Der Predigttext, der für den heutigen Sonntag vorgeschlagen wurde, steht im 61. Kapitel des Buches des Propheten Jesaja.
Der Geist Gottes des HERRN ist auf mir, weil der HERR mich gesalbt hat.
Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen; zu verkündigen ein gnädiges Jahr des HERRN und einen Tag der Rache unsres Gottes, zu trösten alle Trauernden, zu schaffen den Trauernden zu Zion, dass ihnen Schmuck statt Asche, Freudenöl statt Trauer, schöne Kleider statt eines betrübten Geistes gegeben werden, dass sie genannt werden »Bäume der Gerechtigkeit«, »Pflanzung des HERRN«, ihm zum Preise. Sie werden die alten Trümmer wieder aufbauen und, was vorzeiten zerstört worden ist, wieder aufrichten; sie werden die verwüsteten Städte erneuern, die von Geschlecht zu Geschlecht zerstört gelegen haben… Ich freue mich im HERRN, und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott; denn er hat mir die Kleider des Heils angezogen und mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit gekleidet, wie einen Bräutigam mit priesterlichem Kopfschmuck geziert und wie eine Braut, die in ihrem Geschmeide prangt. Denn gleichwie Gewächs aus der Erde wächst und Same im Garten aufgeht, so lässt Gott der HERR Gerechtigkeit aufgehen und Ruhm vor allen Völkern.
Was für ein Predigttext!
Ich wage ihn kaum als Grundlage meiner Predigt zu nehmen – weil Jesus ihn als Grundlage seines Wirkens genommen hat. Im Lukasevangelium heißt es (4,16ff.):
Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen; zu verkündigen ein gnädiges Jahr des HERRN.
Bis heute ist Christus derjenige, der so wirkt: Weltweit wird Elenden die frohe Botschaft verkündet. Menschen in aller Welt hören sie, und viele wenden sich dieser frohen Botschaft zu. In aller Welt erfahren Menschen, dass der Glaube an Jesus Christus zerbrochene Herzen verbindet, Menschen, die in Gefangenschaft sind, wissen sich durch Jesus Christus befreit, obwohl sie unter der Ungerechtigkeit anderer leiden, obwohl sie in Gefängnisse geworfen werden. Der Glaube an Jesus Christus bringt eine neue Perspektive in das Leben von Glaubenden. Nicht die Umstände, das Schicksal müssen uns fesseln – wir sind Kinder Gottes und von daher, was uns auch immer betrifft: Wir sind frei, Jesus Christus hat uns befreit. Und das ist ein großes Wunder. Diesem Wunder werden wir ein wenig nachspüren.
Ich habe vor kurzem die Lebensgeschichte von einem ganz berühmten Rechtsgelehrten aus dem 17. Jahrhundert gelesen. Er wird als einer der Väter des Völkerrechts bezeichnet. Er war ein sehr frommer Mann: Johann Jacob Moser. Als sein Fürst (Herzog Carl Eugen von Württemberg) begann, junge Männer auszuheben, um sie zum Militär zu pressen, hat er dagegen protestiert. Denn der Fürst verlieh die jungen Männer an Österreich und machte damit Geld. Den Protest wollte sich der Fürst nicht gefallen lassen und hat den Gelehrten inhaftieren lassen, ohne Gerichtsurteil. Fünf Jahre war er in Haft. Da Moser sehr mitteilungsbedürftig war, hat man ihm Schreibmaterial weggenommen. Und was hat er gemacht? Auf jeden Fall: sich nicht kleinkriegen lassen. Er hat mit der Schere und anderem seine Gedichte und Texte in die Gefängniswand eingeritzt, hat selbst Reste vom Toilettenpapier beschrieben. Das ist so ein Beispiel dafür, dass Christen sich nicht kleinkriegen lassen, dass sie frei sind.
Allerdings kann es auch sein, dass sie zerbrochen werden. Foltermethoden sind so massiv, dass auch Christen psychisch und körperlich zerstört, vernichtet werden können. Christen in aller Welt werden bedrängt, verfolgt, inhaftiert. Manche Christen können widerstehen – manche werden gebrochen. Von einer Christin habe ich gehört, die in Vietnam gebrochen wurde, die es nicht mehr aushielt in den Schmerzen, und andere Christen verraten hat, was sie auch noch seelisch zerstörte. Sie dachte, sie habe versagt. Wie auch immer: Sie liegen in Gottes Hand, auch wenn sie angesichts der Schicksalsschläge versagen, zerbrechen. Und wer kann es den gefolterten Menschen verdenken, wenn sie zerbrechen? Ihr und uns kann Befreiung von ihrer Schuld zugesprochen werden – auch wenn wir versagen: Jesus Christus macht uns frei.
Die Grundlage unseres Textes ist ein großes Wunder „Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil er mich berufen und bevollmächtigt hat“. Gottes Geist ruht auf Christus – und Gottes Geist ruht auch auf uns.
Dieser Geist, der Gott in uns, dieser Geist, der durch uns wirkende, handelnde Gott, der ist das große Wunder. Gott will mit uns eine Beziehung eingehen. Gott will in uns leben, durch uns hindurch andere Menschen beleben. Dieses große Wunder nennt der Apostel Paulus übersetzt „Gnadengaben des Geistes“: χαρίσματα τοῦ πνεύματος. Diese Charismen bestimmen uns, wenn wir es zulassen. Im Galaterbrief schreibt er zum Beispiel von den Früchten des Geistes Gottes: ein Leben voller Liebe, Freude, Frieden, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung…
Im Predigttext hören wir, dass der Geist dazu befähigt, den Armen die frohe Botschaft zu bringen – können wir das nicht auch? Der Geist Gottes befähigt dazu, die Verzweifelten und die Trauernden zu trösten – ist mir vielleicht diese Gabe gegeben? Gefangene befreien, ihre Fesseln zu lösen, Kerkertüren öffnen – das können wir nicht? Es geht hier nicht um Gefangenenbefreiung aus welcher JVA auch immer. Im Jesaja-Text ging es um das Volk Israel: Gott wird es aus der Gefangenschaft durch die Babylonier befreien, in die es durch die Schuld des Volkes und der Herrscher hineingeraten ist. Gott befreit das Volk von seiner Schuld – und führt es zurück ins Heimatland. Jesus hat eine andere Intention: Er befreit die Menschen von den Fesseln, die sie gefangen halten, von den dämonischen Fesseln, den Fesseln der Krankheit, den Fesseln des Todes, den Fesseln der Verkrümmung in sich selbst – ich denke auch von politischen Fesseln: Wer auf Gott schaut, ist nicht mehr Untertan der Besatzungsmacht. Auch wir haben den Geist Gottes, um Menschen von Fesseln zu befreien, die Kerkertüren zu öffnen. Wie auch immer die Fesseln aussehen.
Es geht hier nicht um unkontrollierten Ausbruch. Die Kerkertüren werden geöffnet, aufgeschlossen. Die Fesseln fallen nicht einfach ab, sie werden langsam gelöst. Das heißt nicht: Ich bin ich – ich bin das Zentrum der Welt, ich mache alles neu! Und zwar jetzt und sofort, mit brutaler Gewalt.
Das heißt, dass Christen im Geist Gottes handeln. Nicht umsonst lautet der Text: „Der Geist Gottes ruht auf mir.“ Er macht alles neu, verändert Menschen und Geschichte, er eckt an – aber eben aus der Ruhe heraus, die Gott schenkt.
Der Geist Gottes – Gottes wirksame Liebe – schenkt Ruhe.
Ruhe schenkt Weitsicht – Wut macht kurzsichtig.
Ruhe schenkt gute Gedanken – Stress machen hirnlos.
Ruhe schenkt Offenheit – Feindseligkeit verschließt.
Ruhe schenkt Kraft – planlose Hektik schwächt und lähmt.
Ruhe schenkt Frieden – Ruhelosigkeit bringt Chaos.
Ruhe schenkt Freiheit – Freiheit von Wut, Stress, Feindseligkeit, Hektik.
Ruhe schenkt Hoffnung – Blinder Eifer lässt verzweifeln, wenn es mal nicht so klappt.
Der Geist Gottes – Gottes wirksame Liebe – schenkt Ruhe.
Wir hören im Predigttext: Gott wird mit seinen Feinden abrechnen. Der Prophet sieht, dass die Feinde, die das Volk in Gefangenschaft gehalten haben, die es aus dem Heimatland entführt haben, dass diese nun keine Macht mehr haben über das Volk. Sie haben keine Macht mehr, es zu kerkern, es zu fesseln, es verzweifeln zu lassen, es zu verarmen. Diese Macht ist ihnen genommen. Das geschieht allein auch schon dadurch, dass der Prophet ihnen dieses Wort von Gott übermittelt. Die Veränderung muss noch nicht da sein – aber die angekündigte Veränderung befreit zu einem neuen Leben. Und so sieht das auch auf anderer Ebene Jesus: Er hat den Geist Gottes, der auf ihn ruht. Und aus dieser Ruhe heraus verändert er das Leben vieler Menschen, verändert er die Welt. Indem er das ankündigt, hat er schon so manches Herz verändert, geöffnet. Und darum feiern und freuen wir uns an Weihnachten so sehr: Neues hat mit Jesus Christus begonnen! Andere freuen sich nicht, sie sind verschlossen, verärgert. Als Jesus das nämlich angekündigt hatte, gab es großen Tumult und man versuchte, ihn zu steinigen. Wie auch heute versucht wird, Jesus und die Christen zu beseitigen.
Die Feinde sind nämlich nicht paralysiert. Die Feinde werden wach – so wach, dass sie brutal agieren und agitieren. Eins bis zwei Jahre später wird Jesus gefangengenommen, gefoltert, hingerichtet. Warum? Die Feinde mögen nicht, wenn man als armer Mensch vor ihnen nicht mehr zittert, sondern die frohe Botschaft erfährt: du wirst von Gott erhoben! Die Feinde mögen es wirklich nicht, wenn Verzweifelte getröstet werden. Mit billigem Trost ja – kaufe möglichst viele Traumfänger, Medikamente, PC-Spiele, Ideologien, irgendwas, was dich beruhigt, geh zu diesem und jenem Seelenfänger. Aber letztlich wird die Verzweiflung nicht getröstet, denn der Feind benötigt Verzweifelte, weil sie von ihm abhängig sind. Aber wer von Gott getröstet wird, der weiß sich bei Gott geborgen, hat seinen Anker außerhalb der Feinde. Er kann dies und das Weltliche benutzen – aber sein Anker, seinen Halt findet er außerhalb des Machtbereichs der Feinde. Die Feinde sind freilich nicht begeistert, wenn jemand daherkommt und Gefangene befreit – uns durchs Schicksal, durch sozialen Druck Gefangene in die Freiheit Gottes ruft.
Ein Beispiel: aus der frühen Christenheit. Die Botschaft von Jesus Christus hat auch Frauen befreit. Sie wussten, sie sind wertvolle Menschen, sie sind nicht abhängig von ihren Ehemännern, Vätern und Brüdern. So weigerten sie sich zu heiraten. Wir haben viele Frauen, die zu Heiligen erklärt wurden, weil sie sich aus Glauben heraus tapfer den Forderungen widersetzten. Die Feindschaft wurde so groß, dass viele von ihnen umgebracht wurden, sogar von ihren Vätern. Denken wir nur an die Barbara – in Erinnerung an sie wird im Dezember ein Blütenzweig ins Wasser gestellt, damit er Weihnachten blüht. Wir kennen viele weitere – wobei freilich die Geschichten legendarisch sind: Agnes, Cäcilia, Lucia, Agatha – und viele mehr. In der Glaubensfreiheit wollten sie den Glauben leben – aber die Feinde waren furchtbar erbittert, weil sich die Frauen nicht mehr untergeordnet haben.
Und so können auch wir frei sein – in aller Bedrängnis welcher Art auch immer. Seien es Aufgaben der Schule, seien es Noten, seien es Mitschüler, die einen drangsalieren, sei es im Beruf mobbende Kolleginnen und Kollegen, seien es berufliche Zwänge wie Stress, hohe Anforderungen und Herausforderungen. Seien es Krankheiten und Familienprobleme, seien es Herabsetzungen und Erniedrigungen warum auch immer. All das verschwindet nicht, wir sind wie Sklaven von vielem abhängig – aber wir sollen uns bewusst sein, in all diesen Dingen: Ich bin durch Gott befreites Kind Gottes. Ich bin frei. Und wenn ich das weiß, dann finde ich mit Gottes Hilfe, mit dem Geist Gottes, der auf mir ruht, vielleicht Wege, das alles zu erleichtern, finde neue Wege, die mir gut tun, helfen.
Aber: Aber in unserem Text geht es nicht um uns selbst, sondern um „Gnadengaben des Geistes“: χαρίσματα τοῦ πνεύματος. Es geht darum, dass wir uns nicht um uns selbst drehen, sondern schauen, wo wir Armen die frohe Botschaft bringen können, wo wir Verzweifelte und Trauernde trösten können, wo wir in und durch was auch immer Gefangene befreien können.
Jede und jeder, auf die der Geist Gottes ruht, trägt dazu bei, dass die Leidenszeit beendet wird. Dass Menschen sich schmücken können aus Freude über die neue Zeit. Zerstörte Gemeinschaft wiederherstellen, Vertrauens-Trümmer beseitigen, Ruinen unseres Selbstbewusstseins wieder aufbauen.
Um noch einmal einen Blick auf Jesus zu werfen: In seinem Leben hat er Menschen die Befreiung auf vielfältige Art und Weise geschenkt. Er blieb nicht am Kreuz. Er ist auferstanden. Und als Auferstandener wirkt er genauso durch seinen Geist, durch uns:
Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen; zu verkündigen ein gnädiges Jahr des HERRN.
