Der für den heutigen Sonntag vorgeschlagene Predigttext steht im Brief des Paulus an die Römer im 8. Kapitel. Der Apostel schreibt:
Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll.
Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden.
Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat -, doch auf Hoffnung;
denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.
Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet.
Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung des Leibes.
Denn wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht?
Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.
Desgleichen hilft auch der Geist unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie es sich gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen.
Der aber die Herzen erforscht, der weiß, worauf der Sinn des Geistes gerichtet ist; denn er vertritt die Heiligen, wie es Gott gefällt.
Soweit der Predigttext.
Das ist ein ganz besonderer Predigttext, weil hier der ganz seltene Fall vorliegt, dass Paulus die gesamte Schöpfung mit in den Blick nimmt. Nicht nur die Bedeutung Jesu Christi für die Menschheit wird angesprochen, sondern die für die gesamte Schöpfung. Und was hier noch bedeutsam ist: Die Schöpfung wird als klagende Schöpfung, als seufzende Schöpfung gesehen. Sie wird nicht nur als eine angesehen, die für den Menschen Bedeutung hat, die ihm nützt, die er ausbeuten kann. Er beschreibt sie als eine, die selbst Gefühl hat, ein Gefühl, das leidet und das auf die Zukunft Gottes hin ausgerichtet ist.
Alle Schöpfung seufzt angesichts der schwere des Lebens.
In München beobachtete ich mal aus der U-Bahn heraus einen kleinen Hund, der sein Frauchen oder Herrchen verloren hatte. Voller Panik rannte er auf dem Bahnsteig hin und her. Man konnte ihm sein Leiden, seine Verzweiflung sogar ansehen!
Haben Sie schon einmal einen Baum leicht zittern spüren, bevor er fällt, ihn kreischen hören, als er gefällt wurde?
Eine Kuh war ganz irritiert, als ein Huhn genommen und geschlachtet wurde. Ein Schwein wehrt sich, als ob es ahnt, dass es in die Schlachterei gebracht wird mit aller Kraft und schrillstem Gequieke!
Wir könnten viele Beispiele anführen, die wir sogar in unserem Bereich, der kaum noch mit Tieren zu tun hat, beobachten können: Die Schöpfung seufzt. Auch Tiere und Pflanzen wollen leben, fliehen panikartig den Tod. Auch Tiere stumpfen ab, wenn sie lange Zeit misshandelt werden oder werden aggressiv. Sie alle warten auf die Zeit, auf der auch die Menschen warten – die Zeit der Erlösung, der Befreiung, die Zeit, in der Gott herrschen wird und nicht der Gegengott.
Und wenn wir Bilder sehen von Menschen, die in zahlreichen Gesellschaftsformen gepeinigt werden – Menschen verbrennen sich aus Furcht vor Strafen, die sich Menschen ihrer Tradition ausgedacht haben; Menschen werden aus irgendwelchen Gründen verbrannt und Mädchen werden verstümmelt – und sterben häufig nicht, sondern haben unsägliche Qualen zu leiden. Menschen haben Angst, umgebracht oder von der Familie verlassen zu werden, weil sie eine andere Religion wählen, weil sie andere Meinungen haben als die Mehrheit um sie herum. Sie wollen menschlich sein – aber es wird ihnen verwehrt. Es muss nicht diese Brutalität herrschen, sondern die kleinen Grausamkeiten bringen Menschen ebenso dazu, zu seufzen, kleine Grausamkeiten des Alltags: Menschen fertigen einen ab, als sei man Nichts; man fühlt sich erniedrigt. All dieses Seufzen und Klagen der Natur und auch des Menschen wird zu einem einzigen Seufzer, der die Menschheit vereint, der von der gesamten Schöpfung ausgeht. Wortlos. Sicher geht es der Natur häufig auch gut – und einem selbst auch. Wenn wir unsere Augen nur öffnen, sehen wir auch viel versteckte Not in allem oberflächlichen Spaß. Häufig kann nicht mehr gebetet werden angesichts all dieser Not. Es kann nur noch geseufzt werden. Jesus Christus hat diese ganzen Seufzer am Kreuz zu einem Schrei zusammengefasst: Gott, warum hast du mich verlassen?
Da ich in diesem Semester an der Universität eine Veranstaltung über andere Religionen anbiete, beschäftige ich mich viel mit diesen. Vor allem die asiatischen Religionen befassen sich überwiegend mit dem Leiden der Menschen und dem Überwinden des Leidens. Natürlich gibt es eine Fülle an Ausprägungen der einzelnen Religionen. Hinduismus ist zum Beispiel nicht eine Religion, sondern wir fassen viele Religionen und Philosophien unter dem Namen Hinduismus zusammen. Ein gemeinsamer Nenner vieler dieser hinduistischen Religionen besteht darin, dass sie glauben, das Leiden würde irgendwann dadurch überwunden, dass Menschen sich kastengemäß verhalten, um im nächsten Leben ein besseres irdisches Leben zu bekommen, oder auch sich auch einem Lehrer, einem Guru so sehr anvertraut, dass der Guru zu meinem Ich wird – und ich zu meinem Guru. Damit das Leben mir nichts mehr anhaben kann. Wesentlich ist dem Buddhismus das Thema Leiden. So lauten die vier edlen Wahrheiten: 1. Wahrheit: Das Leben ist Leiden; 2. das Leiden hat eine Ursache; 3. die Vernichtung des Leidens ist möglich; 4. Wahrheit: den Kreislauf des Leidens durchbricht das Erlöschen der Anhaftung an das Ich. Das bedeutet: Wenn ich mein Ich, mein Selbst, mein Wesen durch Meditation ausgelöscht habe, dann empfinde ich kein Leiden mehr, wenn ich nichts persönlich nehme, kann mich auch nichts aufregen. Darum muss der Mensch hart an sich arbeiten, nicht an der Gemeinschaft der Menschen arbeiten, dass es in der Welt besser wird. Sie müssen an sich selbst arbeiten, damit er diesem Leiden entzogen wird bzw. sich diesem Leiden entzieht.
In unserem christlichen Glauben wird, wie unser Predigttext zeigt, die Aufhebung des Leidens von Außen erwartet. Gott wird eingreifen und der ganzen Not ein Ende machen. Paulus spricht hier davon, dass alle Schöpfung, auch wir Christen hoffen, dass diese Not durch Gott beendet werden wird. Nun kann man sagen: Hoffen und Harren macht manchen zum Narren. Doch was spricht Paulus an, wenn er von Hoffnung spricht? In Jesus Christus ist schon längst erkennbar geworden, was in Zukunft kommen wird: Gottes Liebe. Die Hoffnung ist nicht leer – sondern weil Gott uns in Jesus Christus schon längst seine Liebe gezeigt hat, wird sie auch wieder erwartet. Weil Gott in Jesus Christus an Menschen heilend gewirkt hat, darum wird er heilend wirken. Weil Gott in Jesus Christus Menschen mit seinen Worten liebend umfangen hat, darum wird er es auch in Zukunft tun. Die Hoffnung, von der Paulus spricht, ist also nicht eine närrische Hoffnung, sondern eine, die mit Jesus Christus gefüllt ist. Und weil das so ist, hat auch die gesamte Schöpfung Sehnsucht bekommen nach Erfüllung dieser Hoffnung.
An Jesus Christus sehen wir, dass Christinnen und Christen das, was sie hoffen, hier schon, so gut es geht, verwirklichen wollen. Sie sollen ihr Ich nicht abtöten, sondern so gut sie können helfen, das, was sie in Zukunft erhoffen, hier und jetzt umzusetzen. Während sie warten, schaffen sie anderen wie Jesus ein besseres Diesseits. Und weil sie das selbst jedoch nur ganz schwach können, nur unvollkommen, hoffen auch sie darauf, dass Gott dieses herrliche Ende herbeiführen wird. Christinnen und Christen wissen, dass sie Schöpfung vernichten müssen, um leben zu können. Wir müssen essen und trinken. Sie sind in dieses unheilvolle Leben so eng eingebunden, dass sie nur ein ganz klein wenig tun können, um wirklich zu helfen, das Seufzen zu nehmen. Sie können nur hier ein paar gute Stunden schenken, ein paar gute Worte, hilfreiche Stille, etwas Nähe oder etwas vom Besitz. Sie können sich auch nicht zerteilen, um ganz vielen Menschen helfen zu können. Sie können sich nur dem einen oder anderen Menschen zuwenden, obwohl viele, viele es nötig hätten. Und darum muss jeder Einzelne von uns dem anderen ein Christus sein – und nicht einer ein Christus für viele.
Das gilt ebenso für die Natur: Auch Glaubende müssen Pflanzen jäten, und Pflanzen Früchte nehmen. Sie müssen wohl auch tierische Nahrung zu sich nehmen – doch haben sie das so zu tun, dass die Schöpfung möglichst wenig seufzen muss. Man kann auch Respekt vor sogenanntes Unkraut haben. Haben Sie schon mal die Gräser angesehen, wie schön sie aussehen? Welch Wunderwerke sie sind? Selbst die ungeliebte Quecke zollt uns Respekt ab: Welch ein Überlebenskünstler! Jedes abgebrochene Würzelchen treibt neue Pflanzen aus! Oder die Amsel, die dem Gärtner den Salat wegfrisst: Haben sie schon mal bedacht, dass sie sich vielleicht freut, weil sie den Salat gerade in ihr Revier pflanzen? Und wie sehr Amseln sich freuen können, habe ich einmal beobachtet: Nach einer langen Zeit der Trockenheit regnete es ein paar Tropfen. Diese Tropfen sammelten sich auf einem Flachdach in Blättern zu kleinen Tümpeln zusammen. Eine Amsel kam geflogen. Sie landete nicht, indem sie sich auf die Beine stellte, sondern sie rutschte auf dem Bauch durch diese Wasseransammlungen. Dann plätscherte sie genüßlich ein wenig herum, flog auf, und schlidderte wieder auf diesen Blättern durch das Wasser. Die hatte einen Spaß, eine Freude daran! Man sah es ihr an, genüßlich waren die Augen verklärt. Und wieder und wieder tat sie das. Das war für sie ein kleines Paradies. Ihr seufzen war beendet worden.
Christinnen und Christen haben anderen Menschen – auch der gesamten Schöpfung gegenüber – ein Christus zu sein. Aber gerade dadurch kommt uns viele Not auch so nahe. Und weil wir wissen, dass wir so in die Not eingebunden sind, können wir im Grunde nur seufzen. Wie sollen wir denn beten? Was für Worte sollen wir wählen? Wird Gott wirklich helfen? Wir können doch Gott nicht verlassen, weil Not ist? Weil unser Verstand uns sagt: Wie kann Gott das Leiden zulassen – weil er es tut, gibt es ihn nicht! Allein diese Formulierung ist schon absurd. Welcher Mensch kann schon die Luft verlassen, nur weil sie ihm nicht passt? Es ist naiv zu glauben, wir könnten ohne Gott leben. Versuchen wir es, dann treten sofort Ersatzgötter auf: Unsere Gesundheit mit ihrem ganzen Gesundheitskult, der Geschäftsleute glücklich sein lässt; andere Religionen, mit ihrem Ich-kreis-um-mich-selbst-Kult – der ebenfalls Geschäftsleute glücklich sein lässt. Dann haben wir wenigstens einen Menschen im Leben glücklich gemacht. Aber Spaß beiseite: Verlassen wir Gott, treten auch weitere Ersatzgötter auf: die Engel, die ganzen Naturgeister; das Geld, andere Menschen usw. und so fort. Nein, Christinnen und Christen können Gott nicht verlassen. Sie können nur im Glauben wachsen. Doch was ist das für ein Wachsen?
Paulus zeigt in unserem Predigttext ein ganz eigenartiges Wachstum. Wenn Not ist, dann beten Menschen. Sie bitten Gott oder Gottheiten um dies und das. Ergreift sie die Not selbst, dann beten wir nicht mehr, sondern seufzen nur noch, vor lauter Wortlosigkeit. Und wenn Christinnen und Christen – wie die gesamte Kreatur – nur noch seufzen, dann können sie wissen, dass mit ihrem Seufzen etwas ganz eigenartiges geschieht: Es wird vom Geist Gottes umgewandelt, es wird zu Gott, vor Gott gebracht. Wenn die Not uns wortlos macht müssen wir nicht krampfhaft nach Worten ringen, um uns Gott mitzuteilen – der Geist Gottes, der in uns ist, der verwandelt unser Seufzen und verbindet es mit Gott. Unser Seufzen, unser Stammeln lässt uns durch den Gottesgeist mit Gott zusammenwachsen. So eng zusammenwachsen, dass uns nichts und niemand mehr von Gott trennen kann.
Wenige Verse nach unserem Predigttext schreibt Paulus:
Ist Gott für uns, wer kann gegen uns sein?
Der uns seinen eigenen Sohn nicht verschont hat – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?
Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht.
Wer will sie verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben und auferweckt uns vertritt?
Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal, Angst, Verfolgung, Hunger, Nacktheit, Gefahr, Schwert?
Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.
Soweit Paulus. Nichts kann uns von ihm trennen – nicht, weil wir so stark sind und an Jesus Christus bleiben können, sondern weil Gott uns an sich hält.