns unsere Schuld, er schenkt uns ewiges Leben. Wenn wir es denn wirklich wollen und letztlich Gott selbst hören.
Und so liegt es an uns, wie wir im Leiden, in Not, im Schmerz reagieren: Wir können uns von Gott abwenden, wir können in der Abwendung verharren, verbittern, vergehen. Gott selbst bleibt uns immer zugewandt, Er ist da, Er ist nah, auch wenn wir uns von Ihm entfernen.
Wir können uns aber auch Gott zuwenden und mit Gott durch unser Leiden, durch unseren Schmerz, durch unsere Not gehen. Aus meiner Sicht ist das klüger: Mit Gott gehen ist klüger, als zu versuchen, sich selbst irgendwie durchzuschlagen. Aber wie an Hiob zu sehen ist: Wir wissen nie, wohin uns unsere blinden Emotionen, unser getrübter Verstand uns führt, wenn wir leiden, Schmerzen haben. Und so können wir nur bitten und danken gleichzeitig:
Herr, unser Gott,
ich kenne mich nicht.
Ich bin verunsichert.
Manchmal bin ich stark,
manchmal bin ich stark im Glauben.
Manchmal bin ich schwach,
manchmal bin ich schwach im Glauben.
Manchmal verschwindest du hinter einer Nebelwand,
kein Licht ist zu ahnen, alles ist nur finster.
Manchmal leuchtest du mir,
und ich möchte vor Freude springen und singen.
Herr, unser Gott,
du durchdringst mich mit deinem heiligen Geist.
Hilf du mir, dein Licht auch durch den Schmerz hindurch zu erkennen,
hilf du mir, dich auch durch mein Leiden hindurch zu hören,
hilf du mir, in allem Schlimmem, das ich erlebe oder erleben könnte, um deine Nähe und Kraft zu wissen und sie zu spüren.
Wie gut, dass du da bist, mein Gott.
Wenn ich dies Wunder fassen will, so steht mein Geist vor Ehrfurcht still, er betet an und er ermisst, dass Gottes Lieb unendlich ist.
