Staunen (Johannes 1)

Wir hören nun die Weihnachtsgeschichte – in einer ganz anderen Form. Sie ist nicht so anschaulich, wie das, was Matthäus und Lukas berichten, sie ist durchdrungen vom Glauben. Menschen versuchten zu verstehen: Wer ist dieser wunderbare Mensch Jesus Christus wirklich? Wir hören aus dem Johannesevangelium, aus dem ersten Kapitel.

Im Anfang war das Wort,
und das Wort war bei Gott,
und Gott war das Wort.
Dasselbe war im Anfang bei Gott.
Alle Dinge sind durch das Wort gemacht,
und ohne das Wort ist nichts gemacht, was gemacht ist. 
In ihm war das Leben,
und das Leben war das Licht der Menschen.
Und das Licht scheint in der Finsternis,
und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.
Das war das wahre Licht,
das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen.
Er war in der Welt,
und die Welt ist durch ihn gemacht;
aber die Welt erkannte ihn nicht.
Er kam in sein Eigentum,
die Seinen nahmen ihn nicht auf. 
Alle, die ihn aber aufnahmen,
denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden,
denen, die an seinen Namen glauben,
denen, die nicht aus dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren sind.
Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns,
und wir sahen seine Herrlichkeit
als des eingeborenen Sohnes vom Vater,
voller Gnade und Wahrheit.
Von seiner Fülle haben wir genommen Gnade um Gnade.
Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben;
die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.
Niemand hat Gott je gesehen;
der Einziggeborene, der Gott ist und in des Vaters Schoß ist, der hat ihn uns verkündigt. 

Soweit der Predigttext.

Diese Worte sind schwer zu verstehen. Wir denken auch in der Forschung sofort an Philosophen und Denker, die Johannes in diesem Text aufgegriffen und auch angesprochen hat. Diese Details sind nicht unwichtig. Aber: Die Texte, die Johannes schreibt, wollen nicht nur Denker anregen, wollen nicht allein Philosophen ansprechen. Jeden Menschen möchte Johannes mit seinem Evangelium erreichen. Was also geschieht mit einem so schweren Text?

Wenn wir rationalen Europäer den Text hören und lesen, verstehen wir erst einmal nichts … Wenn wir ihn aber einmal einfach so lesen, uns in Johannes hineinversetzen, haben wir das Gefühl, dass etwas ganz Großes, ganz Wunderbares ausgesprochen, geschildert wird. Die Worte ergreifen uns. Es wird Großes ausgesprochen, etwas, das für uns Menschen Alles bedeutet, Wunderbares: Gott wird in Jesus Christus, dem Logos, dem Wort, Mensch. Der Schöpfer lässt sein Geschöpf nicht allein. Unbegreifliches wird ausgesprochen – und weil Unbegreifliches ausgesprochen wird, fangen wir an, es in Gedanken und Herzen zu bewegen.

Staunen. Staunen ist etwas für Kinder. Wenn Pipi Langstrumpf einen Elefanten hebt – warum nicht? Die Welt ist überraschend staunenswert, alles ist so neu! Wenn Timo und Pumba Flugzeuge aus den nicht vorhandenen Taschen zaubern – warum nicht? Wenn Kim Possibel weiter springt, als ich als Kind es kann – warum nicht? Für Kinder ist alles neu, alles erstaunlich, alles wunderbar: Das Gehen mit den beiden Füßen, mit den Händen dies und das Aufbauen und Einreißen, mit dem Mund sprechen, mit den Augen schauen und mit der Nase riechen – Blumen, Essen – alles ist so aufregend neu! Den Wind sieht man nicht – aber man kann ihn spüren, kann sehen, wie er die Blätter bewegt. Und wir Erwachsene lernen oft mit den Kindern staunen, wenn wir kleine Kinder haben. Was gibt es nicht alles an Staunenswertes auf unserer schönen Welt!

Erwachsene kennen das alles jedoch schon. Laufen, mit Händen arbeiten, Düfte … Wir staunen nicht mehr so sehr. Wir nehmen häufig alles so hin. Neue Erfindungen, wie kann ein schweres Flugzeug fliegen, wie kann es sein, dass ich jetzt etwas in den Computer eintippe, und fast gleichzeitig kann man es in Australien lesen – manchmal staunen wir noch. Aber da wir schon gelernt haben, dass Technik Überraschendes hervorbringt, staunen wir nicht mehr so richtig. Wir nehmen es wahr, fragen uns: Wie geht das? Und weiter geht das Leben. Gleichzeitig wollen manche von uns alles hinterfragen, ergründen, verstehen. Wir zerlegen es, sezieren es, schlussfolgern. Es ist gut, alles verstehen zu wollen. Manchmal ist es auch besser, etwas einfach zu genießen. Es ist gut, den Predigttext gedanklich zu durchdringen – manchmal sollten wir die biblischen Texte einfach nur hören, lesen und genießen.

In der alten Welt und auch in vielen Kulturen vollzieht sich Verstehen anders als vielfach in unserer Moderne. Verstehen bedeutet: etwas im Herzen, in Gedanken bewegen, mit dem Text, dem Beobachteten, dem Gehörten leben. Menschen anderer Kulturen verlassen nicht wie wir das Staunen, sie vertiefen es.

Maler, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, versuchen seit alter Zeit all diese Wunder, über die wir Menschen staunen, wiederzugeben. Heute werden die Naturwunder vielfach eher in der Zerstörung gesehen, wird das Wunder der Liebe in der Zerbrochenheit besungen. In der Antike wurde nicht nur Schönes schön wieder gegeben, sondern auch die Kriege wurden glorifiziert, man denke an die Reliefs des Pergamonaltars. Auseinandersetzungen wurden ästhetisch schön gestaltet. Warum? Es wurden die Siege des Guten über das Böse dargestellt.

Dieser unser Predigttext berichtet staunend über das Großartige, das Wunderbare, das Gott an uns getan hat. Und er möchte zum Staunen anregen. Er möchte, dass wir die Aussagen, auch wenn wir sie nicht verstehen, weil Gottes wunderbares Handeln für unser kleines Gehirn zu groß ist, staunend nachvollziehen, sie in Gedanken und Herzen bewegen.

Indem wir biblische Texte im Herzen und Gedanken bewegen, werden wir verändert. In der Moderne zappen wir im Fernsehen von hier nach da, auf TikTok und Instagram scrollen wir schnell weiter, immer schneller, bis das Hirn gar nichts mehr richtig kapiert, Hauptsache: bunt, Info, laut, spannend… Und weiter geht´s. Wir hüpfen in den Zeitungen mit den Augen von Info zu Info, von Überschrift zu Überschrift.

Auch unser Predigttext hat mit jedem neuen Satz eine neue Information. Jeder Satz bietet Ungeheuerliches, Wunderbares, krasses. Er treibt uns weiter und weiter. Wir können unsere Gedanken an einem Satz festkrallen, wir können den Text als Ganzes in uns wirken lassen. Wir können dem einzelnen Wunder nachsinnen, wir können unser Gefühl von den Wundern, die der Text insgesamt ausspricht, erfassen lassen.

Das ist wie mit einem Bild: Wir können Details ansehen – wir können das Bild als Ganzes genießen. Manchmal können wir Bilder vertieft genießen, wenn wir uns auf die Details eingelassen haben. Manchmal können wir auch von einem Bild ergriffen sein, ohne die Details beachtet zu haben.

Wir müssen Details des Textes nicht verstehen – wir genießen seine Erhabenheit.

Wir müssen die Natur, die Schöpfung nicht verstehen – wir genießen sie.

Wir müssen das Leben nicht verstehen – wir genießen es.

Und indem wir darüber nachsinnen, kommt Gott uns nah.

Weihnachten – eine Zeit, in der wir wieder lernen können zu staunen über das, was Gott uns geschenkt hat, staunen über Gott selbst, der so sonderbar und wunderbar handelt.

Dieses Staunen über das, was Gott uns Menschen an Weihnachten gegeben hat, versuchen Dichter und Malerinnen, Architekten und Filmschaffende darzustellen.

Lied 1: 37,4.6-7

Ich habe Ihnen zwei Bilder ausgedruckt:

Jeder macht es auf seine Weise. Und was für ein Unterschied zwischen Lochner und Caravaggio!

Die beiden Maler versuchen, uns das Wunder der Geburt Jesu nahezubringen. Aber nur eines bleibt am Ende: das Gebet: Jesus Christus, werde in meinem Herzen geboren.

Schauen wir uns die Bilder an. Erst das Bild von Lochner. Einfach mal so anschauen, ohne die Details zu beachten. Was empfinden wir?

Nun schauen wir uns ein paar Details an: Alle beten das Kind an, selbst Maria, die so groß und wichtig ist. Sie wird durch die Zentriertheit hervorgehoben – von oben nach unten) – durch die Dachlatte und den Baum, zudem läuft eine Linie hinauf über das Gewand. Die Bildachse geht von links oben nach rechts unten: Unser Blick wird vom Engel über Maria auf das Kind gerichtet. Aber: Selbst die zentrale Mutter unterwirft sich anbetend ihrem Kind, sie kniet – aber sie schaut das Kind nicht an. Sie ist in sich versunken angesichts des Wunders. Warum? Es ist ein Andachtsbild und zeigt uns: Versunken in der Anbetung Jesu können wir ihm nahekommen. Nicht im Anschauen, sondern in unserem Inneren. Ich hörte einmal einen Mann sagen: Wenn ich Jesus sehen könnte, würde ich glauben. Lochner sagt: Schau in dich, wie Maria, dann kannst du ihn sehen. Denn im Grunde sah Maria auch nur einen Säugling, neu geboren. Ganz normal, wunderbar, aber alltäglich. Erst durch diese Innensicht kann sie wirklich erkennen, wer dieses Kind ist. Und sie nimmt auch wahr: Es wird schwer. Die Decke, auf dem das Kind liegt, weist schon auf die Kreuzigung hin. Sehen ist nicht alles: Wir müssen schauen lernen, tief schauen lernen. Und zu einem solchen staunenden tief Schauen will uns der Text anregen.

Lied 2: 37,8+9

Nun schauen wir uns das Bild von Caravaggio an. Ohne auf Details zu achten. Wie wirkt es auf uns?

Nun beachten wir ein paar Details: Mutter und Kind, sie liegen ganz unten. Oder doch nicht? Die Blickachse in der Kunst geht von links nach rechts. Das kleine Kind, das die Mutter geborgen hält, macht die Hirten, die sich ihm unterwerfen ganz groß. Und im Hintergrund ganz groß: der Esel. Auch der Esel, ganz in sich versunken, als ahne er schon, was auf ihm zukommt: Bald wird er Mutter mit Kind auf der Flucht nach Ägypten tragen müssen. Bald wird er im Vordergrund stehen. Aber jetzt steht der Säugling im Vordergrund – und dieser kleine Mensch macht sie anderen Menschen ganz groß.

Beide Gemälde enthalten eine Wahrheit, die ganze Wahrheit unseres Glaubens: Der Blick muss auf Jesus Christus gerichtet sein. Jesus Christus, so klein er ist, ist der Mittelpunkt, ist das Zentrum des Glaubens, somit des Lebens eines, wie Luther sagen würde, Christenmenschen. Aber dieser kleine, dieser auch als Erwachsener unscheinbare Mensch macht uns Menschen ganz groß, wenn er in uns groß wird, wenn wir ihn in uns groß werden lassen.

Ohne dass Jesus Christus in uns geboren wird, bleibt Weihnachten ein Fest der gekauften Geschenke, ein Fest des Versuchs, Sehnsüchte zu befriedigen, ein Fest der Einsamkeit – auch unter anderen Menschen, also ein Fest der Einsamkeiten, ein Fest der Erinnerung. Aber schauen lernen auf Jesus Christus – nicht nur sehen – schauen, mit dem Herzen ergreifen: das ist Weihnachten.