Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht im Buch des Propheten Jesaja im 49. Kapitel:
Hört mir zu, ihr Bewohner der Inseln
Gebt acht, ihr Völker in der Ferne!
Schon vor meiner Geburt hat der HERR mich in seinen Dienst gerufen.
Als ich noch im Mutterleib war, hat er meinen Namen genannt.
Er hat mir eine Botschaft aufgetragen, die durchdringt wie ein scharfes Schwert.
Schützend hält er seine Hand über mir.
Er hat mich zu einem spitzen Pfeil gemacht
und mich griffbereit in seinen Köcher gesteckt.
Er hat zu mir gesagt: »Israel, du bist mein Diener.
An dir will ich meine Herrlichkeit zeigen.«
Ich aber dachte: »Vergeblich habe ich mich abgemüht,
für nichts und wieder nichts meine Kraft vergeudet.
Dennoch weiß ich, dass der HERR für mein Recht sorgt,
von ihm, meinem Gott, erhalte ich meinen Lohn.«
Und nun spricht der HERR zu mir.
Er hat mich von Geburt an zum Dienst für sich bestimmt.
Die Nachkommen von Jakob soll ich sammeln und zu ihm zurückbringen.
Gott selbst hat mir diese ehrenvolle Aufgabe anvertraut,
er gibt mir auch die Kraft dazu.
Er spricht zu mir: »
Du sollst nicht nur die zwölf Stämme Israels wieder zu einem Volk vereinigen
und die Überlebenden zurückbringen.
Dafür allein habe ich dich nicht in meinen Dienst genommen, das wäre zu wenig.
Nein – ich habe dich zum Licht für alle Völker gemacht,
damit du der ganzen Welt die Rettung bringst, die von mir kommt!«
Soweit der Predigttext. Propheten waren Verkünder der Worte Gottes. Aber sie haben nicht einfach nur Worte Gottes gesprochen, sondern sie haben ihre Worte wunderschön formuliert. Wie Malerinnen und Maler, die Jesus Christus gemalt haben: Sie haben ihn nicht einfach nur gemalt. Sondern weil er für sie ein ganz besonderer Mensch war, der Sohn Gottes, der Auferstandene, der, der ihrem Leben Sinn gab und Geborgenheit, haben sie ihn so schön gemalt, wie sie es nur konnten. Und so haben die Propheten auch nicht einfach nur Worte gesprochen, sie haben sie so schön und eingängig formuliert, wie sie es nur konnten. Und solche großartigen Formulierungen finden wir in unserem Text. Der Prophet ist ein Poet, ein Dichter. Er verwendet die poetische Struktur, die in der Zeit Israels Menschen ergriffen hat. Es geht um den Parallelismus Membrorum: Satzglieder werden wiederholt, mit anderen Worten, manchmal weiterführend.
Und so beginnt der Prophet seine Rede auch schon gleich poetisch:
Hört mir zu, ihr Bewohner der Inseln
Gebt acht, ihr Völker in der Ferne!
Hier führt der zweite Satz den ersten weiterführend fort: Es wird gerätselt, wen der Prophet mit „Bewohnern der Inseln“ meint. Mit den Bewohnern der Inseln sind vermutlich die Israeliten gemeint. Das Volk Israel fühlt sich wie Inselbewohner im weiten Meer allein und den Mächten ausgeliefert. Und es geht auch um die Menschen der Völker.
Sofort folgt die zweite parallel formulierte Aussage:
Schon vor meiner Geburt hat der HERR mich in seinen Dienst gerufen.
Als ich noch im Mutterleib war, hat er meinen Namen genannt.
Wie der erste Satz ein Rätsel enthält, so auch dieser: Wer ist das, von dem gesprochen wird, wer ist das „Ich“, den Gott schon vor der Geburt in den Dienst gerufen hat, den Namen im Mutterleib genannt hat? Wer ist es, der sich vergeblich abmüht, aber dennoch von Gott Kraft bekommt – und letztlich Licht ist? Ist es der Prophet? Ist es, wie ein wenig später ausgesprochen wird: Israel? Ist es ein kommender Herrscher, der Israel befreien wird – vielleicht sogar der Perserkönig Kyros? Es gibt für jede Vermutung Für und Wider.
Es ist kompliziert. Unser Text gehört zu den so genannten „Gottesliedern“ – er ist das zweite Gotteslied. Und diese Gotteslieder gehen im Grunde über einen Menschen hinaus. Es sind rätselhafte Lieder. Aber auch Rätsel gehören zur prophetischen Sprache. Denn wenn der Mensch über etwas rätselt, nachdenkt, dringt er tiefer in den Text ein. Und hier fragen wir uns, seit der Text vor ca. 1500 Jahren aufgeschrieben wurde: Wer ist der, von dem hier geredet wird? Wer ist der, der von Gott schon im Mutterleib berufen wurde, der das Volk Israel einen soll, der Licht für die Völker ist?
Christen finden die Antwort in Jesus von Nazareth, Jesus Christus. Und so wird dieser Text auch von dem Propheten Simeon aufgegriffen, von dem Lukas berichtet: Als Maria den soeben geborenen Jesus in den Tempel brachte, hat der betagte Prophet Simeon über das Jesus-Kind prophezeit:
Von dir kommt die Rettung.
Alle Welt soll es sehen –
Ein Licht, das für die Völker leuchtet
und deine Herrlichkeit aufscheinen lässt, Gott, über deinem Volk Israel.
Warum sehen Christen in diesem Jesus das Licht, das in die Welt hinein scheint? Hat sich mit dem Kommen Jesu etwas verändert? Ja, natürlich. Der Inder Mangalwadi hat sich viel mit Jesus und dem christlichen Glauben beschäftigt. Er hat penibel, ganz genau in einem dicken Buch herausgearbeitet, in welchen Bereichen der christliche Glaube an den auferstandenen Jesus Christus die Welt verändert hat. In der Bildung, in der Philosophie, im Recht, in der Wissenschaft, in Literatur, Kunst, Musik – wir können letztlich fragen: Wo nicht?
Aber darauf kommt es dem Propheten nicht an. Ihm kommt es auf etwas anderes an – uns selbst dieses Rätselwort zu schenken.
ich habe dich zum Licht für alle Völker gemacht,
damit du der ganzen Welt die Rettung bringst, die von mir kommt!
Er spricht von Rettung – andere Worte sind: Befreiung, Erlösung. Ist Jesus Christus uns zur Erlösung gekommen, mir zur Befreiung, zur Rettung?
Der Prophet spricht die Worte in einer ganz dunklen Zeit. Das Volk Israel war von den Babyloniern erobert worden. Die Häuser und der Tempel sind zerstört worden. Viele, viele Menschen sind ermordet worden, verhungert, verdurstet, verletzt worden. Ein paar haben überlebt – und sie wurden in die Gefangenschaft weggeführt, mussten als Sklaven in fremdem Land und fremden Herren dienen, fühlen sich einsam und allein den Mächten ausgeliefert wie die „Bewohner der Inseln“. In diese dunkle Zeit hinein spricht er von dem Licht – dem Licht, das Israel leuchten wird – aber nicht allein Israel, sondern auch den Völkern, die im Finstern sitzen, ja, auch den Babylonier, die Israel versklavt haben.
- Finsternis bedeckt noch immer die Völkerwelt. Tyrannen herrschen hier und dort – und wenn wir Menschen denken, sie gibt es nicht mehr, stehen wieder irgendwo Tyrannen mit ihren Steigbügelhaltern auf, knechten die Menschen.
- Finsternis bedeckt noch immer die Völkerwelt: Krankheiten, Viren – wir glaubten, wir könnten alles in den Griff bekommen, und schon grassiert ein Virus und alle sind panisch, haben Angst, denken sich dies und das aus, um ihm zu entgehen.
- Finsternis bedeckt noch immer die Völkerwelt: Hunger und Durst sind sehr, sehr weit verbreitet. Eltern wissen nicht mehr, wie sie ihre Kinder ernähren können, sie sterben an Unterernährung, an Krankheiten, für die sie jetzt anfälliger geworden sind.
- Finsternis bedeckt noch immer die Völkerwelt: Kriege, die Menschen fern wähnen – nun denn, sollen sich die Stämme in Nigeria, im Kongo, in Mali in Afghanistan in Indien, in Äthiopien einander bekämpfen, sollen sich doch die Hindus mit den Muslimen streiten – es ist weit weg, geht uns nichts an – und dann: dann ist der Krieg auf einmal ganz nah, dann sind Auseinandersetzungen und Spannungen unmittelbar da.
Finsternis bedeckt noch immer die Völkerwelt – warum sprechen wir Christen von Jesus als das Licht der Welt? Jeder einzelne Mensch, der zu Jesus Christus gehört ist ein kleines Licht, das Jesus Christus in dieser Welt als Licht angezündet hat.
- Er, das große Licht, schenkt uns in unserem Glauben Geborgenheit – und so schenken auch Christen weltweit in den Finsternissen, anderen Geborgenheit.
- Er, das große Licht, befreit uns von unserer Schuld, befreit uns von Ängsten, befreit uns von Mutlosigkeit – und so schenken Glaubende weltweit den Menschen: Befreiung von Schuld, Beistand in Ängsten, Kraft in Mutlosigkeit.
- Er, das große Licht, schenkt uns inneren Frieden – und so werden wir Kinder des Friedens.
- Er, das große lebendige Licht, ist ewiges Leben, schenkt uns ewiges Leben bei Gott – und so können wir getrost und getröstet, den Tod nicht fürchtend, anderen Menschen auch mit diesem Leben anstecken. In die Welt des Todes hinein, in die Welt, die den Tod bringt, können wir Leben verkünden.
Aber dennoch: weltweit geraten Juden und Christen noch immer unter Druck. Das Volk Israel, weil es Gottes Volk ist. Warum geraten Christen immer wieder so massiv unter Druck? Weil auch sie besonders sind. Sie sind Lichter – und sind sie noch so klein – in dieser Welt der Krisen und des Todes. Herrscher wollen regieren, ohne dass sie von Christen zur Verantwortung gezogen werden. Christen sagen ihnen: Du musst dich vor Gott verantworten. Du bist nicht autark. Du kannst nicht machen, was du willst: Du unterstehst Gott – und er wird dich zur Rechenschaft ziehen. Menschen wollen ihr kleines Leben gott-los leben: Sie wollen entweder wie Gott sein und ihre kleine Macht über andere ausüben, mehr oder weniger gewalttätig – doch Christen sagen: Auch du musst dich verantworten.
Aber nicht die Drohung steht im Blick, im Blick steht der Aufruf zur Erlösung, zur Befreiung zur Rettung: Du musst nicht so ein verkorkstes Leben führen. Lass dich von dem Licht Jesus Christus befreien – und werde Licht! Du musst dich nicht abrackern, um der Beste, Schönste, Mächtigste, Anerkannteste zu sein: Lass dich von dem Licht Jesus Christus befreien – und werde Licht!
Das Lied des Propheten klingt so harmlos! Aber es ist nicht harmlos. In einer babylonischen Zwangs-Welt bis heute sagt es den Herrschern und den herrschenden Gruppen und Grüppchen: Gott steht über euch! Und es sagt gleichzeitig: Das Licht wird Wort – das Wort wird Mensch – ihr könnt euch aus der Dunkelheit, der Finsternis lösen! Es besteht kein Grund mehr, in Ängsten in der Kultur des Todes kleben zu bleiben. Werde Licht! Und so lassen sich manche Menschen aus der Finsterniswelt herausbrechen und treten ein in das Licht. Diese Menschen sind eine ständige Herausforderung, ob wir es wollen oder nicht. Das Licht spaltet die Welt. Und das mögen manche Finsternismenschen gar nicht, und so bekämpfen sie überall das Licht, wo sie nur können. Im Kleinen, im Großen – ja auch in unseren Herzen wissen wir oft nicht:
- Will ich Christus dienen, dem Licht, oder wende ich mich der Finsternis zu, überlasse mich Ängsten, Sorgen, Problemen, Nöten und lasse ich mich damit vereinnahmen von den Finsternissen?
- Will ich in Jesus Christus mein Leben führen, oder wende mich von ihm ab, lasse die Zweifel in mir mächtig werden, sodass das Christus-Licht immer kleiner wird?
- Bleibe ich an der Hand von Jesus – oder verrenne ich mich in meinem Leben und verliere die Geborgenheit, die Wärme Gottes?
Unser Auftrag ist klar: Im Namen und in der Kraft des Lichtes Jesus Christus unsere Mitmenschen heller zu machen. So gut wir es können. Wie der Prophet. Von daher: Wer ist das Ich in dem Text? Jesus Christus – und ich an seiner Hand.