Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht in den Klageliedern des Jeremia im 3. Kapitel:
Darum sagte ich:
Meine Kraft ist geschwunden, und meine Hoffnung auf den HERRN ist dahin.
Meine Not ist groß, ich bin elend und verlassen, mit Bitterkeit getränkt.
Schon der Gedanke daran macht mich bitter und krank.
Du, Gott, wirst daran denken. Meine Seele sagt es mir
Eine Hoffnung bleibt mir noch, an ihr halte ich trotz allem fest:
Die Güte des HERRN hat kein Ende, sein Erbarmen hört niemals auf, es ist jeden Morgen neu! Groß ist deine Treue, o Herr!
Meine Seele spricht: der HERR ist mein Teil, er ist alles, was ich brauche.
Denn der HERR ist gut zu dem, der ihm vertraut und ihn von ganzem Herzen sucht.
Darum ist es das Beste, geduldig zu sein und auf die Hilfe des HERRN zu warten.
Denn wenn der Herr einen Menschen verstößt, dann tut er es nicht für immer und ewig.
Er lässt ihn zwar leiden, aber erbarmt sich auch wieder, denn seine Gnade und Liebe ist groß. Wenn er strafen muss, hat er keine Freude daran, sondern das Leid seiner Kinder schmerzt ihn auch selbst.
Soweit der Predigttext.
Der klagende Mensch lebt in einer ganz schweren Zeit. Sein Land wurde von einer fremden Macht zertrümmert. Die Menschen wurden ermordet, geschändet, ausgeplündert, entführt, körperlich und seelisch verletzt. Und nicht allein dem Land erging es so, denn was das Land trifft, trifft auch den einzelnen Menschen: Er selbst lebt zerschlagen und darum in Bitterkeit. Sein Glaube wankt. Das, was die Verbrecher dem Volk und ihm angetan haben, das hat Gott dem Volk und ihm angetan. Gott ist es, der ihn auf Kieselsteine beißen lässt, der ihn in die Asche der verbrannten Häuser hineingedrückt hat. Er hat keinen Frieden mehr, Gutes – er hat es vergessen. Gibt es das noch? Wenn Menschen einander solches Leid antun und auch Gott dahinter gesehen wird – gibt es dann noch Frieden? Gibt es dann noch Gutes? Es gibt doch nur Bitterkeit, weil alle Hoffnung, jeder Glaube an Gottes Güte, an Gottes Kraft, an die Barmherzigkeit der Menschen verschwunden sind. All das ist weg. Ausgelöscht, ausgebrannt aus seinem Hirn.
Dann aber seine Seele ihm Mut zu. Ein kleiner Lebensfunke sagt ihm, dass Gott ihn nicht vergessen hat. Dass Gott sein Volk nicht vergessen hat. Und dieses Flüsterwort der Seele entfacht wieder Hoffnung und er erkennt, dass doch nicht alles verloren ist: Er darf noch leben, auch andere haben überlebt. Und er denkt über Gott nach:
Die Güte des HERRN hat kein Ende, sein Erbarmen hört niemals auf, es ist jeden Morgen neu!
Und redet dann sogar mit Gott
Groß ist deine Treue, o Herr!
Und dann spricht die Seele wieder zu ihm und er stimmt in die Worte der Seele ein:
Der Herr ist mein Teil, er ist alles, was ich brauche.
Und er denkt weiter darüber nach, dass es gut ist, Gott zu vertrauen, dass es gut ist, geduldig zu sein. All das Leiden kommt von Gott, und es ist Gott, der sich über den Menschen erbarmt und ihn vom Leiden befreit, denn er will nicht, dass seine Kinder leiden.
Aber mit diesen abgeklärten Worten endet das Lied nicht. Der Bibeltext geht weiter, er wendet sich direkt im Gebet an Gott. In diesem Gebet wird bitter beklagt, dass Menschen so schlimm sind, sie tun Unrecht, sie verspotten, mit Anschlägen verschlimmern sie sein Leben – und das Gebet klingt aus mit der Bitte, dass Gott rächen möge, dass er die Feinde umbringen soll. Rache!
Der Mensch in seinem schrecklichen Leiden ist nicht so abgeklärt wie diejenigen es wollen, die den Predigttext ausgesucht haben. Alles wunderbar, der Mensch leidet, er lässt sich von seiner Seele wieder zu Gott führen, es wird mehr oder weniger theologisch Richtiges gesagt – und dann Ende des Predigttextes. Nein! So ist das eben nicht! Wenn Menschen ganz schlimm leiden, oder gefühlt schlimm unter anderen Menschen leiden, dann geht es nicht so abgeklärt ab. Auch Menschen der Bibel versuchen Antworten zu bekommen, die mit Gott in Verbindung stehen – aber dann doch Gott massiv verkennen. Verzweifelt, verbissen versuchen sie und wir zu verstehen! In solchen Verstehensversuchen werden sie und wir oft Gott nicht gerecht, aber was heißt, Gott gerecht werden? Wir sind blind gegenüber Gott. Wir denken uns dies und das, was uns weiterhelfen könnte. Und dann bricht es aus uns heraus: Gott, du bist schuld! Du machst das alles! Aber der Mensch bleibt dabei nicht stehen, sondern ruft Gott zu: Verfluche diese Menschen! Weil er Gott nicht verfluchen kann
Wenn es uns gut geht, dann sind wir abgeklärt. Sobald etwas nicht so läuft, wie wir uns das denken, schwanken und wanken wir wie ein Baum im Sturm. Der Sturm reißt Zweige und Blätter ab, Gedanken, die wir uns in guten Zeiten zurecht gelegt haben, wirbeln davon. Ausgeliefert sind wir dann unserem Gefühl der Bitterkeit, der Empörung, der Rache. Wir Menschen sind so – natürlich gibt es immer Ausnahmen – aber in der Regel sind wir so.
Und es ist wichtig, dass wir auf die kleine Flüsterstimme in uns hören, die diese Bitterkeit zu durchbrechen sucht. Die kleine Flüsterstimme, die versucht, Gottes Licht in uns wieder zu erwecken, die Hoffnung, den Glauben, die Liebe – Mut. In all der Sturmflut, die über uns Menschen hereinbrechen kann, vergessen wir den Frieden Gottes, vergessen wir das Gute, wie der Predigttext sagt. Es sind nur Worte, Worte ohne Füllung. Worte der Vergangenheit, die keine Kraft mehr haben, weil die Wirklichkeit des Schmerzes, in der wir leben, sie überfluten, überschwemmen.
Aber dann ist immer wieder diese Flüsterstimme der Seele da, das Wispern, du gehörst zu Gott. Gott ist gut. Er ist deine Kraft, er ist deine Hoffnung. Er ist dein Alles in deinem Leiden. Gott wird das Leiden in den seltensten Fällen einfach wegpusten. Aber wir sind gestärkt in ihm, wenn wir uns von unserer Seele daran erinnern lassen: Du gehörst zu ihm.
In letzter Zeit habe ich mich intensiv mit Gedichten zweier Schriftstellerinnen beschäftigt. Die eine, Emily Dickinson*, glaubt ganz fest an Gott, sieht sich als Gottes kleines Mädchen, und dann macht sie schlimme Erfahrungen – und der tiefe Glaube kühlt ab. Sie wird Gott gegenüber sarkastisch, fasst in heftige Worte, was ihr an Gott nicht gefällt, was sie nicht versteht. Doch dann immer wieder kommt ihr tiefer Glaube durch und sie klammert sich an Jesus fest. Die Flüsterworte der Seele, durch die Gott spricht, werden wieder gehört. Die andere Schriftstellerin, Caroline Maria Noel*, wird mit 35 Jahren schwer krank, teilweise gelähmt, sie muss viele Jahre dieser noch verbleibenden 25 Jahre ihres Lebens im Bett verbringen. Sie versucht ganz fest alles, was ihr geschieht, aus Glauben heraus zu verstehen. Ihr Leiden ist Mitleiden mit Jesus. Wie Jesus gelitten hat und auferstanden ist, so wird auch sie in Herrlichkeit auferstehen. Sie erfährt schon in ihrem Leiden Lichtmomente, Momente der Nähe und der Kraft Jesu.
Ich finde wunderschön, wie sie versucht, in einem ihrer letzten Gedichte zurechtzukommen. Es ist Englisch, ich übertrage, interpretiere es, ohne zu reimen, und so klingt es eher holprig – aber das Thema ist es ja auch:
Die Liebe Jesu überflutet all meine Bedürfnisse,
sie spült weg alle Bitterkeit und Traurigkeit.
Bitterkeit, die der Unglaube in mir hervorgerufen hat.
Aber kann meine Traurigkeit wirklich bitter sein,
wenn sie schon die kommende Freude bei Gott spürt?
Diese Freude sprengt sich schon jetzt ab von der Traurigkeit,
sie wächst in die Höhe zu dem Glück und zu der Schönheit der Welt Gottes.
Während die Freude über alle Furcht und Gefahr hinauswächst,
vergrößert Jesus durch meine Traurigkeit mein Herz,
um es mit neuem Segen zu füllen.
„Herr, fülle alles, was in mir schlimm ist, mit Dir selbst,
denn du kennst alles, was mich von dir trennt,
ja, fülle mich mit dir selbst, du bist mein Schatz.
Aber ich bin schwach und giere nach dem,
was mir Erleichterung bringen kann.
Komm und entlocke du meinem Herzen,
ein `Dennoch, Herr Jesus!´“
Auch sie kämpft. Sie verleugnet nicht ihre Kraftlosigkeit, ihre Glaubenslosigkeit, ihre Schwierigkeiten mit Gott, ihre Traurigkeiten. Sie bittet Gott selbst darum, ihrem Herzen Überlebenstrotz hervorzulocken, sich in sie ganz auszubreiten, damit nicht die Bitterkeit sie besiegt, sondern die Freude an Gott. Denn die Freude ist eine Wirklichkeit. Die Liebe Gottes ist eine Wirklichkeit. Die Schmerzen, die Bitterkeit können die Hoffnung, die Kraft, die Freude wegschwemmen, überstürmen, vernichten, wie in unserem Predigttext, der dann bitter in der Rache endet, sich in Rachegedanken verkrampft. Es ist aber auch möglich, dass die Flüsterworte der Seele stärker werden und die Hoffnung, die Kraft, die Freude Gottes schwemmen die Bitterkeit und die Hoffnungslosigkeit weg. Die flüsternde Seele in unserem Predigttext ist zu leise, sie kann sich angesichts der Not bei dem Beter nicht behaupten, nicht durchsetzen. Damit es nicht so kommt, können wir versuchen, wie Caroline die flüsternde Seele zu unterstützen. Und so kommt vieles auf die Bitte von uns schwachen Menschen an:
„Komm und entlocke du meinem Herzen,
ein `Dennoch, Herr Jesus!´“
(*) https://gedichte.wolfgangfenske.de/19-jh-2/ und https://gedichte.wolfgangfenske.de/emily-dickinson-1830-1886/